Miasanrot-Awards: Abgang der Saison 2020/2021

Louisa Trenner 27.05.2021

Was hat den Flick-Fußball so besonders gemacht? Damit soll sich diese Würdigung des Erfolgstrainers Hansi Flick beschäftigen. Mit reinem Fokus auf die Komponente, die für die Bewertung eines Trainers am entscheidendsten ist: Die alltägliche Arbeit auf dem Platz.

Kompromisslosigkeit und hohes Angriffspressing

Flicks Spielstil war ausgerichtet auf die Maximierung des offensiven Potenzials. Markant war dabei das hohe Angriffspressing mit extrem hoch pressenden Außenverteidigern, bei dem die gegnerischen Aufbaulinien in einer Kompromisslosigkeit angelaufen und unter Druck gesetzt wurden, die ihresgleichen sucht. Ziel war die Balleroberung in einer möglichst aussichtsreichen Position, bestenfalls weit in der gegnerischen Hälfte und damit einhergehend mit möglichst kurzem Weg zum gegnerischen Tor. Diese Spielidee kommt einem Prinzip entgegen, das Flick konsequent fordert: Zielgerichtetes Spiel in Ballbesitz. Da das Ziel – Tore erzielen – offensiv belegt ist, schien der erste Gedanke eines jeden Spielers zunächst vorwärtsgerichtet zu sein: Gibt es eine Anspielstation in der Tiefe oder zwischen den Linien? Besteht die Option eines vertikalen Passes, um eine Linie zu überspielen? Kann ich eine Linie überdribbeln? Wie kann ich dabei helfen, die nächste Chance herauszuspielen?

Offensiver Fokus

Die Kompromisslosigkeit des Flick-Spiels zeigt sich nicht nur in der Umsetzung durch die Spieler auf dem Platz, sondern auch darin, dass er sich ganz klar für die Offensive als Fokus entschieden hat. Allen Kritiker:innen zum Trotz blieb er bei dieser Linie, obwohl die defensive Anfälligkeit der Bayern (mit 44 Gegentoren am Saisonende) bereits zu Beginn der Rückrunde nicht mehr zu leugnen war. Das hohe Angriffspressing brachte mit sich, dass auch die letzte Linie häufig an der Mittellinie und phasenweise sogar weit in der gegnerischen Hälfte zu finden war. Durch die hoch pressenden Außenverteidiger bestand die Restverteidigung nur noch aus den beiden Innenverteidigern. Konnte der Gegner sich aus dem Angriffspressing der Bayern lösen, kam es mehrfach zu Situationen, in denen die dünn besetzte Restverteidigung mit einem langen Ball ausgehebelt wurde oder anfällig für mitunter naiv wirkende Kontersituationen war. 

Warum Flicks Beharren auf der offensiven Ausrichtung trotz der defensiven Anfälligkeit nicht auf Sturheit zurückzuführen sein muss, sondern im Gegenteil für ein Team wie die Bayern sehr sinnvoll sein kann, haben wir in diesem Artikel ausführlich beleuchtet. Kurz zusammengefasst: Fußball ist ein low scoring game – ein Tor kann häufig entscheidend für den Spielausgang sein. Gleichzeitig ist Fußball extrem zufallsabhängig. Kein:e Trainer:in der Welt ist in der Lage, alle Unwägbarkeiten vorherzusehen und zu kontrollieren. Zu viele Faktoren spielen in einem komplexen Sportspiel, das gleichzeitig einer hohen Dynamik unterliegt, eine Rolle.  

„Vor dem […]skizzierten Hintergrund der Zufallsabhängigkeit eines Fußballspiels und seiner Natur als low scoring game ist es aus Sicht des stärkeren Teams immer sinnvoller, so viele Tore wie möglich zu schießen, um dem Zufallsvorteil des schwächeren Teams bei niedrigen Scorelines entgegenzuwirken, auch wenn es dafür defensive Zusatzrisiken eingeht. Ein Spielstand von 0:0 während des Spiels ist immer überproportional vorteilhaft für das schwächere Team, weil es jederzeit durch Glück das 1:0 schießen und das Spiel gewinnen kann. Das wirksamste Gegenmittel des stärkeren Teams dagegen ist es, in jeder Partie so viele Tore zu erzielen, dass selbst massives Glück des Gegners (oder eigenes Pech) am letztendlichen Spielausgang nichts mehr ändern kann.“ (Alexander)

Positionsspiel

Das Positionsspiel unter Flick war zwar nicht so detailliert durchgeplant wie noch unter Guardiola. Er brachte aber einen eigenen Ansatz mit, der auf die Stärken der Spieler abgestimmt war. Er setzte im Angriffsdrittel auf eine konsequente Besetzung der Flügel, der Halbräume und des Zentrums, woraus sich häufig eine 5er-Konstellation in der Offensivreihe ergab, in der die Positionen immer besetzt waren – egal, von welchem Spieler. Aus dem 4-2-3-1 heraus wurden die Flügel häufig von den Halbraumspielern (Coman/Gnabry) besetzt. Die Halbräume wiederum übernahmen ein 6er (Kimmich/Goretzka) und der 10er (Müller). In zentraler Position agierte meist Lewandowski. Soweit die Ausgangspositionen, die von den genannten 5 Spielern (oder ihren Backups) dynamisch und aufeinander abgestimmt besetzt wurden. 

