Einwurf: Vernachlässigt Hansi Flick die Defensive?

Alexander Trenner 10.04.2021

Defensive Stabilität oder offensive Durchschlagskraft? Entweder oder.

Ich gehe von der Prämisse aus, dass ein Trainer nicht gleichzeitig die offensive und defensive Stärke seines Teams maximieren kann. Die Perfektionierung des einen Aspekts geht immer auf Kosten der Möglichkeit, den anderen ebenfalls zu perfektionieren. There is no such thing as a free lunch. Würde sich ein Trainer für einen Ansatz in der Mitte entscheiden und beides zu optimieren versuchen, dürfte er in keinem der beiden Bereiche hohe Qualität erreichen. Es gibt harte Grenzen der Variabilität, die sich nicht so einfach überwinden lassen. Die Elastizität der Trainingsgestaltung ist nicht unendlich. Jede Minute Training, die in die Defensive investiert wird, steht nicht für die Offensive zur Verfügung und umgekehrt. Auch gibt es Rüstkosten der Umstellung. Jeder Kontextwechsel vom Training der Defensive zum Training der Offensive und vice versa ist nicht vollständig friktionslos. Jeder Wechsel ist verbunden mit neuen Trainingsformen, neuen Abläufen et cetera, die Spieler müssen sich umstellen, gedanklich wie inhaltlich. Ähnliches gilt für die Ausrichtung im Spiel. Ein Spielsystem kann entweder die Offensive oder die Defensive betonen, aber nie beides gleichzeitig. Wenn die Verteidiger am Mittelkreis und die Mittelfeldspieler im letzten Drittel stehen um das Gegenpressing effektiver zu machen, können sie nicht gleichzeitig am eigenen Tor den Bus parken. Wer extrem offensiv aufgestellt ist, ist zwangsläufig defensiv offen.

Die zwei Besonderheiten des Fußballspiels: low scoring game und Zufallsabhängigkeit

Aber ist defensive Offenheit zwangsläufig ein Problem? Fußball ist ein low scoring game, ein Tor mehr oder weniger auf einer der beiden Seiten kann für den Ausgang des Spiels oft den Unterschied bedeuten. Einzelne Situationen in einem Spiel haben dementsprechend systemimmanent ein hohes Gewicht beim Zustandekommen des Endergebnisses. Gleichzeitig ist Fußball ein stark zufallsabhängiges Spiel, in dem manchmal Millimeter oder Sekundenbruchteile über Tor oder nicht Tor entscheiden. Für jedes Team, auch das beste der Welt, ist das Risiko eines plötzlichen Elfmeters für den Gegner, das Ausrutschen eines Verteidigers kurz vor dem Torabschluss eines Gegenspielers oder das Risiko eines unglücklich Gegentors nach einem abgefälschten Schuss aus der zweiten Reihe niemals vollständig eliminierbar. Das heißt, dass selbst wenn das schwächste denkbare Team gegen das stärkste denkbare Team spielt, das schwache immer eine Chance hat, das Spiel durch einen glücklichen Zufall mit 1:0 oder 2:1 zu gewinnen, wenn das starke Team es verpasst, seine Tore zu machen.

Angenommen, die Bayern sind in 95% ihrer Spiele das nominell stärkere Team und das oft sogar deutlich. Dann wäre es aus Sicht von Hansi Flick mindestens fahrlässig, wenn nicht vorsätzlich unvernünftig, die defensive Stabilität seines Teams auf Kosten der offensiven Durchschlagskraft zu erhöhen, wenn er die langfristige Erfolgswahrscheinlichkeit seiner Mannschaft maximieren möchte. Denn vor dem oben skizzierten Hintergrund der Zufallsabhängigkeit eines Fußballspiels und seiner Natur als low scoring game ist es aus Sicht des stärkeren Teams immer sinnvoller, so viele Tore wie möglich zu schießen, um dem Zufallsvorteil des schwächeren Teams bei niedrigen Scorelines entgegenzuwirken, auch wenn es dafür defensive Zusatzrisiken eingeht. Ein Spielstand von 0:0 während des Spiels ist immer überproportional vorteilhaft für das schwächere Team, weil es jederzeit durch Glück dass 1:0 schießen und das Spiel gewinnen kann. Das wirksamste Gegenmittel des stärkeren Teams dagegen ist es, in jeder Partie so viele Tore zu erzielen, dass selbst massives Glück des Gegners (oder eigenes Pech) am letztendlichen Spielausgang nichts mehr ändern kann – selbst wenn diese Betonung der Offensive nur auf Kosten der defensiven Stabilität erfolgen kann. Ein Tor, beispielsweise durch einen ungerechten Elfmeter, kann der Gegner immer schießen, vielleicht sogar manchmal zwei, aber die Wahrscheinlichkeit, dass ihm das gelingt, nimmt mit jedem weiteren Tor rapide ab. Aus Sicht des stärkeren Teams ist es folglich rationaler, einen Spielausgang mit drei eigenen Toren und ggf. zwei Gegentoren anzustreben als ein 1:0. 

