Vorschau: VfB Stuttgart – FC Bayern München

Justin Trenner 27.11.2020

Hansi Flick gab sich am Mittwochabend zufrieden. 3:1 gegen Salzburg, vier Siege in Folge in der Champions League und der feststehende Gruppensieg bei noch zwei auszustehenden Spielen. Über die Leistung der Mannschaft wollte er nicht allzu viele Worte verlieren. Er beschränkte seine Kritik auf viele Ballverluste im ersten Durchgang. Ansonsten blieb ihm nur Lob für seinen Torwart: „Mit der Effizienz bin ich heute sehr zufrieden und hinten haben wir einfach einen Weltklasse-Torhüter stehen.“

Wenn Manuel Neuer im Zentrum des Lobs steht, muss es auf dem Platz Defizite gegeben haben. Und tatsächlich: 11 zu 19 Abschlüsse, 1,3 zu 2,9 Expected Goals – Bayern zeigte sich wiedermal verwundbar. Es war erst das fünfte Spiel unter Hansi Flick, dass die Münchner nach dem Expected-Goals-Modell von StatsBomb verloren haben. Die anderen vier: Zweimal Dortmund auswärts (0,9:0,8 und 2,0:1,1), das Champions-League-Finale gegen Paris (1,8:1,0) und die Niederlage in Sinsheim vor einigen Wochen (4,0:1,6). Hinzu kommt ein einziges ausgeglichenes Spiel in Köln diese Saison (1,0:1,0).

Vor allem ist es das erste Heimspiel gewesen, in dem die Bayern nach Chancen unterlegen waren. Letztendlich zählt jedoch das tatsächliche Ergebnis und hier machte die Effizienz vor dem Tor eben den Unterschied.

VfB Stuttgart: Ohne Angst gegen die Bayern

Angst verbreiten die Münchner im Moment trotz der guten Ergebnisse aber nicht. Gegner wie Köln und Bremen haben gezeigt, dass im Moment jede Mannschaft in der Liga ihre Chancen gegen Bayern kriegen kann, wenn es die Umstände erlauben.

Und so wird auch der VfB Stuttgart nicht vor Respekt erstarren, sondern Bayern vor große Herausforderungen stellen. Der Aufsteiger ist gut in die Saison gestartet, hat zwar erst zwei Spiele gewonnen, aber auch erst eins verloren (Freiburg).

Gegen die Bayern wird es für den VfB aber auf Qualitäten ankommen, die sie in dieser Saison noch nicht nachweisen konnten. Stuttgart hat gerne den Ball und versucht, den Gegner über Pass- und Angriffsspiel vom eigenen Tor fernzuhalten. Am Wochenende wird das eher nicht beziehungsweise nur selten möglich sein, weshalb die Arbeit gegen den Ball in den Fokus rückt. Gerade gegen Eintracht Frankfurt und die TSG Hoffenheim hatten sie große Probleme, wenn sie zu tief standen. Andererseits wird genau das gegen Bayern nicht zu vermeiden sein. Welchen Ansatz wird Pellegrino Matarazzo also wählen?

Stuttgart gegen den Ball

Der Trainer stellt auf dem Papier meist eine Dreier- beziehungsweise Fünferkette, die Staffelung davor verändert sich in Anpassung auf den Gegner. Gegen Frankfurt agierten die Stuttgarter in einer Art 3-1-4-2, gegen Hoffenheim lag der Fokus eher im Sechserraum mit einem 3-2-4-1. Gegen Bayern könnte ein System mit einem Stürmer in diesem Rahmen naheliegend sein, weil der VfB so das Mittelfeldzentrum der Münchner unter Druck setzen kann. Salzburg zeigte insbesondere im ersten Durchgang, dass die Bayern zurzeit oft ihr Mittelfeld überbrücken, wenn der Druck im Zentrum zu groß wird.

Viele lange Bälle, hohes Risiko im Passspiel und damit verbunden Schwächen in der Präzision – Bayern verlor den Ballbesitz gegen Salzburg mehrmals unnötig und war dann anfällig für Konter. Hier könnte Materazzo ansetzen. Seine Stuttgarter sind ein sehr aggressives Team, das eher nach vorn denkt als nach hinten. Mit Gonzalo Castro und Wataru Endo kann der Trainer auf zwei sehr erfahrene und zweikampfstarke Spieler bauen. Außerdem gibt es mit Orel Mangala einen jungen Spieler an deren Seite, der bisher eine gute Saison spielt. Als vierten Spieler im Zentrum könnte Materazzo Daniel Didavi bringen, der zwar gegen den Ball nicht überragt, in Umschaltmomenten aber seine Offensivqualitäten einbringen könnte, um den Angreifer zu unterstützen.

