WM-Blog: Der Weltmeister fährt nach Hause

Justin Trenner 27.06.2018

Deutschland drückte, Deutschland wollte. Auch wenn viele Fans ihnen das direkt nach dem Spiel absprachen, war zu erkennen, dass die Bemühungen in Ballbesitz da waren. Mit etwas mehr Glück im Abschluss wäre die Diskussion sicherlich eine andere gewesen. Goretzka verpasste in der zweiten Halbzeit knapp. Auch Hummels hatte per Kopf eine Hundertprozentige vergeben.

Nach dem Spiel sagte der Innenverteidiger, dass er den machen müsse, dann wäre alles anders. Kurz vor Schluss wäre es das Ticket ins Achtelfinale gewesen. Doch es reichte eben nicht. Deutschland machte auf, Südkorea erzielte zwei Tore, Feierabend. Unter den Spielern gab es kaum Worte. Alle schienen leer und schockiert.

Gerade diejenigen, die das Turnier 2014 knapp verpassten, wirkten desillusioniert. Nach dieser neuerlichen Niederlage wird es viele Diskussionen geben. Der DFB muss sich in einigen Punkten selbst hinterfragen.

7 Dinge, die auffielen

1. Spielidee ohne Werkzeug?

In der Gruppe war die Rolle des Weltmeisters von Beginn an klar. Sie waren der Favorit, Mexiko, Schweden und Südkorea würden um Platz 2 kämpfen. Am Ende sind die Deutschen auch deshalb Letzter, weil sie nicht mehr das passende Werkzeug für ihre dominante Spielidee haben. Sie versuchten, ein Baumhaus aus Holz mit dem Vorschlaghammer zu errichten.

2010 hatte Joachim Löw das Glück, dass seine Mannschaft häufig Konter laufen konnte und nicht das gesamte Spiel allein gestalten musste. Die Defensivreihen der Underdogs waren weniger gut organisiert als jetzt, die Favoriten auf Augenhöhe. Das Team konnte kontern, schnell die Räume nutzen und das Land begeistern. 2014 sah das schon etwas anders aus. Damals war das DFB-Team dominanter, aber mit dem nötigen Rüstzeug ausgestattet. Im 4-3-3 konnte Löw auf fast jeder Position Spieler aufstellen, die für ein dominantes System ideal oder gut sind.

Mittlerweile hat sich der Fußball gewandelt. Im Klubfußball dominieren Mannschaften, die eine gute Mischung aus physischer Stärke und Passsicherheit aufbieten. Sie kombinieren Konterfußball mit Dominanz, legen Wert auf Umschaltmomente in beide Richtungen, können gegen Teams, die sich hinten reinstellen aber kreativ genug sein, um die tiefen Ketten zu knacken.

Deutschland fehlt für dominante Phasen derzeit zu viel. Das Positionsspiel ist in einigen Zonen zu schwach, die Ballzirkulation leidet darunter und Ballverluste führen zu Kontern, die wegen schlechter Positionierung nicht mehr verteidigt werden können. Mit dem Vorschlaghammer will man die Bretter zusammennageln, zerhämmert dabei aber immer wieder das Holz und fängt schließlich von vorn an. Gegen Mexiko offenbarte sich diese Schwäche gnadenlos. Im zweiten und im dritten Spiel gab es hinsichtlich der Rückwärtsbewegung zwar Fortschritte, doch auf Kosten der offensiven Durchschlagskraft.

2. Das Aufbauspiel

Im Detail muss hier das defensive Mittelfeld analysiert werden. Im Aufbauspiel fehlte oft eine Anspielstation, die nicht Toni Kroos heißt. Boateng und im letzten Spiel Süle waren dazu gezwungen, in den Raum vor sich zu stoßen, weil die jeweiligen Partner von Kroos nicht in der Lage waren, sich gut zu positionieren. Meist ging der Ball dann zu früh auf die Außenbahn. Szenen, die die Gegner leicht wegverteidigen konnten.

Es gab dieses eine Schema F, in dem die Innenverteidigung auf Kimmich spielte, der wiederum aber ebenfalls nicht vom rechten Achter/Sechser unterstützt wurde. Das war häufig Sami Khedira. Bei der WM 2014 war der noch etwas schneller im Kopf, wurde zudem von Philipp Lahm und dem Mittelfeld im 4-3-3 perfekt unterstützt. Auch wenn das Positionsspiel nie seine Stärke war, konnte das kompensiert werden und die Stärken des ehemaligen Stuttgarters wurden fokussiert.