Ein offensiverer Flick ist ein erfolgreicherer Flick

Für Flick und seine Bayern bedeutet das also, dass er genau die richtige Strategie verfolgt: Maximierung des offensiven Potentials seines Teams zur Erzielung so vieler Tore wie möglich um sich damit gegen die Zufallsabhängigkeit und low scoring nature des Fußballsports soweit wie möglich zu feien. Flick wäre für seinen Ansatz, einen offensiven Hurrastil auf Kosten defensiver Absicherung zu verfolgen, nur dann zu kritisieren, wenn er Trainer eines in der Mehrzahl seiner Spiele schwächeren Teams wäre. Dann wäre es strategisch sinnvoller, hinten stets Beton anzurühren und darauf zu hoffen, dass vorne mit etwas Glück einer reinfällt, sich also die Zufallsabhängigkeit und die low scoring nature des Fußballspiels zunutze zu machen. Aber die Bayern sind ja so gut wie nie das schwächere Team. Folglich ist eine Ausrichtung – eine Spielphilosophie -, die die Maximierung des Offensivpotenzials anstrebt, langfristig die erfolgversprechendste. Unabhängig davon, ob Hansi Flick diesen Gedankengang genauso durchdacht hat, wie ich ihn hier skizziere oder intuitiv handelt, Flick „is playing the percentages“ und macht das genau richtig so. An der grundlegenden Wahrscheinlichkeitsrechnung kann auch ein statistischer Outlier wie das Spiel gegen PSG nichts ändern, auch wenn er ein so unglücklicher und schmerzhafter ist wie eine 2:3 Heimspielniederlage im Viertelfinale der Champions League.

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  1. Sehr schöner Beitrag – vielen Dank dafür!

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    1. Danke lieber Herri! Freut mich, dass dir mein Text gefallen hat.

  2. Ja, kann man so sehen. Aber wenn jetzt in fast jedem Spiel einem Rücksstand hinterherglaufen wurde und selbst gegen eindeutig schwächere Mannschaften Punkte liegen gelassen wurden, man insgesamt mehr als 50 Gegentore die Saison kassiert hat, dann ist dieses Konstrukt insgesamt wohl doch zu labil, um diese „low-Scoring-Varianzen“ wirksam auszugleichen. Das ist nicht playing with percentages, sondern ein ständiger Ritt auf der Rasierklinge.
    Anders herum wird ein Schuh draus.
    Der Gegner benötigt extrem WENIG Chancen gegen uns, um uns zu schlagen. Deshalb scheidet man gegen Holstein Kiel aus, wahrscheinlich auch gegen PSG und bei den momentanen Verletzungssorgen wirds sogar nochmal in der Meisterschaft spannend.

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    1. Na ja, die Bayern werden diese Saison wahrscheinlich wieder komfortabel Meister und bei ca. 4,5 zu 1,5 xG zugunsten der Bayern im Viertelfinale gegen PSG kann man bei einem Ergebnis von 2:3 eigentlich nur von Pech sprechen. In 90 von 100 Fällen gewinnen die Bayern das Spiel, aber in 10 nun einmal nicht. In einem Fußballspiel ist ja nie etwas sicher, sondern immer nur mehr oder weniger wahrscheinlich. Und auch ein Ausscheiden gegen Kiel im DFB-Pokal nach einem Gegentor tief in der Nachspielzeit ist statistisch gesehen nun leider einmal drin. Ich würde daraus nicht zuviel über die fundamentale Verfassung der Bayern gegenwärtig ableiten.

      1. „die Bayern werden diese Saison wahrscheinlich wieder komfortabel Meister“
        Deine Ruhe möchte ich haben, ich bin da nicht so entspannt.

      2. @wohlfahrt:

        Sollten wir gg. PSG ausscheiden und die Verletzten kehren erwartungsgemäß danach der Reihe nach retour, habe ich punkto Meisterschaft auch wenig Bedenken.

