Jérôme Boateng: Das fehlende Element
Pep Guardiola musste in der Folge handeln, weil neben Boateng auch Badstuber, Martínez und Benatia langfristig oder mittelfristig ausfielen. Mit Serdar Tasci wurde zudem ein Innenverteidiger verpflichtet, der bis heute nur 53 Minuten für die Münchner absolvierte. Die Lösung des Katalanen hieß dann etwas überraschend Joshua Kimmich. Doch der 21-Jährige überzeugte und ließ sich selbst von Rückschlägen, wie dem in Turin, nicht beeindrucken. Bereits vor einigen Wochen analysierten wir die Grundfähigkeiten der Notlösung und stellten fest, dass diese Rolle tatsächlich sehr passend für ihn gewesen ist. Sein Partner war über lange Phasen der Rückrunde David Alaba. Der Österreicher kannte die Position des Innenverteidigers bereits und konnte mit Kimmich so ein gutes Duo bilden, das unter anderem gegen Dortmund und auch im Hinspiel gegen Benfica zu Null blieb.
An dieser Stelle muss auch erwähnt werden, dass es eine sehr respektable Leistung ist, wenn ein Team auch ohne echten Innenverteidiger über Wochen so konstant und stabil seine Spiele gewinnt. Oft kam genau dieser Punkt zu kurz, denn Bayerns offensive Formschwäche wurde in den letzten Wochen sehr häufig von starken Defensivaktionen der Verteidiger aufgefangen. Lediglich Juventus Turin war in der Lage das Fehlen von Boateng auszunutzen. Doch wie sehr fehlte der 27-Jährige den Bayern wirklich?
Aufgrund der Ergebnisse lässt sich diese Frage natürlich einfach beantworten: Nicht so sehr, wie viele gedacht hätten. Gerade auch weil die Bayern in den bisherigen 17 Spielen seit der Verletzung Boatengs nur 11 Gegentore (sechs davon in der Champions League) kassiert haben. Doch das würde zu kurz greifen. Zum einen hatten viele Gegner schlichtweg nicht die Qualität, um dieser dezimierten Bayern-Defensive wehzutun, zum anderen gab es auch einige Momente in denen man das Gefühl hatte, dass Boateng es besser hätte lösen können. Jérôme Boateng zählt zu den fünf besten Innenverteidigern der Welt. In den letzten Jahren hat er sich zu einem der besten Aufbauspieler des Planeten entwickelt. Der Weltmeister ist in der Lage eine komplette gegnerische Formation mit einem Pass auseinander zu nehmen. Diese Qualität hat unter allen Innenverteidigern so vielleicht nur noch Mats Hummels.
Darüber hinaus sind auch seine langen Bälle sehr wichtig für den FC Bayern. In der Champions League bringt Boateng 6,6 von 10 langen Bällen pro 90 Minuten an einen Mitspieler. Auch in der Bundesliga hat er mit 9,4 von 14,9 eine sensationelle Quote. Er kann mit diesen weiten Schlägen nicht nur für schnelle und überraschende Gefahr sorgen, sondern schafft es auch durch kluge Seitenverlagerungen die Abhängigkeit von der Sechser-Position zu entschärfen. Besonders deutlich wurde das in der Hinrunde gegen Borussia Dortmund. Tuchel ließ das Zentrum der Bayern so zustellen, dass nur die Wege auf die Außenbahnen frei waren und Alonso keine Rolle spielte. In den letzten Jahren hatte Bayern häufig Probleme, wenn der Sechser das Spiel nicht eröffnen konnte, doch Boateng entschärfte diese Abhängigkeit. Wenn man so will, ist er nicht nur das Herz des Aufbauspiels sondern auch ein tiefer Spielmacher.