Diesmal litten Toni Kroos und Joshua Kimmich aber sehr darunter, dass Khedira kein Bindeglied ist. Kimmich spielt höher als Lahm, ist nicht so dominant in seiner Positionierung im Mittelfeld. Das ist auch absolut okay so, muss dann aber von anderen Spielern aufgefangen werden.

Es fehlte in mehrfacher Hinsicht ein Schweinsteiger. Nicht unbedingt, weil der den absoluten Siegeswillen verkörperte und einer dieser ominösen „Typen“ war, sondern weil es zu seinen strategischen und sportlichen Qualitäten zählte, Offensive und Defensive zu verknüpfen, sich entscheidend in Räume zu bewegen, um seiner Mannschaft einen Rückhalt und Sicherheit zu bieten. Am ehesten war das in diesem Jahr gegeben, als Sebastian Rudy neben Kroos spielen durfte. Das waren die stärksten 20 Minuten der Deutschen im Turnier. Leider zu kurz.

Gerade an Kimmichs schwacher Leistung gegen Südkorea wurde die Ideenlosigkeit im Mittelfeld sehr deutlich. Mehrfach war er zu unnötigen Dribblings, riskanten Rückpässen oder schlechten Pässen ins Zentrum gezwungen, weil er vollkommen isoliert war. Nur wenn Özil in der ersten Halbzeit mal in den Halbraum rückte, fand Kimmich halbwegs gute Lösungen.

3. Läufe in die Tiefe

Was gegen Südkorea in der ersten Halbzeit gut war, waren die vertikalen Pässe in die Zone 14. Dort bot sich Mesut Özil mehrfach sehr gut an und konnte mit einer schnellen Körperdrehung eine gefährliche Situation mit dem Gesicht zum Tor kreieren. Allerdings fehlten ihm dann die Optionen im Zentrum.

Werner wich ständig auf die Außenbahn aus, Goretzka besetzte manchmal die Neun, ging dann aber nicht in die Tiefe und auch der sonst so starke Reus fand zu selten die Wege in das Zentrum des Strafraums. Özil blieben damit oft nur Pässe auf die Seite, die von Südkorea einfach gut verteidigt wurden.

In den vergangenen Turnieren war es häufig Thomas Müller, der die Wege in die Tiefe ging und entweder Platz für Mitspieler schuf oder selbst als Vollstrecker glänzte. Der Bayern-Stürmer spielte allerdings kein gutes Turnier und saß gegen Südkorea zu Recht auf der Bank.

Es fehlte den Deutschen also ein Stürmer oder Schattenstürmer, der die Wege geht, die Özil ohne Frage bespielen kann. Das machte Werner als Neuner viel zu selten. Sein Ausweichen war zwar oftmals sinnvoll, wurde aber nicht oft genug mit einem Spieler im Zentrum aufgefangen. Gefährlich wurde es nur über Flanken und das ist auf Dauer zu wenig. Als Özil dann in der zweiten Halbzeit gegen Südkorea immer tiefer agieren musste, verlor auch der seine Wirkungskraft und Deutschland konnte noch weniger aus dem Druck machen, den sie mit dem vielen Ballbesitz entfachten.

4. Löw muss sich selbst hinterfragen

Joachim Löw hatte bei der WM 2018 oft kein glückliches Händchen, obwohl er vor den Spielen jeweils nachvollziehbare Änderungen vornahm. Auch gegen Südkorea gelang es ihm aber nicht, die Mannschaft zu stabilisieren und für den nötigen Zug zum Tor in der Schlussphase zu sorgen. Aus dem vielen Ballbesitz entstanden zu wenig Chancen. Mit der Entscheidung, Thomas Müller für Goretzka zu bringen, schoss er sich eher selbst ins Bein. Nicht nur, dass Müller überhaupt keinen Mehrwert brachte, zusätzlich musste der beste offensive Spielmacher des Teams, Mesut Özil, auch noch in tiefere Zonen rücken. Deutschlands Aufbauspiel litt darunter und auch die Besetzung der Zone 14 war fortan kaum noch gegeben.

