Miasanrot Roundtable vor Liverpool: „Nerven behalten wäre mal nicht schlecht“

Justin Trenner 12.03.2019

Große Spiele erfordern große Formate. Und so ist der Roundtable zurück! Justin und Steffen sind aus der Miasanrot-Redaktion dabei. Außerdem haben wir uns die Journalisten Martin Schneider von der Süddeutschen Zeitung und Stefan Johannesberg vom Stern eingeladen.

Was können beide Mannschaften aus den ersten 90 Minuten mitnehmen?

Justin: Liverpool hat es vor allem in der zweiten Halbzeit geschafft, die Bayern hinten reinzudrücken. Normalerweise gewinnen sie diese Partie in 10 Versuchen mindestens 6- oder 7-mal. In ihrer Spielweise müssen sie sich in München nicht großartig anpassen, um gefährlich zu sein. Zumal sie als Auswärtsmannschaft noch mehr darauf setzen werden, über Umschaltsituationen zu kommen und das liegt ihnen bekanntlich. Bayern kann vor allem das Ergebnis und den mentalen Schub mitnehmen. Sie haben das Hinspiel fast wie einen Sieg gefeiert. In einigen Phasen der Partie schafften sie es, Liverpools Schwächen im Aufbauspiel zu nutzen, selbst mutig und sicher aufzubauen und so auf Augenhöhe zu agieren. Verbessern muss sich die Konstanz über 90 Minuten. Sie brauchen mehr Entlastungsphasen und den Mut, den sie in der ersten halben Stunde in Ballbesitz hatten.

Stefan: Da Justin dasselbe Spiel gesehen hat wie ich, stimme ich seiner Analyse zu. Ich würde noch ergänzen, dass ich es recht einfach fand, wie besonders Gnabry in der ersten Halbzeit zu gefährlichen Situationen kam. Und das, obwohl die Bayern nicht wirklich nachrückten. Das sollte Hoffnung geben, mindestens zwei Tore erzielen zu können. Negativ bleibt vor allem die Personalsituation.

Steffen: Ich stimme Euch zu. Positiv für die Bayern war darüber hinaus, dass sie über weite Strecken einen Weg gefunden haben, diesen enormen Speed, den Liverpool auf verschiedenen Positionen aufs Spielfeld bringen kann, zu neutralisieren. Da hatte ich vor dem Spiel große Bedenken. Grundsätzlich erwarte ich aber von der Spielanlage her ein anderes Rückspiel. Insofern würde ich die Eindrücke des Hinspiels nicht überbewerten.

Martin: Ich würde fast behaupten, das Hinspiel in Liverpool war nicht weniger als das beste Bayern-Spiel in dieser Saison. Sie haben zwei Dinge gemacht, die ich so nicht erwartet habe: Sie hatten a) eine kluge Taktik und sich b) sogar daran gehalten. Ich finde, dass man sieht, dass die Mannschaft seitdem einen Schub bekommen hat. Das war schon so ein Knackpunkt-Spiel. Größtes Defizit: Sie haben das Fehlen von van Dijk nicht genutzt.

Erwartet ihr eine ähnliche Partie wie in den ersten 90 Minuten?

Steffen: Wie gesagt: Ich rechne schon mit einer anderen Partie. Liverpool ist aus meiner Sicht gut beraten, das Spiel noch stärker gegen den Ball zu denken und aufzubauen. Soll heißen, dass sie sich noch stärker auf Pressingmomente, Pressingfallen und schnelle Gegenstöße nach Ballgewinn konzentrieren könnten. Bayern hat aus den letzten zwei Wochen mit hohen Siegen in der Liga und dem guten Auftritt in Liverpool viel Selbstvertrauen geschöpft und wird mit dem Anspruch starten, das eigene Spiel mit dem Ball durchzubringen. Wichtig ist, dass Bayern clever spielt und sich trotz der Notwendigkeit eines eigenen Tores gezielt Situationen in Strafraumnähe erarbeitet, ohne dabei das Risiko allzu hoch zu schrauben. Das gilt insbesondere für die Rolle der Außenverteidiger, die in der Konterabsicherung gebraucht werden.

Stefan: Ich denke eher, dass Kovač seine Mannschaft wie im ersten Spiel defensiver und mehr auf Sicherheit bedacht einstellen wird, um die Null zu halten und bei Fehlern der Liverpooler zuzuschlagen oder auf eine Standardsituation zu hoffen. Hier liegt ein möglicher Vorteil, denn besonders Martínez und Hummels sind bei James-Ecken nur sehr schwer zu verteidigen. Wenn Thiago dann mal keinen Raketenpass einstreut, könnte man mit einer knappen Führung in die zweite Hälfte gehen. Doch selbst wenn man zurückliegen sollte, dürfen die Bayern nicht aus der Ruhe kommen. Eine Bank mit Ribéry, Sanches und Coman/Goretzka ist auch in der letzten Viertelstunde in der Allianz Arena für mehr als ein Tor gut.