  3. Danke, der Satz Offensive gewinnt Spiele, Defensive Titel gilt nciht für den Fußball. Wenn ein Stil zu Siegen führt , führt er zwangsläufig zu Titeln. Offensive gewinnt Spiele und wer viele Spiele gewinnt, gewinnt Titel ist schon rein von der Logik richtig. Es wurde oft darauf verwiesen, dass dieser Satz aus einer anderen Sportart stammt. Schon allein durch die 3 Punkte Regelung für einen Sieg ist der Offensiv Fußball erfolgswahrscheinlicher. Alle langfristig erfolgreichen Teams waren Offensivteams. Die Überschätzung von Defensivteams ist ein Wahrnehmungsbias. Unwahrscheinliche Ereignisse werden überbewertet, wenn sie dann doch mal eintreten. Sie brennen sich ein. Rehagel mauerte zum Europatitel, wieviele Titel hat Griechenland danach denn noch mit diesem Stil gewonnen?. Chelsea ermauerte die Cl, dito. Die jeweiligen Ereignisse waren statistische Ausreißer, die rein dem Glück geschuldet waren. Am besten war ,dass Chelsea damals noch eine gezielte Taktik unterstellt wurde, sie hätten nur Schüsse mit schlechtem Winkel zugelassen etc., nein sie hatten schlicht nicht mehr drauf und wären bei mehrmaliger Wiederholung des Spiels signifikant erfolgloser gewesen wie Bayern, ebenso Atletico gegen Bayern, oder jetzt PSG. Das Eintreten des statistisch unwahrscheinlicheren wird dann schöngeredet mit Kaltschnäuzigkeit,Erfahrung etc. Nein PSG hatte einfach Glück, schlicht und einfach, ist im Fußball manchmal so. So wie wir im CL Finale in den ersten Minuten Glück hatten. Schöner Nebeneffekt: es ist auch zum Zuschauen angenehmer. Auch psychologisch ist Offensivfußball wichtig: Jede Torchance pusht nochmal, wohingegen der Gegner mit jeder erleideten Torchance mehr Stress bekommt. Allerdings , ist meine Beobachtung anhand von Pep spielen dieser Effekt kippt, wenn zu viele Chancen versemmelt wurden, dann erzeugt jede nicht genutzte Chance Stress, eine Art Verzweiflung, wir sind doch viel besser und er will einfach nicht rein. Passt zu einer Statistik die ich mal gelesen habe, dass bis zu einer bestimmten Anzahl von vergebenen Torchancen die Wahrscheinlichkeit, dass die nächste zu einem Tor führt gleich bleibt bzw. sogar steigt,ab einem bestimmten Peak aber sinkt. Denke es hängt auch mit der Erhöhung der Selbstwirksamkeit des Torhüters zusammen, man schießt ihn mit ungenutzten Chancen sozusagen in den Unbesiegbarkeitsflow.

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    1. Würde ich so nicht unterschreiben.
      Der Kicker hatte letzte Woche mal einen Vergleich. Alle Meistertitel seit 1963, oder so. Hab es nur überflogen.
      Beste Offensive vs. Beste Defensive.
      Beste Defensive hatte 7 Titel mehr.

      Und in KO-Wettbewerben ist eine schwache Defensive sowieso ne ganz schlechte Geschichte.

      Bei dem Thema muss ich immer an Jupp Heynckes denken:
      „Der Sturm gewinnt Spiele, die Abwehr Meisterschaften.“

      1. @Tobi13: Ja, ex post ist das sicher richtig. Die Mannschaften, die im Laufe einer Saison am wenigsten Gegentore kassiert haben, werden sicherlich in der Regel besser dastehen als die Konkurrenz. Aber ex ante als Plan darauf zu setzen, möglichst wenige Gegentore zu erhalten und darüber meine offensive Durchschlagskraft zu opfern, würde ich aus den von mir geschilderten Gründen nicht, vorausgesetzt, mein Team ist in jeder Paarung in der Regel der Favorit.

      2. @Alexander:
        Ich denke man muss eine gesunde Mischung finden.
        Da bin ich auch bei Heynckes:

         „Natürlich bin ich ein Trainer, der offensiv denkt. Wir können sehr kreativ Fußball spielen, aber der FC Bayern muss wieder eine bessere Balance zwischen Offensive und Defensive finden. Wenn eine Spitzenmannschaft in einer Saison 40 Gegentore bekommt, weiß man, wo man den Hebel ansetzen muss“

    2. @rookie: +1. Sehe ich genau wie du. Die Statistik, die du zur Wahrscheinlichkeit der Verwertung der nächsten Chance in Abhängigkeit von der Chancenverwertung zuvor erwähnst, finde ich interessant. Weißt du noch, wo du die ausgegraben hast?

