Top 15 der Klubgeschichte: Platz 2

Tobias Trenner 07.01.2019
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Platz 3
Platz 2
Platz 1

Platz 2: Franz Beckenbauer

von Tobias Günther

Weithin galt Franz Beckenbauer als Aushängeschild, als ultimativer Repräsentant des deutschen Fußballs, als makellose Lichtgestalt. Und denkt man an sein Standing nach dem erfolgreichen WM-Triple (Kapitän 1974, Trainer 1990, OK-Chef 2006) zurück, ist es frappierend, wie sehr sein Ruf durch die Enthüllungen der letzten Zeit gelitten zu haben scheint. Franz Beckenbauer konnte eigentlich gar nichts falsch machen. Zeugte er uneheliche Kinder, so kümmerte er sich um den deutschen Fußballnachwuchs; während etliche Stars an der Torwand im Sportstudio ohne jeglichen Treffer blieben, schoss er mühelos vom Weißbierglas aus ins Schwarze. Franz Beckenbauer war eine Art Hans im Glück des deutschen Fußballs, dem offenbar alles gelang, was er anpackte. Sogar für das sprichwörtliche „Kaiserwetter“ während des Sommermärchens machte man ihn ¬– halb im Scherz, aber eben nur halb – verantwortlich.

Und doch lag der scheinbar grenzenlosen Huldigung des Kaisers durchaus eine gewisse Skepsis zugrunde, gegen die zumindest der Fußballer Franz Beckenbauer während seiner Karriere anzukämpfen hatte und die sich vor allem durch die Jahre bis zum WM-Titel 1974 zog. Denn im Grunde war Franz Beckenbauer weniger ein Repräsentant des deutschen Fußballs als vielmehr eine Anomalie desselben. Denn die als typisch deutsch geltenden Fußballtugenden waren so gar nicht sein Metier: Kämpfen, ackern, malochen. Alles Tätigkeiten, die ihm zwar nicht fremd waren; aber im Unterschied zu den meisten seiner Zeitgenossen basierte sein Spiel nicht auf diesen Attributen, die vielerorts bis heute noch als Inbegriff von „ehrlichem“ oder „echtem“ Fußball gelten.

“Beckenbauer schwitzt nicht, er transpiriert“

Dass Fußballer mehr Geld verdienten als der durchschnittliche Zuschauer, war auch in den 60er/70er Jahren bereits der Fall. Als Bindeglied zwischen Fans und Fußballern und gewissermaßen als Rechtfertigung für die Gehälter fungierte dabei der sichtbare Nachweis der Profis, an die physischen Grenzen gegangen zu sein, „Gras gefressen“, sich den Allerwertesten aufgerissen zu haben. Beckenbauers aristokratisch anmutende Spielweise jedoch legte oft den Verdacht nahe, dass er sich (bei einer Niederlage) entweder nicht genug angestrengt habe oder dass er sich (bei einem Sieg) gar nicht erst anstrengen musste, sich seinen Erfolg nicht erarbeitet, also im Grunde nicht verdient hatte.

„Beckenbauer schwitzt nicht, er transpiriert“, hieß es zwar nur scherzhaft, aber nicht selten wurde tatsächlich argwöhnisch begutachtet, ob sein Trikot nicht viel zu sauber geblieben sei, während die Schwarzenbecks und Roths für ihn die Drecksarbeit erledigen mussten. Noch 1974, also als amtierender Weltmeister, Europameister und Europapokalsieger, als er auch seine Kampfkraft und Zweikampfstärke in Spielen wie gegen Schweden oder Polen unter Beweis gestellt hatte, schrieb Gerd Ruge über ihn als „kühlen Star“, der „kein Mann des Volkes, bei weitem nicht so populär wie Uwe Seeler“ sei und bezweifelte, „dass Beckenbauer jene Popularität behält, die heute noch Max Schmeling entgegenschlägt“.

Spielführer, Trainer und Präsident – der Kaiser und der FC Bayern gehörten über Jahrzehnte unzertrennlich zusammen.
(Quelle: Peter Schatz/Bongarts/Getty Images)

“Vivere a testa alta“

„Vivere a testa alta“ (übersetzt in etwa „mit erhobenem Haupt leben“) war ein Artikel über Franz Beckenbauer einmal treffenderweise in der „Gazzetta dello Sport“ überschrieben, was sich zugleich auf seinen erfolgreichen Karriereweg als auch auf seine Spielweise bezog. Denn Beckenbauer blickte als Spieler nie nach unten auf den Ball; er musste es schlicht und ergreifend nicht, wusste er doch stets, wo sich dieser befand. Diese auf seinem phänomenalen Ballgefühl beruhende Gabe segnete Beckenbauer mit einer Spielübersicht, wie sie neben ihm wohl kein Zweiter besaß. Zugleich ermöglichte diese Übersicht es ihm, sich mittels 180-Grad-Drehungen aus jeder noch so engen Spielsituation zu befreien, ohne dadurch in eine Falle zu tappen.

