Einwurf: Vernachlässigt Hansi Flick die Defensive?
Defensive Stabilität oder offensive Durchschlagskraft? Entweder oder.
Ich gehe von der Prämisse aus, dass ein Trainer nicht gleichzeitig die offensive und defensive Stärke seines Teams maximieren kann. Die Perfektionierung des einen Aspekts geht immer auf Kosten der Möglichkeit, den anderen ebenfalls zu perfektionieren. There is no such thing as a free lunch. Würde sich ein Trainer für einen Ansatz in der Mitte entscheiden und beides zu optimieren versuchen, dürfte er in keinem der beiden Bereiche hohe Qualität erreichen. Es gibt harte Grenzen der Variabilität, die sich nicht so einfach überwinden lassen. Die Elastizität der Trainingsgestaltung ist nicht unendlich. Jede Minute Training, die in die Defensive investiert wird, steht nicht für die Offensive zur Verfügung und umgekehrt. Auch gibt es Rüstkosten der Umstellung. Jeder Kontextwechsel vom Training der Defensive zum Training der Offensive und vice versa ist nicht vollständig friktionslos. Jeder Wechsel ist verbunden mit neuen Trainingsformen, neuen Abläufen et cetera, die Spieler müssen sich umstellen, gedanklich wie inhaltlich. Ähnliches gilt für die Ausrichtung im Spiel. Ein Spielsystem kann entweder die Offensive oder die Defensive betonen, aber nie beides gleichzeitig. Wenn die Verteidiger am Mittelkreis und die Mittelfeldspieler im letzten Drittel stehen um das Gegenpressing effektiver zu machen, können sie nicht gleichzeitig am eigenen Tor den Bus parken. Wer extrem offensiv aufgestellt ist, ist zwangsläufig defensiv offen.
Die zwei Besonderheiten des Fußballspiels: low scoring game und Zufallsabhängigkeit
Aber ist defensive Offenheit zwangsläufig ein Problem? Fußball ist ein low scoring game, ein Tor mehr oder weniger auf einer der beiden Seiten kann für den Ausgang des Spiels oft den Unterschied bedeuten. Einzelne Situationen in einem Spiel haben dementsprechend systemimmanent ein hohes Gewicht beim Zustandekommen des Endergebnisses. Gleichzeitig ist Fußball ein stark zufallsabhängiges Spiel, in dem manchmal Millimeter oder Sekundenbruchteile über Tor oder nicht Tor entscheiden. Für jedes Team, auch das beste der Welt, ist das Risiko eines plötzlichen Elfmeters für den Gegner, das Ausrutschen eines Verteidigers kurz vor dem Torabschluss eines Gegenspielers oder das Risiko eines unglücklich Gegentors nach einem abgefälschten Schuss aus der zweiten Reihe niemals vollständig eliminierbar. Das heißt, dass selbst wenn das schwächste denkbare Team gegen das stärkste denkbare Team spielt, das schwache immer eine Chance hat, das Spiel durch einen glücklichen Zufall mit 1:0 oder 2:1 zu gewinnen, wenn das starke Team es verpasst, seine Tore zu machen.
Angenommen, die Bayern sind in 95% ihrer Spiele das nominell stärkere Team und das oft sogar deutlich. Dann wäre es aus Sicht von Hansi Flick mindestens fahrlässig, wenn nicht vorsätzlich unvernünftig, die defensive Stabilität seines Teams auf Kosten der offensiven Durchschlagskraft zu erhöhen, wenn er die langfristige Erfolgswahrscheinlichkeit seiner Mannschaft maximieren möchte. Denn vor dem oben skizzierten Hintergrund der Zufallsabhängigkeit eines Fußballspiels und seiner Natur als low scoring game ist es aus Sicht des stärkeren Teams immer sinnvoller, so viele Tore wie möglich zu schießen, um dem Zufallsvorteil des schwächeren Teams bei niedrigen Scorelines entgegenzuwirken, auch wenn es dafür defensive Zusatzrisiken eingeht. Ein Spielstand von 0:0 während des Spiels ist immer überproportional vorteilhaft für das schwächere Team, weil es jederzeit durch Glück dass 1:0 schießen und das Spiel gewinnen kann. Das wirksamste Gegenmittel des stärkeren Teams dagegen ist es, in jeder Partie so viele Tore zu erzielen, dass selbst massives Glück des Gegners (oder eigenes Pech) am letztendlichen Spielausgang nichts mehr ändern kann – selbst wenn diese Betonung der Offensive nur auf Kosten der defensiven Stabilität erfolgen kann. Ein Tor, beispielsweise durch einen ungerechten Elfmeter, kann der Gegner immer schießen, vielleicht sogar manchmal zwei, aber die Wahrscheinlichkeit, dass ihm das gelingt, nimmt mit jedem weiteren Tor rapide ab. Aus Sicht des stärkeren Teams ist es folglich rationaler, einen Spielausgang mit drei eigenen Toren und ggf. zwei Gegentoren anzustreben als ein 1:0.
Ein offensiverer Flick ist ein erfolgreicherer Flick
Für Flick und seine Bayern bedeutet das also, dass er genau die richtige Strategie verfolgt: Maximierung des offensiven Potentials seines Teams zur Erzielung so vieler Tore wie möglich um sich damit gegen die Zufallsabhängigkeit und low scoring nature des Fußballsports soweit wie möglich zu feien. Flick wäre für seinen Ansatz, einen offensiven Hurrastil auf Kosten defensiver Absicherung zu verfolgen, nur dann zu kritisieren, wenn er Trainer eines in der Mehrzahl seiner Spiele schwächeren Teams wäre. Dann wäre es strategisch sinnvoller, hinten stets Beton anzurühren und darauf zu hoffen, dass vorne mit etwas Glück einer reinfällt, sich also die Zufallsabhängigkeit und die low scoring nature des Fußballspiels zunutze zu machen. Aber die Bayern sind ja so gut wie nie das schwächere Team. Folglich ist eine Ausrichtung – eine Spielphilosophie -, die die Maximierung des Offensivpotenzials anstrebt, langfristig die erfolgversprechendste. Unabhängig davon, ob Hansi Flick diesen Gedankengang genauso durchdacht hat, wie ich ihn hier skizziere oder intuitiv handelt, Flick „is playing the percentages“ und macht das genau richtig so. An der grundlegenden Wahrscheinlichkeitsrechnung kann auch ein statistischer Outlier wie das Spiel gegen PSG nichts ändern, auch wenn er ein so unglücklicher und schmerzhafter ist wie eine 2:3 Heimspielniederlage im Viertelfinale der Champions League.