Rückschau: Einordnung des Erfolgs über Dortmund

Justin Trenner 10.04.2019

Auf so vielen verschiedenen Ebenen war der deutliche Erfolg über den BVB wichtig: Psychologisch, weil man nun wieder von der Tabellenspitze grüßt und bewiesen hat, dass auch große Spiele gewonnen werden können. Sportlich, weil man sich selbst gezeigt hat, dass man es noch drauf hat. Aber auch, weil das Meisterschaftsrennen dadurch offen bleibt. Bei einer Niederlage wären die fünf Punkte Vorsprung für die Borussia vermutlich schon zu viel gewesen.

Es war ohne Frage die beste Leistung, die der FC Bayern in dieser Saison auf den Platz gebracht hat. Alles, was für den Fußball unter Niko Kovač typisch ist, funktionierte an diesem Abend ganz nah an der Perfektion.

Und doch gibt es Diskussionen. Rummenigge äußerte sich zuletzt durchaus kritisch über den Trainer. Er könne niemandem eine Jobgarantie aussprechen und der Anspruch des FC Bayern sei immer hoch. Zudem habe es im Herbst natürlich Probleme gegeben, die intern aber gemeinsam bewältigt wurden. Hoeneß hat im Gegensatz zum Vorstandsvorsitzenden nochmal bekräftigt, dass er voll hinter Kovač stehe. Der Trainerstuhl bleibt also trotz des 5:0-Sieges über den Rivalen aus Dortmund heiß. Doch warum eigentlich?

Das Topspiel unter der Lupe

In einer ergebnisorientierten Analyse könnte man hinter das 5:0 einen dicken Haken machen und den Artikel an dieser Stelle damit beenden, dass Kovač endgültig in München angekommen sei. Immerhin holte der Kroate aus den letzten 22 Pflichtspielen 17 Siege bei nur 3 Unentschieden und 2 Niederlagen – 68 Tore erzielte seine Mannschaft dabei und immerhin 9-mal spielte sie zu Null.

Man muss sich aber das Spiel vom vergangenen Wochenende eigentlich nur nochmal im Detail anschauen, um zu verstehen, warum es über Niko Kovač verschiedene Meinungen gibt. Es geht nämlich nicht um eine ergebnisorientierte Bewertung. Ergebnisse können viel er- aber auch viel verklären.

Das lässt sich auch wunderbar am 5:0 der Bayern gegen Dortmund erörtern. Ist das Ergebnis in der Höhe verdient? Absolut. Doch haben die Münchner dabei taktisch und spielerisch einen derart hohen Sprung gemacht, dass man ihnen unterstellen könnte, dass das eine komplett neue Dimension oder eine neue Mannschaft war? Eher nicht.

Verbessertes (Gegen-)Pressing

Wenn sich der FCB irgendwo klar gesteigert hat, dann in der Arbeit gegen den Ball. Fast schon in einem 2-4-4 liefen die Bayern den BVB an. Müller schob häufig neben Lewandowski, die Flügelspieler wiederum waren in der Höhe je nach Ballposition etwas versetzt – war Dortmund auf der eigenen rechten Seite in Ballbesitz, schob Coman natürlich aggressiver auf den ballführenden Borussen und Gnabry stand auf der anderen Seite etwas tiefer.

Das funktionierte beispielsweise auch in Hoffenheim oder gegen Stuttgart in der Rückrunde ziemlich gut. Allerdings immer mit der Sorge, dass der Gegner die Lücken dahinter finden würde. Denn die Doppelsechs und auch die Außenverteidiger ließen im Zentrum Platz, der nur deshalb nicht genutzt wurde, weil die erste Pressinglinie außerordentlich gut stand.

Gegen Dortmund war das insgesamt kompakter und besser. Thiago und Martínez schoben in diesen Raum nach und die beiden Außenverteidiger halfen ebenfalls dabei, die Halbräume und Flügel zu verschließen. Doch auch das Gegenpressing der Bayern war besser als zuletzt. Hier war der entscheidende Faktor Thomas Müller. Müller agierte mit seiner Laufstärke quasi für zwei Spieler – in 80 Minuten spulte der Angreifer 10,89 Kilometer ab. Und das vor allem in den richtigen Räumen.