„Als das Spiel der Flick-Bayern auf dem Höhepunkt war, waren diese Läufe perfekt aufeinander abgestimmt. Während einige Spieler sich fallen ließen, gingen andere in die Tiefe, um den Raum zwischen den Linien auseinanderzuziehen. Als Anschlussaktion boten sich meist ein Klatscher auf den nachrückenden Sechser, ein direkter Ball auf den Flügel oder ein Aufdrehen mit anschließendem Dribbling oder Kombinationsspiel an.“ (Justin)

Durch das dynamische Positionsspiel konnten gute Lösungen im Spielaufbau gefunden werden, die häufig zu schneller und zielgerichteter Torgefahr führten. Was Flick im Hinblick auf den Spielaufbau forderte, waren situationsangepasste Entscheidungen und ein sicheres Passspiel. Die Entscheidungen (Dribbling vs. Pass, Spiel beruhigen vs. Tempo machen) überließ er den Spielern und ihren individuellen Fähigkeiten. Flick strahlte eine klare Spielidee aus, in deren Rahmen die Spieler sich zu bewegen hatten. Gleichzeitig schien sein Vertrauen in die Spieler auf dem Platz genug Raum zu lassen, um deren individuelle Fähigkeiten entfalten zu können.  

Kollektiv-Fußball statt Individualfußball

Die Bayern haben unglaublich gute Fußballer in ihren Reihen – allen voran Robert Lewandowski, der in dieser Saison das Kunststück vollbrachte, 41 Tore zu erzielen und sich damit die Torjägerkanone zu sichern sowie den bis dato als unangreifbar geltenden Rekord von Gerd Müller zu brechen. Flick hat es geschafft, dass die Individualisten ihre Fähigkeiten gewinnbringend einsetzen konnten und dennoch voll im Sinne des Teams agieren. Auch hier findet sich ein Grund, weshalb es so wichtig war, dass Flick am dynamischen Positionsspiel in der Offensive festgehalten hat. Hätte er das Spiel statischer ausgerichtet, hätte der Spielstil schnell vom Kollektiven ins Individuelle kippen können. Die Notwendigkeit, sich gut abzustimmen, eine äußerst feine Wahrnehmung für minimale Bewegungen der Mitspieler zu haben, ist erst durch die Dynamik gegeben. Dadurch sind alle Spieler gezwungen, sich ins System einzubringen. Auch das Angriffspressing erfordert das Agieren als Team. Was passiert, wenn einer nicht mitmacht oder nur Bruchteile einer Sekunde zu spät kommt, war teilweise zu Beginn der Rückrunde zu sehen, als die Gegentore aufgrund einfacher langer Bälle und Kontersituationen nach missglücktem Pressing stark zunahmen. Flick ist gelungen, was Niko Kovač nicht geschafft hat: Er hat die individuelle Qualität seiner Spieler in ein System gegossen, das als Team und nicht als Ansammlung von Einzelspielern agierte. 

Abschließende Einordnung: Zu viel des Guten? 

Wie eingangs beschrieben erfordert der Flick-Fußball aber eine sehr hohe Intensität und verlangt den Spielern körperlich und mental viel ab. Die Laufleistung des Teams mag gering gewesen sein (Rang 17), die Intensität der Aktionen im Angriffspressing dagegen umso höher (2019/20: 264 Sprints pro Spiel, 2020/21: 242 Sprints pro Spiel – beides jeweils weit über Ligadurchschnitt). Mental erforderte die Kompromisslosigkeit im Pressingverhalten eine ständige Aufmerksamkeit und damit einhergehend eine sehr gute Wahrnehmung potenzieller Pressingauslöser, des Anlaufverhaltens von Mitspielern und der dynamischen Positionierung der Gegenspieler. 

In der Saison 2019/20 lief nicht zuletzt aufgrund der Corona-Pausen viel für die Bayern. In den entscheidenden Phasen der Saison konnte Flick mit einem ausgeruhten, fitten Team planen. Sein Spielstil konnte deshalb auf hohem Niveau und konstant von den Spielern auf den Platz gebracht werden. Nach Abschluss der Saison 2020/21 stellt sich vor dem Hintergrund der anfälligen Defensive und der Art der Anfälligkeit (häufig nach misslungenem Angriffspressing durch lange Bälle) die Frage, ob Flicks Spielstil nicht phasenweise zu intensiv für eine lange Saison war. Diese Frage wird aufgrund der Komplexität im Zusammenwirken aller Einflussfaktoren nicht abschließend beantwortet werden können. Kaderplanung, fehlende Sommervorbereitung, erschwerte Integration von Neuzugängen und ungünstige Verletzungen sind da nur wenige von vielen Beispielen. Kein Spielstil ist perfekt – es wird immer Pros und Contras geben. 

Ich werde den Flick-Power-Fußball vermissen. Letztendlich würde ich den kompromisslosen Offensivfokus mit defensiven Schwächen jederzeit wieder einem gegenteiligen Ansatz vorziehen, der hinten für Stabilität sorgt, dafür aber das Spektakel im Angriff vermissen lässt. Oder, wie Alexander jüngst schrieb: „We’ll not see this kind of football again for a long time. The clarity of concept, the single-minded focus, the intensity, the unconditional front foot football, the dominance.”