In Lissabon wurde zuletzt deutlich, warum der Abwehrchef trotz aller positiven Ergebnisse fehlt. Seine Übersicht hätte gegen diese hochstehende Mannschaft sehr weitergeholfen. Immer wieder mussten Martínez und Kimmich den Ball zentral zu Alonso bringen, um dann eine gefährliche Seitenverlagerung zu erzeugen. Außerdem gab es zu selten den Versuch mit langen Bällen über die weit aufgerückte Abwehr zu operieren. Boateng hätte beides in diesem Spiel vereinfachen können.
In der Rückrunde fehlten den Münchnern in einigen Spielen genau diese präzisen langen Bälle. Joshua Kimmichs Passspiel ist hervorragend. Auch er bringt die nötigen Fähigkeiten mit, um die vorderste Pressinglinie zu überspielen. Vor allem über Dribblings, wie zuletzt gegen Stuttgart, war der 21-Jährige immer gefährlich. Dennoch – und das ist nicht als Kritik an Kimmich zu verstehen – ist Boateng noch mal eine Stufe über dem was sein Ersatz bieten konnte. Der gebürtige Berliner kommt in der Bundesliga auf 0,8 Torschussvorlagen pro 90 Minuten und hat bereits drei Assists beigesteuert.
Wichtig für Bayerns Spiel ist auch Boatengs Qualität gegen den Ball. 64% seiner Zweikämpfe gewinnt er in der Liga, 67% sind es sogar in der Champions League. Joshua Kimmich hat in der Liga 54% seiner Duelle gewonnen und kommt international auf 57%. Boateng ist darüber hinaus im Gegenpressing noch herausragender als jeder andere Innenverteidiger der Münchner. Er antizipiert Umschaltmomente des Gegners schon bevor der Ball in seiner Nähe ist. Der 27-Jährige ist oft sehr hoch positioniert, was zwar risikoreich ist, ihm aber aufgrund seiner Spielintelligenz fast nie zum Verhängnis wird. Mit 1,9 Interceptions pro 90 Minuten hat er in der Bundesliga die zweitmeisten aller Innenverteidiger des FC Bayern. Nur Benatia (2,8) hat mehr, spielte allerdings auch nur halb so viele Minuten wie Boateng.
Die wichtigste Eigenschaft des Nationalspielers ist aber seine Konstanz. Er macht keine schwerwiegenden Fehler mehr. Von den Medien zu Beginn seiner Bayern-Zeit noch genau dafür kritisiert, entwickelte er sich in den letzten Jahren zu einem der konstantesten Innenverteidiger Europas. Vor allem ist es aber die Tatsache, dass Boateng sich regelmäßig zu den großen Spielen in Topform präsentiert. Er übernahm sowohl im Champions-League-Finale 2013 als auch im WM-Finale 2014 Verantwortung und glänzte mit Werten auf aller höchstem Niveau. 2013 hatte er beispielsweise im Endspiel der Königsklasse eine Zweikampfquote von 80% und kontrollierte so niemand geringeren als Robert Lewandowski. Sein langer Ball auf Ribéry war zudem der Pre-Assist zur Entscheidung. In der Nacht von Rio, als er und die Nationalmannschaft Weltmeister wurden, zeigte er ebenfalls eine nahezu unglaubliche Leistung gegen Lionel Messi und die Argentinier. Er antizipierte jede Situation und gewann 10 seiner 12 Zweikämpfe sowie vier von sechs Luftduellen. Drei abgefangene Bälle, sechs Tacklings und beeindruckende neun klärende Aktionen komplettieren die vielleicht beste Leistung seiner Karriere.
Diese Kategorie Spieler würde jedem Team fehlen. Pep Guardiola fand dennoch Lösungen um die Mannschaft weiter in allen drei Wettbewerben auf Kurs zu halten und zauberte mit Kimmich einen großartigen Ersatz aus dem Hut. Dennoch ist es wichtig für die Münchner, dass Jérôme Boateng gerade jetzt, wo es in die entscheidenden Wochen geht, auf dem Weg zurück in den Kader ist. Ob er direkt wieder an seine starken Leistungen der letzten Jahre anknüpfen kann wird sich dabei zeigen.