    3. „Die Überschätzung von Defensivteams ist ein Wahrnehmungsbias.“
      Genau so wie die Überschätzung von Offensivteams.
      Griechenland und Chelsea sind Extrem-Beispiele, die mit ihren Spielern nichts anderes spielen konnten, aber sie haben es geschafft. Welche reinen Offensiv-Mannschaften haben den große Titel geholt? Da wird es schon auch dünn.
      Die Mischung machts.

  4. Ein Aspekt wird mMn im Artikel vernachlässigt, nämlich dass man von guten Teams erwarten kann, dass sie auch einmal Beton anrühren, ohne dass man das großartig vorher übt bzw. dauerhaft in Erwägung zieht. Bestes Beispiel dafür: Real Madrid im Halbfinal-Hinspiel 2014. Da hat Taktik-Fuchs Ancelotti im Vornherein gewusst, dass man Bayern im letzten Drittel keinen Raum geben darf und er hat seine Spieler dazu gebracht, das umzusetzen. Sogar CR7 spielte damals fast einen verkappten Linksverteidiger. Bei intelligenten Spielern klappt das Verteidigen auch. Es ist – wie Kovac in seiner Verzweiflung oft feststellte – in erster Linie eine Frage des Willens und nicht so sehr des taktischen Könnens, ob man bereit ist, dem Gegner die Räume zuzustellen. Wir haben ja gesehen, dass unsere Spieler das auch hinkriegen, z.B. in Leipzig oder in den Pep-Jahren mehrmals gegen den BVB. Das erforderte jeweils keine großen Umstellungen im Training. Am besten kann man das ja daran erkennen, dass es vor dem Leipzig-Spiel eigentlich gar keine Zeit für ein Einstudieren dieses deutlich defensiveren Ansatzes gab. Sogar beim 1:1 bei Atletico hat die Defensive recht gut geklappt und da waren sogar Spieler involviert, die kaum über Spielpraxis verfügten und bei weitem nicht das Können der Stammspieler haben. Funktioniert hat es in allen Fällen trotzdem.
    Das ist in spielerischer Hinsicht auch das einzige, was man Flick vorwerfen kann, nämlich, dass er zu deutlich an seinem System festhält, auch wenn es manchmal sinnvoller sein könnte, anders zu agieren. Niemals über mehrere Spiele hinweg und pauschal gegen jeden Gegner aber doch zumindest hin und wieder v.a. gegen Gegner, von denen man weiß, dass sie die Mittel haben, ein hohes Pressing zu umspielen und dann gnadenlos zuzuschlagen.

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    1. @willy: Ich stimme dir vollkommen zu. Deine Beispiele sind schlagend und treffend. Nur sind meine Überlegungen konzeptionell-statistischer Natur und abstrahieren als solche zwangsläufig vom konkreten Einzelfall mit seinen etwaigen spezifischen Besonderheiten. Natürlich kann es fallweise klug oder gar geboten sein, im Einzelfall auf taktischer Ebene von einer übergeordneten Strategie abzuweichen, wenn die konkreten spezifischen Parameter der Situation das nahelegen. Dass Flick dies vielleicht sogar zu selten und zu wenig macht (trotz seiner im großen und ganzen überragend erfolgreichen Strategie), darüber können wir gerne diskutieren, da würde ich mit mir reden lassen.

      Übrigens kann eine solche fallspezifische Anpassung auch nach hinten losgehen, wie Guardiola seit Jahren in der Champions League beweist (Monaco, Tottenham, Lyon). Ich würde mich vielleicht der Schärfe der Kritik an Guardiolas unterstellter Unfähigkeit in der Champions League nicht zu 100% anschließen – gegen Tottenham war auch viel Pech dabei – aber zumindest gegen Lyon im letzten Jahr hat er sich meines Erachtens eindeutig vercoacht. Du siehst, fallweise Anpassung ist ein zweischneidiges Schwert.

  5. Klasse Beitrag. Interessant zu lesen.

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    1. Danke Jo! I aim to please. ;-)

  6. Danke, Alexander, für den Artikel, dessen Argumentation und Schlüsse für mich sehr plausibel klingen.

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    1. Severalseasons, a man for all seasons. ;-) Danke dir!

  7. Viertelfinale. Nicht Achtelfinale.

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    1. Danke, korrigiert!