Die Bayern im 4-2-4-1

Allein aus taktischer Perspektive führte diese herausragende Einzelleistung dazu, dass die Bayern gefühlt einen Mann mehr in ihrem Spiel hatten. Statt eines 4-2-3-1 entstand also ein 4-2-4-1. Müller war immer da, wo er Überzahl schaffen konnte.

Fast schon überraschend war dabei, dass er nicht nur seine typischen Stärken wie Läufe in die Tiefe, Organisation des Pressings und Omnipräsenz im Gegenpressing zeigte, sondern dass er darüber hinaus auch ein strukturgebendes Element im Spiel der Bayern war. Müller ließ sich zwischen die Viererketten des BVB fallen, agierte wie ein Spielmacher in den Halbräumen und half dabei, die Passwege für Thiago und Hummels zu verkürzen.

Denn das war in der jüngeren Vergangenheit ja auch eines der Hauptprobleme unter Niko Kovač: zu lange Passwege nach vorn und ein damit verbundenes Loch im Mittelfeld. Müller stopfte diese Löcher und war letztendlich vielleicht der wichtigste Unterschied zu den vergangenen Partien.

„Das war Peak-Kovac-Fußball“

Zu der hervorragenden Arbeit gegen den Ball kam, dass die Bayern in diesem Spiel nicht wahllos Bälle in den gegnerischen Sechzehner schaufelten, sondern auch dank der Zwischenstation Müller dafür sorgten, dass die Flügelspieler häufiger in Eins-gegen-eins-Situationen kamen. Gnabry und Coman hatten dadurch mehr Zeit und Raum.

Gut war zudem, dass die Flanken diesmal überlegter zu sein schienen. Von den insgesamt 24 Hereingaben kamen 8 aus dem Halbfeld. Durch Müllers Läufe in die Tiefe, Lewandowskis Präsenz und dem Nachschieben von Thiago sowie Martínez hatte man nicht nur eine gute Besetzung des Strafraums garantiert, sondern auch eine gute Grundstruktur für den Kampf um die zweiten Bälle parat. Dortmund konnte sich also auch dann nicht wirklich befreien, wenn sie die Flanke verteidigten.

In diesem Kontext müssen aber auch die Standards erwähnt werden. Acht Chancen erspielten sich die Bayern per Standard – wobei die drei Abschlüsse von Müller, Lewandowski und Martínez beim 3:0 als eine Chance nach Standard gewertet werden. Tobias Escher twitterte am Sonntag: „Das war Peak-Kovac-Fußball. Wüsste nicht viel, was man innerhalb des Setups hätte besser machen können.“

Vor allem bei Standards haben die Bayern in dieser Saison eine neue Quelle für Torchancen entwickelt.
(Foto: Alexander Hassenstein / Bongarts / Getty Images)

Die Setup-Debatte

Es sind zwei Sätze, die in Perfektion die gesamte Debatte darstellen, die eigentlich um Niko Kovač geführt wird oder die zumindest geführt werden sollte. „Innerhalb des Setups“ gibt es eigentlich kaum etwas, das besser hätte laufen können.

Kovač traf die richtigen Personalentscheidungen, seine Spieler liefen mit einer Grundmentalität und Grundaggressivität auf, die den Umständen entsprechend einen Unterschied machte und er schaffte es, dass seine Spieler im (Gegen-)pressing sowie in der Strafraumbesetzung so gut waren, dass die Schwächen des BVB perfekt ausgenutzt wurden.

Woran also zweifeln? Einerseits an der Besonderheit des Moments und andererseits an der Überzeugung, dass dieses System in dieser Form auch gegen die Top-Mannschaften Europas funktioniert. Es muss die Frage erlaubt sein, ob das Setting, in dem die Bayern gegen Dortmund alles nah an der Perfektion umsetzen konnten, auf allerhöchstem Niveau genügt. Und ob Dortmund dieses Niveau überhaupt repräsentierte.