Martin: Nach allem, was ich von Liverpool gesehen habe und mit dem Wissen über Klopp-Mannschaften, denke ich, dass es nicht klug wäre, jetzt als “Heimmannschaft” aufzutreten. Also die Mannschaft auf dem Feld nach vorne zu schieben und fröhlich Ballbesitz-Fußball zu zelebrieren. Salah mag nicht in Form sein, aber wenn man den drei Zirkus-Artisten da vorne auch nur ein bisschen Platz zum Jonglieren lässt, dann gibts ne Show beziehungsweise ein Auswärtstor. Ich denke, das wird wieder ein Taktik-Duell mit eher defensiven Bayern. Diesmal aber eben mit Deadline. (“Chicken-Game” für die Spieltheoretiker). Wer zuerst zuckt, verliert.

Justin: Ich erwarte eine ähnliche Anfangsphase wie im Hinspiel, in der beide sich gegenseitig auf Fehler und Ungenauigkeiten abtasten. Beide Mannschaften werden auch wieder Phasen haben, in denen sie tiefer stehen. Nur kann ich mir vorstellen, dass es diesmal die Bayern sind, die in der Endphase mehr Ballbesitz haben. Dann kommt es darauf an, ob Liverpool gute Kontersituationen bekommt oder ob die Münchner ihre beste Saisonleistung bringen und diese Phase(n) kontrollieren können. Denn bisher bekamen sie immer Probleme, wenn ein gut organisierter Gegner ihnen den Ball überließ. Sollte Martin richtig liegen und Kovač erneut ein defensives Spiel durchdrücken können, wird es darauf ankommen, dass die Bayern nicht wieder so hinten reingedrückt werden.

Findet Niko Kovač wieder den richtigen Plan?
Foto: CHRISTOF STACHE/AFP/Getty Images


Ist das berüchtigte Momentum so sehr in die Richtung der Münchner gekippt, dass sie plötzlich der Favorit sind?

Martin: Nein, sie sind nicht Favorit.

Stefan: Zuerst dachte ich, dass dieses Jahr das Jahr von Liverpool wird und Bayern absolut nicht bereit dafür ist. Es erinnerte mich ein wenig an die Situation der Münchner im Jahr 2012. Mittlerweile haben die Mannen von Klopp das Momentum jedoch etwas verloren und die Bayern haben einiges an Selbstvertrauen getankt. Daher sehe ich die Chancen auf ein Weiterkommen bei 50:50. Wenn Müller spielen könnte, würde ich das Verhältnis sogar auf 55:45 erhöhen.

Justin: Vor dem Achtelfinale habe ich die Favoritenrolle ungefähr bei 60:40 für Liverpool gesehen. Jetzt bin ich eher bei 50:50. Natürlich hat Liverpool gerade eine schwerere Phase, während die Bayern vor allem mental oben auf sind. Doch taktisch und fußballerisch hat die Mannschaft von Jürgen Klopp als Kollektiv mehr zu bieten als die Münchner. Ich glaube auch, dass Liverpool flexibler ist und sich im Rückspiel besser auf den Gegner einstellen wird als andersherum. Die Bayern sind eben gerade in Punkten wie Erfahrung, Mentalität und individuelle Klasse überlegen. Am Ende werden Nuancen darüber entscheiden, wer die nächste Runde erreicht.

Steffen: Ich halte es für ein komplettes 50:50-Spiel. Die beiden Mannschaften sind sowohl vom Personal als auch von der Taktik sehr unterschiedlich – was den Reiz dieses Duells ausmacht. Ich habe mich lange nicht mehr so sehr auf ein Spiel gefreut wie auf dieses.  

Wie schwer wiegen die personellen Ausfälle und wie kann Bayern sie verkraften?

Justin: Müller wird den Bayern mehr fehlen, als viele das vermuten. Er zeigte in den letzten beiden Spielen gegen Gladbach und Wolfsburg, dass er der Spieler ist, der in der Offensive für Überzahl und Raum sorgen kann. Ohne ihn wirkten die Bayern im Angriff leblos und zu unkreativ. Mit ihm erspielte sich auch Lewandowski wieder mehr Chancen. Auch Kimmich wird den Münchnern selbstverständlich fehlen. Rafinha ist hier zwar der bestmögliche Ersatz, wird den Ausfall aber nicht 1:1 kompensieren können. Bayern muss die Ausfälle als Team auffangen. Rafinha braucht defensiv so viel Unterstützung wie möglich. Das geht durch Kompaktheit, Aggressivität und kluges Verschieben. Vorne müssen die Münchner sehen, dass Lewandowski nicht von der Mannschaft abgeschnitten werden kann.

Martin: Die Personal-Situation könnte in der Tat wichtiger sein als das sogenannte “Momentum” (gibt es einen Begriff, der vor diesem Spiel häufiger genannt wird?). Bei Bayern fehlen ja neben Kimmich auch Müller und Robben, Coman ist mindestens angeschlagen. Bei Liverpool fehlt keiner. Das ist schon ein Unterschied.