  8. Wieviel Chancen brauchen Gegener nochmal für Tore gegen uns? Lächerlich.

  9. @Alexander: Interessanter Artikel und mitten hinein in die Flut der interessanten Artikel und zahllosen Kommentare der letzten Tage. Ich hoffe er geht hier nicht unter, weil das ein sehr interessanter Ansatz ist.

    Wenn ich dich hier richtig verstehe, dann machst du die Unterscheidung, ob es sich um eine offensive oder defensive Spielweise handelt, weitestgehend davon abhängig, wie hoch oder tief eine Mannschaft steht. Allerdings könnte man auch andere Ansätze wählen, z. B. ab wann man versucht Zugriff auf den Ball zu erhalten – dann wird es schon etwas schwieriger, zu definieren, ob die Balleroberung eine defensive oder eigentlich eine offensive Aktion ist, oder ob eine einfache Balleroberung, die beispielsweise durch einen Befreiungsschlag des Gegner erzwungen wurde, den dann z. B. ein aufgerückter Torwart annimmt ein defensiver oder offensiver Erfolg ist. Anders gefragt: Ist eine Mannschaft, die bereits mit den Stürmern den gegnerischen Torhüter und die Verteidiger zustellt offensiv … oder eigentlich eher auf ihre Art ganz extrem defensiv? Bei eigenem Ballbesitz ist das scheinbar leicht auszumachen, wer alles beim Angriff mit aufrückt, aber bei gegnerischem Ballbesitz wird es interessant.

    Ich persönlich bin der Meinung, dass unsere Mannschaft nach der Corona-Pause die unglaublichste Defensiv-Leistung gezeigt hat, die ich je gesehen habe, weil alle Spieler permanent in die Defensivarbeit einbezogen wurden. Man hat nicht nur ballführende Gegner sofort angegriffen, sondern auch Laufwege und Anspielstationen konsequent dicht gemacht. Wenn man den Ball dabei erobert hat, konnte man hoch stehend auf das gegnerische Tor marschieren ohne sich groß mit vielbeinigen Abwehrreihen auseinander zu setzen, aber das resultierte eben aus einer zuvor erbrachten Defensivleistung der gesamten Mannschaft, die im Verbund verteidigt hat hat. Und da liegt auch der Unterschied zum Beginn dieses Jahres: Man stand wieder ähnlich hoch, aber das Zustellen der Anspielstationen hat nicht mehr so funktioniert wie letztes Jahr. Wenn man es nicht geschafft hat, dem ballführenden Spieler den Ball gleich abzunehmen und der noch einen Pass spielen konnte, dann hatte derjenige, der den Ball annimmt dieses Jahr mehr Zeit für einen kontrollierten Steilpass, als am Höhepunkt der Spielkunst unserer Mannschaft letztes Jahr. Die Abwehrspieler, die letztes Jahr überwiegend einfache Bälle – weil sie meist nur noch unter hohem Druck unkontrolliert nach vorne gedroschen wurden – abfangen konnten, waren diese Jahr oft chancenlos, weil die Defensivarbeit in den Reihen vor ihnen vernachlässigt wurde und die gegnerischen Spieler Zeit für ihre lange Pässe bekamen. Letztendlich war es also doch wieder ein Mangel an Defensivleistung, der uns ständig in die Bredouille gebracht hat und nicht nur die Verteilung der Spieler auf dem Feld. Der ausschlaggebende Punkt war also, ab wann man konsequente Defensivarbeit betrieben hat und nicht wie hoch man auf dem Feld gestanden ist.

    Zu dieser Taktik musste man in dieser Saison erst wieder zurück finden. Dafür müssen viele Wege gegangen werden und wenn drei Spieler ihren Mann decken und der vierte in der Nase bohrt und dessen Gegenspieler dann zwangsläufig den Ball erhält und in die Tiefe passen kann, dann lässt die eigene Moral eben auch irgendwann nach. Das war unser eigentliches Problem über weite Strecken der Saison – nicht wie hoch oder tief die letzte Abwehrreihe steht, sondern wie einfach man es den Gegnern gemacht hat, sich aus deren eigener Hälfte zu befreien, wenn nicht alle Räder ineinander gegriffen haben. Dadurch haben wir weniger Tore gemacht und dem Gegner mehr ermöglicht. Es war also eher die mangelnde Einstellung oder Konzentration oder vielleicht auch Kraft einzelner Spieler, die bei vielen Gegentoren den Ausschlag gegeben hat, als das generelle Versagen von Flicks System.