Auf spielerischer Ebene fehlt was

Denn der gesamte fußballerische Rausch lässt sich nicht ausschließlich darauf zurückführen, dass die Bayern ein tolles Spiel gemacht haben. Borussia Dortmund zeigte sich mutlos, eingeschüchtert und vor allem auch ideenlos. Sie standen insgesamt mindestens 10 Meter zu tief und ließen Hummels und Thiago somit zu viel Zeit am Ball. Beide konnten regelmäßig andribbeln und so die Abstände nach vorn verkürzen. Liverpool beispielsweise erstickte diese Versuche im Keim und ließ das Mittelfeld durch cleveres Pressing gar nicht erst ins Spiel kommen.

Favre sah sich zwar mit einer guten Bayern-Mannschaft konfrontiert, doch er merkte zu keiner Zeit des Spiels, wo die eigentlichen Schwachpunkte des Gegners liegen – nämlich genau darin, Lösungen gegen ein aggressives Pressing gegen die Schaltzentrale zu finden. Und so war diese Partie, auch durch die Spielgeschichte begünstigt, schneller vorbei, als ihm lieb gewesen wäre. Denn die Bayern erzielten das 1:0 und das 3:0 jeweils aus Standards, während das 2:0 ein Geschenk der Dortmunder war und das 4:0 in einem Umschaltmoment das erste Tor war, das zumindest ein wenig herausgespielt wurde.

Wirklich viele Flachpässe hinter die Abwehr des BVB gab es nicht. Muss es auch nicht geben, wenn die Tore eben nach Flanken oder Standards fallen. Doch die Saison und viele statistische Analysen zeigen, dass hohe Bälle eben nicht das erfolgsversprechendste Mittel dafür sind, Torchancen zu kreieren. Von 22 Abschlüssen entstanden insgesamt nur 3 innerhalb des Strafraums und nicht nach einer Ecke, einem Freistoß oder einer Flanke.

Dominanz, selbst agieren und die Frage, warum das nicht immer funktioniert

Und hier liegt der Kernpunkt der gesamten Diskussion. Mats Hummels äußerte direkt nach der Partie, dass das die Spielweise sei, mit der sich die Spieler am wohlsten fühlen. Dominant mit dem Ball zu agieren sei genau das, was man könne. Dahingegen zähle das Reagieren ohne Ball nicht zu den Stärken des FC Bayern.

Doch warum dann nicht genau so gegen Liverpool? Diese Frage stellten sich viele Beobachter*innen nach dem eindrucksvollen Sieg am Wochenende. Die Antwort ist so einfach wie enttäuschend: Weil Liverpool eine ganz andere Hausnummer ist und nicht nur mit einem anderen Selbstverständnis nach München reiste, sondern auch mit einer Spielidee, die klar die Schwächen des amtierenden Deutschen Meisters aufdeckte.

Bezeichnend dafür ist, dass Hummels davon sprach, dass der Plan gegen Liverpool im Prinzip derselbe war. Man habe es nur nicht auf den Rasen bekommen. Zurecht wird hier als Faktor angeführt, dass Müller gesperrt und Coman nicht fit war. Auch Robben und Tolisso fehlten, wobei hier schon das Meckern auf sehr hohem Niveau beginnt. Beide konnten im Laufe der Saison ersetzt werden.

Dimensionen des Problems

Natürlich bleibt also der Verdacht bestehen, dass dieser Kader einfach nicht gut genug ist, um den höchsten Ansprüchen gerecht zu werden. Doch ist der Kader im Vergleich zu Liverpool wirklich so viel schlechter, dass er in der eigenen Arena vom Gegner an die Wand gespielt wird? Zweifel sind angebracht. Immerhin sind die Schlüsselspieler nicht 35 Jahre alt. Sie befinden sich in einer gesunden Spanne zwischen 27 und 33 Jahren.

Ja, der Kader ist sicher nicht perfekt bis auf jedes Szenario durchgeplant. Es gibt Schwachstellen, die im Sommer vermutlich angegangen werden. Doch die Leistungen des FC Bayern in Dortmund, in Leverkusen, gegen Liverpool, gegen Ajax und letztendlich teilweise sogar gegen Freiburg, Augsburg und Düsseldorf lassen sich nicht ausschließlich über Fehler in der Kaderplanung erklären.