Der Weltmeister-Trainer muss sich in den nächsten Tagen selbst hinterfragen. Eine große Trainerdiskussion wäre trotzdem nicht gerechtfertigt. Löw hat in seiner Karriere oft für strategischen Wandel gesorgt und es ist ihm zuzutrauen, bis 2020 eine konkurrenzfähige Mannschaft ins Turnier zu schicken. Ob er dazu in der Lage ist, können er selbst und der DFB am besten beurteilen.

5. Rückendeckung? Selbst schuld!

Was aus dem Kroos-Interview nach dem Spiel gegen Schweden zu entnehmen war, war vor allem, dass die sich verändernde Stimmung im Land auch bis in die Nationalmannschaft getragen wurde. Zwar meinte der Mittelfeld-Stratege vor allem einige Medien, die sich seiner Ansicht nach über ein vorzeitiges Ausscheiden gefreut hätten. Doch zwischen den Zeilen drang auch durch, dass Rückendeckung sehr wichtig sein kann.

Zwischen 2006 und 2014 profitierte Deutschland durchaus von einer Stimmung im eigenen Land, die sie durch die Turniere trug. Die Menschen waren begeistert, gefesselt, litten mit und standen größtenteils hinter einem Team, das sich nach außen meist sympathisch und nahbar präsentierte.

Nach dem WM-Triumph folgte eine deutliche Überhöhung des eigenen Stellenwerts. Die Bezeichnung Bierhoffs, dass der DFB die vierte Macht im Staat sei, ist nur ein Beispiel der Selbstüberschätzung. „Die Mannschaft“ entwickelte sich seither zu einer sich von den Fans immer mehr distanzierenden Marketing-Truppe. Bierhoff und der DFB kannten keine Grenzen mehr. Die Marketingmaschine war nicht zu stoppen. Aus dem einst wirklich einflussreichen DFB-Team, das Menschen aus allen Kulturen zusammenbrachte, wurde ein sich selbst überschätzender Verband, der es den Fans schwer macht, sich mit einer tollen Mannschaft zu identifizieren.

Es wurde an vielen Stellen ausgiebig diskutiert, aber das dürfte hauptsächlich dazu geführt haben, dass sich tatsächlich viele Deutsche am Mittwoch über das Ausscheiden freuten. In den nächsten Jahren liegt es am DFB, sein eigenes Image zu verbessern. Nur dann kann bald wieder eine Stimmung im Land entstehen, wie sie zwischen 2006 und 2014 vorhanden war. Allein deshalb könnte das frühe Ausscheiden vielleicht auch mal ganz gut sein für „Die Mannschaft“.

Oliver Bierhoff würde gut daran tun, seine Strategie zu überdenken. Weniger ist manchmal mehr und auch die Besten sollten sich mal zurücknehmen.
(Foto: Alexander Hassenstein / Getty Images)

6. Umbruch? Zum Teil!

Das Ausscheiden der Mannschaft wird vielerorts zum Drama stilisiert. Tatsächlich liegen darin aber große Chancen. Die Enttäuschung nun zur Katastrophe zu machen, wäre kein guter Ansatz. Dafür sind die Baustellen einfach trotz schwacher Leistungen nicht groß genug.

Klar, das fehlende Selbstverständnis und die nicht vorhandene Kreativität in eigenem Ballbesitz sind schlimm genug. Letztendlich zeigen aber die Struktur des Kaders und auch die Namen der Daheimgebliebenen, dass die Zukunft immer noch groß werden kann.

Allerdings nur, wenn die richtigen Schlüsse gezogen werden. Wenn unter den älteren Spielern knallhart analysiert wird, wer dem Team in Zukunft noch helfen kann und wer nicht. Selbst die Besten ruhen sich manchmal eben doch aus und einige von ihnen haben ihre beste Zeit hinter sich oder passen nicht mehr zur Spielweise. Den jüngeren Spielern sollte schon ab diesem Jahr die Chance gegeben werden, sich zu beweisen und die nächsten Schritte zu gehen. Als Schweinsteiger und Lahm 2004 in der Vorrunde der Europameisterschaft ausschieden, waren sie die Hoffnungsträger einer ganzen Fußball-Nation.