    Unsere Mannschaft ist natürlich auch in der Lage ein Spiel von ganz hinten aufzubauen und und genug Chancen zu kreieren, wenn der Ball nicht bereits in der Nähe des gegnerischen Tores erobert wird, aber klare Siege und überzeugende Leistungen gab es überwiegend dann, wenn man bereits ganz vorne konzentriert Defensivarbeit geleistet hat und damit gegnerische Angriffe schon im Aufbau erstickt hat. Irgendwo ist es also vielleicht doch keine reine Entweder-oder-Frage, ob man offensiv oder defensiv spielen will, sondern etwas das Hand-in-Hand gehen kann für den maximalen Erfolg.

    Antwortsymbol37 AntwortenKommentarantworten schließen
    1. @Hans501: Danke für deine warmen Worte und den ausführlichen Kommentar! Zu deiner Frage, ob ich meine These lediglich an der Höhe der Positionierung der Spieler festmache und nicht vielleicht besser ein viel ganzheitlicheres Defensivverständnis anlegen sollte, das schon mit dem vordersten Stürmer im Gegenpressing beginnt, sage ich „ja“ und „nein“. Natürlich hast du recht, dass die Defensivarbeit immer mit dem vordersten Spieler beginnt, sobald das eigene Team nicht mehr im Ballbesitz ist. Hohes Gegenpressing ist eine Form der Defensive, ganz klar. Insofern, „ja“.

      Aber würdest du mir zustimmen, dass ein so hohes Gegenpressing wie die Bayern es spielen eine sehr anspruchsvolle und nicht sonderlich fehlertolerante Art des Verteidigens ist? Kleine Unachtsamkeiten oder ein wenig Pech genügen und der Gegner hat 30 Meter freie Wiese vor sich und Manuel Neuer wird wieder einmal zu einer seiner heroischen Großtaten gezwungen. Ich glaube, wir sind uns einig, dass es deutlich effizientere und weniger anspruchsvolle Methoden gibt, wenn es darum geht, das eigene Tor zu verteidigen. Ich habe in meinem Leben noch keine Mannschaft gesehen, bei der die „Null stehen muss“, die das darüber versucht, es sich mit Mann und Maus in der gegnerischen Hälfte heimisch zu machen.

      Insofern „nein“. Wer die Offensivvorteile eines hohen Gegenpressings nutzen möchte, nämlich dass man bei Ballgewinn im Prinzip mit der ganzen Truppe ruck zuck im gegnerischen Strafraum stehen kann, wenn man möchte, der muss auch die dem System inhärenten defensiven Nachteile, die in dem hohen Risiko seiner nicht perfekten Ausführung und dem dann freien Raum für den Gegner liegen, akzeptieren. Im Endeffekt läuft es somit immer darauf hinaus, dass ich innerhalb gewisser Grenzen stets defensive Sicherheit für offensive Durchschlagskraft opfern muss und umgekehrt. Wie ich schon sagte: There is no such thing as a free lunch.

      Was du möchtest, ist die eierlegende Wollmilchsau. Ein System, dass sowohl offensiv extrem gefährlich als auch defensiv unheimlich sicher ist. So etwas kann eine Zeitlang sogar funktionieren, wenn alle Spieler in exzellenter Form sind, die Mannschaft total eingespielt ist und auch – und vor allem – noch eine gehörige Schippe Glück hinzu kommt. Das war letzte Saison bei den Bayern der Fall, for allem im CL-Endturnier in Lissabon. Aber wie der gesunde Menschenverstand (und die aktuelle Saison) nahelegen, sind solche Phasen der Perfektion nur genau das, Phasen nämlich, aber kein Zustand, von dem man erwarten darf, dass er auf Dauer angelegt ist.

      1. À propos eierlegende Wollmilchsau: könnte es sein, dass Brazzos Dilemma zumindest teilweise in einem zu heterogenen Jobprofil besteht? Zunächst mal auf der Ebene des Sportdirektors. Sammer war ja selbstbewusst genug, Felder nicht zu bespielen, für die er sich nicht erwärmen konnte bzw. hinreichend kompetent fühlte.
        Als Vorstand könnte er das Problem evtl. dadurch lösen, dass er Aufgabenbereiche delegiert. Vielleicht bliebe dann aber auch nicht genug übrig, was den hochdotierten Posten noch legitimieren würde.