Steffen: Es ist ja für Bayern eine jährliche Tradition, dass wichtige Spieler in den entscheidenden Champions-League-Spielen fehlen. Kimmich ist aktuell nicht adäquat zu ersetzen. Das muss ich so hart sagen. Rafinha ist hier bestenfalls ein Kompromiss. Müller hätte Liverpool weh tun können mit seinem Spiel und wird deshalb auch vermisst. In der Offensive gibt es aber immerhin eine Reihe von Möglichkeiten, wie man dies kompensiert. Am meisten fehlt übrigens ein fitter Kingsley Coman. Denn selbst wenn er spielen kann, werden da wie schon im Hinspiel ein paar Prozente fehlen.

Stefan: Ich sehe das wie Justin: Thomas Müller ist im Kovač-System eigentlich schon die ganze Saison der X-Faktor. Er dirigiert das (Gegen-)Pressing, schafft überall wo er auftaucht Räume und hat seinen Torinstinkt wiedergefunden. Ich bin gespannt, ob Kovač Goretzka in dieser Rolle spielen lässt und Coman als Ass im Ärmel erst mal auf der Bank lässt. Goretzka spielte auf dem rechten Flügel in der Nationalelf zwar zweimal mehr schlecht als recht, doch im Wechselspiel mit James könnte er sehr effizient agieren. Ribéry sollte aber auf jeden Fall von der Bank kommen. Nur wenn alle kaputt sind, klappen seine Dribblings und er ist der benötigte Unruheherd. Kimmich zeigte jüngst wieder eine stark ansteigende Form, sodass er auf jeden Fall fehlen wird. Rafinha wird seine Rolle aus Sicherheit wohl eher defensiver interpretieren, wodurch die rechte Seite in Ballbesitz wohl öfter brach liegen wird.      

Worauf wird es für den FC Bayern besonders ankommen und wie geht es aus?

Stefan: Das erste Tor und eine Halbzeitführung zu Null. Zudem müssen sie Mané, Salah und Firmino von Beginn an erfolgreich ausbremsen, um gerade im Zweikampf Sicherheit zu tanken. Die Bayern müssen noch giftiger und pragmatischer sein als im Hinspiel inklusive kluger, taktischer Fouls, starker Konzentration bei Standards und im Notfall mit einem “Lieber-mal-einen-langen-Hafer-spielen”-Style. Offensiv brauchen sie „German Mut“ wie die der Werbeslogan der FDP zur letzten Bundestagswahl. Halbherziges Dribbeln oder Passen sind tabu. Die Bayern gewinnen 3:2 in der 94. Minute durch ein Tor von Ribéry.

Steffen: Also hier jetzt mit FDP-Referenzen zu agieren, ist für mich persönlich natürlich hart. Ich könnte jetzt beim Thema Champions League natürlich mit #europaistdieantwort kontern, aber das lasse ich an dieser Stelle. Ich erwarte ein Spiel, das uns im besten Fall ganz stark an die späten, super engen Duelle der Heynckes-vs.-Klopp-Ära erinnern wird. Ich rechne deshalb damit, dass am Ende Kleinigkeiten den Unterschied ausmachen werden. Eine zu frühe Gelbe Karte für einen zentralen Mittelfeldspieler hier, das eine Hustle-Play, das einen gefährlichen Angriff einleitet dort. Am Ende gewinnt Liverpool 1:0 (Reverse-Jinx!).

Justin: Jinxen wird bestimmt mit Ansage funktionieren, Steffen … Der FC Bayern muss es schaffen, die Balance aus Offensive und Defensive zu finden. Das heißt konkret: Sie dürfen die Kompaktheit nicht verlieren, brauchen eine gute Raumaufteilung und sie müssen offensive Durchschlagskraft entwickeln, ohne Liverpool zu viele Räume in Umschaltmomenten zu bieten. Es ist eine Herkules-Aufgabe und ein Balanceakt auf dem Hochseil. Einerseits müssen sie zusehen, dass Lewandowski und Gnabry Räume erspielt und erlaufen werden. Andererseits dürfen sie bei Ballverlusten nicht die Halbräume und Flügel öffnen. Einerseits müssen James und Thiago die Lücke nach vorn besser schließen als im Hinspiel und andererseits werden Martínez und Hummels erneut eine große Leistung bringen müssen. Ich denke, dass die Bayern in dieser Saison nicht in der Lage sind, diesen Balanceakt zu meistern. Allerdings glaube ich, dass der mentale Faktor eine große Rolle spielt und Bayern ausnahmsweise mal wieder etwas Spielglück in einer großen Partie hat. Wir sehen deshalb ein ganz knappes 2:1 für die Münchner.

Martin: Nerven behalten wäre mal nicht schlecht. Das liest sich jetzt wie der trivialste Hinweis der Welt, aber die letzten drei Champions-League-Abgänge des FC Bayern gehen auf die Mütze von Müller (Elfmeter gegen Atlético), Vidal und Martínez (Platzverweise plus Elfmeter gegen Real) und Rafinha und Ulreich (Nerven verloren gegen Real). Und weil ich ja ein Freund von Dramaturgie bin, sage ich: Die Bayern kommen mit einem 1:0 nach Verlängerung weiter und ziehen dann im Viertelfinale City.