Ganz so dramatisch ist es diesmal nicht, aber Süle, Kimmich und auch Spieler wie Brandt werden die Erfahrungen mitnehmen, im besten Fall daraus lernen und im nächsten Turnier umso wichtiger für das Team sein.

Trotzdem wäre ein kompletter Umbruch kein richtiger Ansatz. Es muss nach dieser Enttäuschung nicht jeder Stein umgedreht werden. Oft heißt es, dass die Wahrheit auf dem Platz liegt. Dort fehlten entscheidende Meter, aber vor allem spielerische Bindeglieder für die Säulen des Teams. Eine neuerliche Führungsspieler-Debatte wäre weniger zielführend als eine strategisch-sportliche Debatte und die erfahrenen Spieler nun allesamt auszutauschen, ergäbe keinen Sinn. Es braucht vielmehr den richtigen Hammer, um das Baumhaus mit den bereits vorhanden Nägeln vernünftig aufbauen zu können.

7. Kompliment an die drei Gegner

Was in vielen Analysen zu kurz kommt, soll im letzten Punkt seinen berechtigten Platz bekommen. Wenn die Besten sich trotz ihres Mottos mal ausruhen, müssen die Gegner erstmal da sein. Und das waren sie allesamt. Mexiko, Schweden und Südkorea haben die Schwächen der deutschen Mannschaft analysiert und auf unterschiedliche Art und Weise bespielt.

Mexiko setzte auf ein variables Pressing, das Kroos und Hummels aus dem Spiel nahm. Sie wussten um Khediras Schwäche in Ballbesitz und dass Kimmich dementsprechend isoliert werden kann. Über genau diese Zone konnten sie dem Weltmeister mit extrem schnellen Kontern einen Denkzettel verpassen. Dieser Denkzettel hatte auch psychische Folgen, die die Deutschen verunsicherten.

Schweden interpretierte den eigenen Ansatz gegen Deutschlands Defizite defensiver und tiefer, aber ebenfalls fast erfolgreich. Das Spiel hätte von Anfang an auch anders laufen können, wenn die Löw-Elf das frühe Tor erzielt. Letztendlich haben aber auch die Skandinavier einen guten Job in der Defensive gemacht, weil sie den Weltmeister auf die Flügel zwangen und es so nur wenige gut vorgetragene Angriffe gab.

Südkorea setzte in der tiefen Verteidigung noch ein Schwierigkeitslevel für Deutschland oben drauf. Die Sechser ließen sich situativ sehr gut in die Abwehrkette fallen, um in der Breite gut zu verteidigen, stießen im richtigen Augenblick aber auch nach vorn, um den Gegner früh auf die Außenbahn zu lenken und gleichzeitig das Zentrum zu verteidigen. Ein paar Mal fand Özil den Weg zwischen die Linien, doch die gefährlichen Zonen vorm südkoreanischen Tor blieben auch ihm verschlossen.

Deutschland war in allen drei Spielen auf individuelle Qualität angewiesen, weil sie als Team keine Lösung fanden. Allerdings gegen drei sehr gut organisierte Mannschaften, die aufzeigten, dass Qualität nicht alles ist. Chapeau, Mexiko, Schweden und Südkorea!

Ausblick für den FC Bayern

Für die Bayern hingegen gibt es auch positive Perspektiven. Die Spieler werden schneller wieder im Training sein und mit dem neuen Trainer arbeiten können. Trotzdem wäre der Klub gut beraten, den Jungs eine ausreichend lange Pause zu geben. Wer Thomas Müller, Mats Hummels oder auch Joshua Kimmich nach der Niederlage gegen Südkorea sah, der sah in leere, fassungslose Gesichter. Hummels fand im Interview zunächst kaum Worte.

Das erneute Champions-League-Aus gegen Real Madrid, die überraschende Pokal-Niederlage gegen Eintracht Frankfurt und das frühe Aus bei der WM sollten nicht unterschätzt werden. Es wird daher wichtig sein, dass die Bayern-Spieler ihren Kopf freibekommen und dann beim Klub wieder voll angreifen. Aus Niederlagen können besonders dann große Kräfte entstehen, wenn der Umgang damit zielführend ist. Das weiß kaum ein Klub so gut wie der FC Bayern.