      2. @jep: Diesen ganzen Jobbezeichnungen würde ich ehrlich gesagt bei einem Fußballverein nicht zu viel Bedeutung beimessen. Ob man jetzt Sportvorstand als Vorstandsmitglied oder nur normaler Sportdirektor ist, ich glaube, welcher Aufgabenzuschnitt und welche Kompetenzen sich damit verbinden, bedeutet bei jedem Fußballverein ein bisschen was anderes. Die kochen da alle ihre eigene Suppe, viele haben ja auch unterschiedliche Rechtsformen. Mit den Maßstäben der normalen Wirtschaft darfst du da bei der Bewertung glaube ich nicht rangehen.

      3. Ich gehe zwar davon aus, dass das jetzt keiner mehr hier liest, aber entschuldige mich trotzdem, dass ich ein paar Tage durch Abwesenheit geglänzt habe und hier so viele großartige Kommentare verpasst habe. Macht eine sachliche Antwort noch Sinn? Ich versuche es einfach mal, auch wenn ich damit vielleicht nur eigene Gedanken ordne.

        @Alexander: Du hast in allem was du geschrieben hast völlig Recht. Letztendlich lief mein Gedankengang nur etwas aus dem Ruder und sollte ursprünglich in die Richtung zielen, dass bei scheinbar rein offensiver Ausrichtung die Defensivarbeit noch mehr beachtet werden muss (und letztes Jahr besser beachtet wurde als streckenweise dieses Jahr). Dass diese ‚Wollmilchsau‘ nicht durchzuhalten ist stimmt natürlich auch, aber man hat sie häufiger bemüht als gewünscht, wenn man diese Saison vielen Rückständen hinterhergelaufen ist.

        @Jep: Danke, dass du meinen Gedankengang vom ersten PSG-Spiel so treffend zusammengefasst hast. Nach dem zweiten wollte ich gar nichts mehr schreiben, weil wir eben noch etwas unpräziser wurden und PSG uns sehr deutlich aufgezeigt hat, dass unser System bei mangelnder Fitness nicht mehr sonderlich funktioniert. Durchhalteparolen waren da das Gebot der Stunde und nicht mehr Kritik, die letztendlich auch noch auf Flick niederprasseln würde, von dem ich allerdings hoffen würde, dass er bei uns und nicht beim DFB aus seinen Fehlern lernt.

        @Alain: Was soll man da noch sagen, außer dass niemand einen Hahn will, sondern eher ein Gelage, das dem Baccus geweiht werden müsste! So ein Hahn wäre dafür höchstens eine Unterlage, aber niemals Hauptbestandteil! :P

        Bei der letzten großen Debatte, die wir geführt haben, hast du mir den Gedanken geweckt, dass der Fußballverein im tief in uns verwurzelten Ur-/Höhlenmenschen das Bedürfnis nach dem Stamm, dem Zusammenhalt und dem gemeinsamen Ziel befriedigt, das der moderne Mensch ja auch gar nicht mehr für den essentiellen Überlebenskampf braucht. Ein Fehlen diese ’sinnstiftenden Faktors‘ scheint im modernen Leben aber doch spürbar zu sein, denn anders wäre die Leidenschaft für Vereinigungen, die eine rollende Schweineblase oder Plastikkugel jagen, wohl kaum zu erklären. Ob da ein Retortenverein einem gewachsenen Verein wie dem FCB nachsteht, kann man immer noch völlig unterschiedlich beurteilen und jede Sichtweise ist erlaubt, die für irgendwen auch iher Gültigkeit hat.

        Dieses Mal ist es das Spiel selbst, das du ansprichst und welches archaische Bedürfnisse befriedigt. Das Nicht-Wissen um den Ausgang in einer zwar komplexen Welt, die aber trotzdem hauptsächlich am täglichen Einerlei krankt. Selbt bei eindeutigen Kräfteverhältnissen ist der Ausgang immer ungewiss und man weiß nie ob man am Ende das Jagdglück feiern kann oder bei Nüssen und Beeren seine Wunden leckt. Selbst die aufregenste Tage eines Lageristen, vermögen es wohl nicht immer da mitzuhalten. Ein Sieg über den FCB muss da vielen anmuten, wie wenn der eigene Jagdtrupp ein Mammut erlegt hätte. Wie schade ist es da, dass wir selbst uns so oft mit Eichhörnchen begnügen müssen. Aber genug gejammert – lieber jede Woche Eichhörnchen, als nie im Leben Mammut. ;)

        Ich hoffe du siehst das noch, Alain, und ich muss sagen, dass ich wie immer tief beeindruckt bin davon, in welche Höhen du einen Chat über Fußball mit deinen Einsichten trägst.