Es ist eben doch auch das Setting, das der Trainer vorgibt. Wie kommt die Mannschaft strukturiert vom ersten ins letzte Drittel und dann auch hinter die Kette des Gegners? Wie geht die Mannschaft mit veränderten Spielsituationen um? Wie geht sie damit um, wenn das Zentrum zugestellt wird? Das sind nur drei von vielen taktischen Kernfragen, auf die Niko Kovač und sein Trainerteam bisher keine Antworten gefunden haben. Und somit sind sie Teil eines Problems, das sich grundsätzlich in einer Dimension abspielt, die 17 andere Bundesligisten nicht verstehen können: Sie sind eine von mehreren Ursachen, die dafür sorgen, dass die Bayern eben nur noch gut und nicht mehr sehr gut sind.

Das Loch in Europa schließen

Und das gilt es auch zu verstehen, wenn Kritik an Niko Kovač geäußert wird. Es sollte nicht darum gehen, ihm seine Qualitäten abzusprechen. Die Bayern haben Fortschritte in einigen Bereichen verbucht. So sind sie gefährlicher nach Flanken und Standards geworden. Auch ihre Arbeit gegen den Ball haben sie unter Kovač in dieser Saison nach und nach verbessert, wenngleich es immer noch Probleme in der Konterabsicherung gibt.

Doch durch die fehlende Struktur in Ballbesitz machen sie sich das Leben eben vor allem dann schwer, wenn der Gegner mit viel Mut und Aggressivität die Schaltzentrale rund um Thiago und Hummels aus dem Spiel nimmt.

Letztendlich geht es eben darum, herauszufinden, ob Niko Kovač mit seinem Trainerteam den allerhöchsten Ansprüchen genügt. Und die sind eben nicht, dass man Borussia Dortmund einmal im Jahr aus der Allianz Arena fegt, weil da die Motivation und Situation jeweils besonders sind. Der Anspruch ist es, die Lücke zu Europas Spitze zu schließen und nicht größer werden zu lassen.

Mit Kovač in die Zukunft?

Das wird nicht nur mit Transfers gehen. Denn Real Madrid, PSG, Barcelona, Manchester City und womöglich auch Juventus Turin sowie weitere englische Top-Klubs werden in den kommenden Jahren wohl weiterhin mehr Geld in die Hand nehmen als die Münchner. Es braucht also ein gutes Scouting, eine hervorragende Jugendarbeit und einen Mann auf der Trainerbank, der mit seinem Team den Unterschied machen kann. Und ob Niko Kovač durch einen taktischen Vorsprung in der Lage ist, den Rückstand des FC Bayern auf anderen Ebenen zu verkürzen, bleibt weiter zweifelhaft. Nicht nur und nicht zuletzt wegen des deutlichen Ausscheidens gegen Liverpool.

Trotzdem wäre es kein Drama, mit Kovač auch die nächste Saison anzugehen. Vielleicht ist er in der Lage, mit neuen Spielern und den Fehlern dieser Saison im Rücken einen entscheidenden Schritt nach vorn zu gehen. Nur lassen seine generellen Aussagen über taktische Elemente das Gegenteil vermuten. Es ist genau dieselbe Einstellung, die ihm bereits als Nationaltrainer Kroatiens zum Verhängnis wurde. Wiederum sollte es als Standortvorteil und Stärke des FC Bayern angesehen werden, dass trotz der höchstmöglichen Ansprüche nicht nach jeder kleinen Krise die Reißleine gezogen wird und dem Trainer hier die Möglichkeit zur Anpassung gewährt wird.

Nur wird der Druck spätestens in seiner zweiten Saison riesig sein. Denn hat Niko Kovač erstmal neue Spieler, gibt es endgültig keine Ausreden mehr. Dann muss er den Schritt nach vorn machen und sich selbst mehr zutrauen. Aktuell ist er ein durchschnittlicher bis guter Bundesliga-Trainer. Es wird auch Hoeneß und Rummenigge nicht entgangen sein, dass das den eigenen Zielen nicht genügt. Stand jetzt.