Wir haben also festgestellt, dass Boateng nicht zu ersetzen ist, wenngleich er tolle Vertreter hatte. Doch welche Folgen könnte eine mögliche Rückkehr für einige Spieler haben und wer wird vermutlich darunter leiden müssen?
Javi Martínez
Der Spanier spielt eine solide Saison und dürfte keine großen Probleme bekommen, wenn Boateng wieder im Kader steht. Seine Zweikampfquote von 62% ist in der Liga ähnlich gut wie die seines Kollegen und gerade die 70% in der Champions League zeigen, dass er durchaus der richtige Partner für den Deutschen sein kann. Martínez ist eine sehr gute Ergänzung zu Boateng, weil er ihm viele Zweikämpfe abnimmt und mit gutem Stellungsspiel zu überzeugen weiß. Auch seine Kopfballstärke war in den letzten Spielen zunehmend wichtig und wird weiterhin benötigt. Im Aufbauspiel macht er eher die einfachen Dinge, verliert dafür aber auch kaum Bälle. Javi Martínez könnte sogar die wahrscheinlichste Lösung für die Position neben Boateng sein.
Medhi Benatia und Serdar Tasci
Beide dürften weiterhin nur eine untergeordnete Rolle spielen. Bei Serdar Tasci ist dies aber eindeutiger festzumachen als bei Benatia. Der Marokkaner zeigte nach seiner Rückkehr eher durchwachsene Leistungen, hat aber grundsätzlich ähnliche Fähigkeiten wie Martínez. Er ist kopfballstark, gewinnt in seiner Normalform viele Zweikämpfe (70% in der Liga, 64% in der Champions League) und hält sich im Aufbauspiel eher zurück. Das wichtigste wird bei ihm die Fitness sein. Ständig hat Benatia mit Verletzungen zu kämpfen. Bleibt er ohne weitere Rückschläge, wird er noch auf ein paar Einsätze in der Bundesliga kommen. Für eine wichtige Rolle in einem Champions-League-Spiel dürfte es aber nicht mehr reichen. Bei Tasci hingegen ist es fraglich, ob er überhaupt noch einmal für die Bayern auflaufen wird.
Joshua Kimmich
Theoretisch dürfte Kimmich am ehesten unter der Rückkehr von Boateng leiden, da er der direkte Ersatz für den Abwehrchef ist. Kimmich – und das kann man nicht oft genug betonen – ist ein Glücksfall für den FC Bayern. Als gelernter Mittelfeldspieler kann er auch viele weitere Positionen spielen ohne dabei an Qualität zu verlieren. Er erinnert stark an Philipp Lahm, der ebenfalls dieses abgeklärte und ruhige Auftreten hat. Kimmichs Leistungen gegen Dortmund, Juventus und Benfica waren sicherlich die Höhepunkte seiner Rückrunde. Ist Boateng wieder fit, wird er vermutlich ins zweite Glied zurückfallen. Eine Backup-Rolle für Alonso und Vidal wäre die wahrscheinlichste Option für den 21-Jährigen. Denkbar wäre aber auch die Lahm-Position auf der rechten Defensivseite. Im Spielaufbau könnte er dann den Weg ins zentrale Mittelfeld suchen und gegen den Ball rechts verteidigen. Schon im Pokal gegen Darmstadt erfüllte er diese Aufgabe ohne Fehler. Da Lahm auf dieser Position jedoch gesetzt ist, würde er auch hier eher Ersatz- als Stammspieler sein. Kimmich zählt zu Pep Guardiolas Lieblingsspielern und wird auch weiterhin seine Einsätze bekommen. Ein Modell mit Boateng und Kimmich in der Innenverteidigung ist ebenfalls nicht auszuschließen. Der 21-Jährige ist variabel genug und das ist im Vergleich zu anderen Defensivakteuren des FC Bayern sein größtes Plus.