Dabei machte es für ihn keinen Unterschied, ob er sich am Mittelkreis oder im eigenen 5-Meter-Raum befand. Noch bevor ein solches Wort Bestandteil des Fußballwortschatzes wurde, war Beckenbauer die inkarnierte Pressingresistenz, und er zögerte selbst in größten Drucksituationen seine Abspiele oft bis zum wirklich allerletzten Moment hinaus, um seinem Zielspieler noch einen kleinen Zeitvorteil bei der Ballverarbeitung zu verschaffen. Zumeist nutzte er für diese mühelos anmutenden Pässe den Außenrist, was diesen noch zusätzlich eine besonders majestätische Note gab und es stets so aussehen ließ, als würde er die Bälle aus dem Fußgelenk schütteln. Seine Liebe zum Außenrist ging dabei so weit, dass er regelmäßig sogar den linken Außenrist der rechten Innenseite oder dem rechten Spann vorzog (Ein früher Beleg dafür ist sein 25m-Freistoß gegen Lew Jaschin bei der WM 1966).

Beckenbauers Vermächtnis

Seine Spielübersicht ermöglichte es Beckenbauer auch, im Spiel nach vorne gar nicht erst den Weg über außen suchen zu müssen. Auch engste Räume blieben für ihn bespielbar, unzählige Male fanden seine Vertikalpässe den Weg zu seinem bevorzugten Zielspieler Gerd Müller durch etliche Gegner hindurch. Hätte es damals schon einen Packing-Wert gegeben, Beckenbauer wäre außerhalb der Konkurrenz gelaufen.

Beckenbauers Präferenz für den direkten Weg durch die Mitte war derart prägend für das Bayernspiel, dass diese Spielweise noch Jahre nach seinem Abschied ein Kennzeichen des FCB bleiben sollte. Und auch die Tatsache, dass der Fußball von Bayern München im Gegensatz z.B. zu den stürmischen Gladbachern allgemein als kalkuliert abwartend und wenig rauschhaft charakterisiert wurde, hatte direkt mit Beckenbauer zu tun. Denn von dem Moment an, an dem Beckenbauer in der Rolle des Liberos agierte, war der Regisseur und Spielgestalter des FCB ein Abwehrspieler. Es dauerte nach Ballgewinnen schlicht ein wenig, bis Beckenbauer den Weg nach vorne gefunden und den Ball an seinen Füßen hatte.

Besonders hervorzuheben ist, wie wohldosiert und rational Beckenbauer seine technischen Fähigkeiten einsetzte. Zahllose Übersteiger auf der Stelle oder Tricksereien ohne Raumgewinn waren nicht seine Sache. Dabei ließen seine anmutigen und unnachahmlichen Bewegungsabläufe ihn auch in weniger guten Spielen zu einem sehenswerten Ereignis, zu einem sich vom Rest abhebenden Spieler werden. Allein, es gab nicht sonderlich viele schlechte Spiele von ihm. Seine laut Notenschnitt vom Kicker schlechteste Saison als Bayernspieler war mit dem Wert 2,0 seine letzte Saison im Bayerndress 1976/77. Und in der ebenfalls vom Kicker erstellten Rangliste des deutschen Fußballs wurde er unfassbare 27-mal in die Weltklasse eingestuft. Von 1966 bis 1977 wurde er in unerreichter Konstanz lediglich im Winter 1967 und 1973 nicht in die Weltklasse, sondern „nur“ in die internationale Klasse eingeordnet, wobei er nur 1967 auf seiner Position nicht auf #1 rangierte.

Für mich persönlich ist Franz Beckenbauer der beste Fußballer, den Deutschland je hervorgebracht hat. Seine prägende Bedeutung für die Entwicklung des Fußballs in Deutschland ist kaum zu überschätzen, auch in negativer Hinsicht. Denn es ist seinem herausragenden Wirken geschuldet, dass in Deutschland viele (Jugend-)Trainer ihre talentiertesten Spieler nicht auf die 10er-Position gestellt, sondern als Libero eingesetzt haben; dass die Position des Liberos und damit einhergehend die Trikotnummer 5 auf Jahrzehnte ein derart hohes Prestige besaß, um noch bis hin zum neuen Millennium attraktiv zu bleiben, als andernorts schon längst die Viererkette etabliert war.

Indirekt hat Franz Beckenbauer insofern den deutschen Fußball um Jahre zurückgeworfen. Dabei ist eigentlich gar nichts gegen die Spielweise mit einem Libero zu sagen. Wenn diese Position denn von einem Spieler wie Beckenbauer interpretiert wird. Aber einen derartigen Fußballer hat es seitdem weder in Deutschland noch irgendwo anders auf der Welt gegeben. Und es ist fraglich, ob es ihn jemals wieder geben wird.