Denn wie bereits angedeutet: Läuft Stuttgart nur hinterher und schafft es ein Gegner, sie hinten reinzudrücken, wird es problematisch. In vielen Spielen dieser Saison gab es Phasen, in denen der VfB zu passiv agierte und gegen den Ball Stellungsfehler produzierte. Gegen die Tiefenläufe der Bayern wäre das tödlich.

Bayerns Mittel gegen das Pressing des VfB

Das große Problem der Flick-Mannschaft war zuletzt, dass ohne Joshua Kimmich eine ordnende Hand im Mittelfeld fehlte. Sowohl gegen Bremen als auch in der Anfangsphase gegen Salzburg war zu sehen, dass es ihnen schwer fiel, Lösungen gegen ein zugestelltes Mittelfeld zu finden. Beim 1:1 gegen Werder waren es vorhersehbare Spielzüge über die Außenbahnen, die recht einfach verteidigt werden konnten. Am Mittwochabend flogen viele lange Bälle über das eigene Mittelfeld hinaus.

Dann aber begann Marc Roca im Spiel des FCB aufzutauchen. So ab der 20. Spielminute übernahm er immer mehr Verantwortung, holte sich die Bälle auch mal etwas tiefer ab. Roca hatte seine starken Momente aber weniger zwischen den Innenverteidigern, sondern viel mehr genau dort, wo Salzburg Druck ausüben wollte: Im Sechserraum der Bayern.

Müller und Gnabry erlaufen sich entgegengesetzt Raum, Goretzka lässt sich zwischen die Innenverteidiger fallen und Roca bietet sich im unterbesetzten Mittelfeld an. Dort verteilt er die Bälle bereits auf sehr hohem Niveau.

Wie eine Drehtür verteilte der Spanier die Bälle aber zielsicher in die Halbräume nach vorn. Mit dem Rücken zum Geschehen und selbst unter Druck gelang es ihm, sich schnell in die richtige Richtung aufzudrehen und vorn den „Freiläufer“ Thomas Müller oder andere sich anbietende Spieler zu bedienen.

Kommt jetzt Rocas große Chance?

Salzburg zog sich zunehmend etwas zurück, Bayern bekam die Kontrolle übers Geschehen. Es war bis zum Pausenpfiff die beste Spielphase seit längerem, wenn man das Ausnahmespiel in Dortmund mal ausklammert. Spielt Roca in Stuttgart erneut von Anfang an, könnte er das Gegenmittel sein, um den VfB ins Leere laufen zu lassen und sich Räume im Angriffsdrittel zu erarbeiten.

Ein großes Problem bleibt aber auch mit ihm weiter bestehen: Die Balance zwischen ihm und Leon Goretzka ist noch nicht optimal. Roca hatte seine stärksten Aktionen, wenn er sich direkt vor der Abwehr aufhalten und Goretzka ihm den für seine Drehungen notwendigen Raum erlaufen konnte. Dafür ging Goretzka häufig den Weg zwischen die Innenverteidiger, was wiederum dazu führte, dass er in höheren Zonen mit seinen wichtigen Läufen fehlte.

Bayerns Probleme im letzten Drittel könnten hier ihren Ursprung haben. Kimmich kommt gut alleine zurecht, kann sich notfalls auch mal gegen zwei oder gar drei Gegenspieler behaupten. Roca ist noch nicht so weit. Das sagt er auch selbst über sich. Über Spielpraxis kann er vielleicht einen besseren Zugang zum Spiel erlangen und sein Positionsspiel entsprechend nochmal verbessern. Dafür braucht er in den kommenden Wochen aber Einsätze.

Außerdem zeigte sein ungestümes Einsteigen bei der gelb-roten Karte stellvertretend, dass ihm gegen den Ball noch die Orientierung fehlt. In einigen Szenen stand Roca nicht optimal und kam so zu spät. Es ist normal, dass ihm all das noch abgeht. Aber gegen Salzburg konnte er immerhin andeuten, was er dem Spiel seiner Mannschaft geben kann. Es ist genau das, was die Bayern gegen Stuttgart und viele andere Mannschaften brauchen werden: Ein Ruhepol.