David Alaba und Juan Bernat
David Alaba dürfte Boateng schon sehnlichst erwarten. Der Österreicher hat mehrfach betont, dass er gerne eine offensivere Rolle bekleiden würde. Als Linksverteidiger hat er zumindest deutlich mehr Einfluss auf das Offensivspiel der Bayern als auf der Innenverteidiger-Position. Durch eine Boateng-Rückkehr könnte Alaba wieder auf die linke Seite rutschen, was wiederum starke Auswirkungen auf Juan Bernat haben würde. Der Spanier hatte zuletzt nicht die besten Auftritte, bekam aber immer wieder das Vertrauen von Pep Guardiola geschenkt. Durch Boateng wird sich das vermutlich ändern. Bernat könnte zwar in der Bundesliga den Lückenfüller spielen, um Alaba die eine oder andere nötige Pause vor weiteren Champions-League-Spielen zu geben, doch für mehr wird es bei ihm in dieser Saison nicht mehr reichen.
Boateng-Rückkehr gegen Atlético?
Da es keine genauen Angaben des FC Bayern gibt, kann man auch keine Prognosen über seine Rückkehr treffen. Zuletzt wurde spekuliert, dass ein Comeback in Berlin im Bereich des Möglichen liegt. Seine Fortschritte sind gut, werden aber auch mit einem gewissen Maß an Vorsicht nach außen getragen. Jérôme Boateng wäre ein essenzielles Puzzleteil für die Elf, die Pep Guardiola schlussendlich auf den Rasen des Estadio Vicente Caldéron in Madrid schicken wird. Gerade gegen Atlético wären seine Fähigkeiten und die Erfahrung sehr wichtig für die Bayern. Schon gegen Benfica konnte man beobachten, dass der Rekordmeister über viele Phasen dieser 180 Minuten Probleme hatte Lösungen im Aufbaudrittel zu finden. Auch die vielen Gegentore in der Champions League zeigen auf, dass man in der Defensive für das höchste Niveau derzeit nicht gewappnet ist. In der Gruppenphase hat Manuel Neuer in sechs Spielen nur drei Mal hinter sich greifen müssen. Gegen Juventus und Benfica kassierten die Bayern in vier Spielen sechs Gegentore. Für ein Comeback im Hinspiel sieht es derzeit nicht gut aus. Boateng steht gerade vor seinen ersten Trainingseinheiten mit der Mannschaft. Wird er nicht rechtzeitig fit, macht es auch keinen Sinn ihn einzusetzen. Guardiola betonte zuletzt, dass auch Javi Martínez noch nicht bei 100% sein kann. Der Spanier zeigt, dass es durchaus einiges an Zeit in Anspruch nehmen kann bis ein Spieler nach einer Verletzung wieder bei alter Stärke ist. Der FC Bayern ist auch mit Javi Martínez, David Alaba und Joshua Kimmich in der Lage jeden Gegner der Welt zu schlagen, sieht sich gegen die Konterstarke Mannschaft von Diego Simeone aber erneut vor großen Problemen.
Fazit
Jérôme Boateng ist einer der wichtigsten Spieler beim FC Bayern und mit ihm sollten bei entsprechender Fitness auch einige wichtige Elemente in das Münchner Positionsspiel zurückkehren. Zweikampfstärke, Übersicht, Sicherheit, Ruhe, Ausstrahlung, Kopfballstärke (…), Boateng bringt einfach alles mit was ein moderner Innenverteidiger haben muss und vielleicht sogar ein bisschen mehr. Darüber hinaus ist er in der Lage sein Niveau genau dann abzurufen, wenn es in die entscheidende Phase der Saison geht. Es wird interessant zu sehen, ob der 27-Jährige das auch nach einer langen Verletzungspause kann. In München freut man sich jedenfalls auf die Rückkehr des Abwehrchefs, auch wenn er über weite Phasen der Rückrunde sehr gut ersetzt wurde.