Stuttgarts Spiel mit dem Ball

Denn als Roca den Platz verlassen hatte, wurde die Partie wieder wild. Das ist nicht nur auf die Unterzahlsituation zurückzuführen, sondern auch auf Probleme im Positionsspiel. Das Mittelfeld wurde wieder überbrückt, es ging auf dem Platz hin und her. Keine ordnende Hand mehr, keine Beruhigung, viel Hektik und damit verbunden auch wieder mehr Ballverluste.

Auch Stuttgart ist eine Mannschaft, die das für sich nutzen kann. Materazzo hat dem Team eine enorme Flexibilität und Vertikalität mitgegeben. Der VfB kann mit wenigen Kontakten ins Angriffsdrittel kommen und dort verschiedene Lösungen zur Chancenerarbeitung anbieten. Viele Tiefenläufe und -pässe prägen das eigene Spiel.

Das gilt aber auch für die Spieleröffnung. Die nahezu klassische Eröffnung über die Außen- beziehungsweise Halb- und Flügelverteidiger sieht man seltener als bei anderen Teams. Stuttgart sucht meist den Weg durch das zentrale Mittelfeld, um erst später breit zu werden. Durch die vielen Läufe und Bewegungen variiert in Ballbesitz auch die Formation ständig.

Schwächen in der Rückwärtsbewegung und bei Standards

Weil das Spiel mit dem Ball so flexibel und bewegunsreich ist, hat der VfB gerade bei Ballverlusten aber Probleme, schnell in eine gute Grundordnung gegen den Ball zu kommen. Es gibt zwar Mechanismen wie die asymmetrische Positionierung der Flügelverteidiger, um in einer Viererkette abzusichern zu können, oder die oft recht enge Positionierung im Angriffsdrittel, um direkt Zugriff im Gegenpressing erzeugen zu können. Doch aufgrund von Fehlern im Stellungsspiel gibt es immer wieder Räume für Gegner auf den Flügeln.

Kann Bayern solche Momente provozieren, bietet sich womöglich die große Chance, die schnellen Flügelspieler besser in Szene zu setzen als noch gegen Bremen. Spielt Leroy Sané auf rechts von Anfang an, wäre er ein lohnender Zielspieler, weil der VfB hier zuletzt die eine oder andere Schwäche zeigte. Borna Sosa hat als linker Flügelverteidiger zwar defensiv Fortschritte gemacht, könnte für Materazzo aber ein zu großes Risiko darstellen. Doch auch Silas Wamangituka spielte in der Rückwärtsbewegung nicht fehlerfrei.

Selbst wenn die Münchner im Offensivspiel aber erneut nicht optimal auftreten, gibt es noch eine weitere gute Möglichkeit, Tore gegen den VfB zu erzielen: Standards. Stuttgart zeigte sich insbesondere nach Ecken und Freistößen aus dem Halbfeld immer wieder anfällig.

Keine Ausreden, aber …

Die Bayern müssen für die kommenden Wochen vor allem fußballerisch wieder in die Spur finden. Stuttgart sollte da keinesfalls auf die leichte Schulter genommen werden. Der VfB bringt im Spiel nach vorn und auch in der Arbeit gegen den Ball vieles mit, um die zuletzt offensichtlich gewordenen Schwächen des FCB für sich zu nutzen.

Für Materazzo bleibt die große Frage, ob sein Team die nötige Konstanz auf den Platz bringen kann. Starke 45 Minuten werden gegen den Rekordmeister aller Voraussicht nach nicht reichen. Flick hingegen weiß genau, warum er nach dem fußballerisch eher dürftigen 3:1 gegen Salzburg so zufrieden war.

Auch der sonst so anspruchsvolle Trainer weiß, dass die Mannschaft nach Erholung lechzt. Vielleicht gar nicht so sehr auf physischer Ebene, umso mehr aber auf psychischer. Und er weiß, dass es im aktuellen Trainingsplan kaum möglich ist, die Neuzugänge optimal zu integrieren. Ausreden will er dennoch nicht hören. Immerhin, und daher dürfte seine Zufriedenheit auch ein Stück weit kommen, haben sich die Münchner in dieser Woche zwei Möglichkeiten zur Rotation in der Champions League erarbeitet.