    2. O Hans, richte dem Alexander aus, dass ich ihm noch einen Hahn schulde und versäume es keinesfalls.

      1. Hähne nehme ich nur von eitlen Gockeln. ;-) Oder redest du von Wasserhähnen? Oder etwa Andre Hahn? Oh, diese vermaledeiten Homonyme…

      2. Ὦ Κρίτων, ἔφη, τῷ Ἀσκληπιῷ ὀφείλομεν ἀλεκτρυόνα· ἀλλὰ ἀπόδοτε καὶ μὴ ἀμελήσητε.
        O Kriton, wir sind dem Asklepios einen Hahn zu opfern schuldig, entrichtet ihm den und versäumt es nicht.
        Platon: Phaidon, 118a

        Nachdem ich wiederholt auf dem öffentlichen Markt von MSR die anerkannten Götter leugnete und die Seniorenschaft zu verführen versuchte, habe ich mir gestern kurzerhand selbst den Prozess gemacht und rein gar nichts zu meiner Verteidigung vorbringen können.
        Ich werde mich jetzt zuerst einmal zurückziehen und die Werke des Wohlfarth studieren in der Hoffnung mir ein wenig Anstand und Loyalität aneignen zu können.

      3. Lieber Alain, du vermagst es, in einer einmalig kryptischen Art und Weise mit deinen Gedanken gleichzeitig so weit in der Vergangenheit bei Sokrates vor 2500 Jahren und in der Gegenwart bei wolfarth wahrscheinlich in den letzten Tagen zu sein, dass ich offensichtlich Schwierigkeiten habe, dir zu folgen. Statt Hähnen halte ich es mit den Kynikern. Die sind mir hündischer.

        Vergiss den Schierlingsbecher nicht!

      4. Dass Hui Buh dem Asklepios ein Opfer darbringen will, leuchtet unmittelbar ein. Mögen die antiken wie die modernen Götter des Wohlfarthsstaats ihm gnädig gesonnen sein!

      5. Und ich dachte immer, Willy sei hier das einzige Erinnerungsgenie… Um Gottes willen, was für ein Publikum, jetzt bekomme ich nachträglich noch Lampenfieber. Könnten wir zum Thema ‚Offensive‘ zurückkehren?

      6. @wohlfarth: Ohne Dir den Spaß an Deinen Phantasien verderben zu wollen: aber da hast Du offenbar etwas in den falschen Hals bekommen. ;-)

      7. @Alexander
        Tut mir leid, dass ich diesen Gesprächsfaden durch Eitelkeit und Selbstsucht ruiniert habe; das war so nicht geplant, ist jetzt aber leider nicht mehr gutzumachen.

        @alle
        Zum Thema Offensive möchte ich persönlich nicht viel sagen, weil ich Hansens Kommentar für völlig ausreichend halte (wobei man provokativ natürlich hinzufügen könnte, dass es im Flickschen Fußball idealtypischerweise gar keine Defensive mehr gibt und sie nur durch einen Mangel an Robotik dann faktisch doch manchmal noch vorkommt.)
        Schade, dass seine fundierten (und teilweise überraschenden) Aussagen mehr oder weniger ignoriert werden; auch seine Kommentare zum Paris-Spiel sind reines Dynamit und Gold wert, aber da sie dem allgemeinen Fan-Kanon von Opfer-Narrativ und Wohlfühl-Analytik nicht folgen scheinbar unerheblich.

      8. @Alain: Immerhin verfügst du über ein hohes Maß an Selbstreflektion. Bei der Bezeichnung meiner Überlegungen als „Wohlfühl-Analytik“, von der ich aus dem Kontext heraus annehmen muss, dass du sie auch auf meinen Text bezogen hast, fühle ich mich allerdings mindestens missverstanden. Ich hatte mich eigentlich bemüht, ganz sachlich und ohne emotionale Parteinahme zu argumentieren (ganz abgesehen davon, dass emotionale Gemütszustände wie „sich wohlfühlen“ und rationale Vorgänge wie „Analytik“ ohnehin eine nur höchstens oxymoronsche Beziehung zueinander pflegen, findest du nicht?).

      9. @Alexander: Ich glaube, dass Du da gar nicht (mehr) adressiert bist. Sondern dass „@alle“ die Gesamtheit der Foristen meint. Wenn ich seine entsprechenden Beiträge zum PSG-Spiel richtig verstehe, kritisiert er, dass die einen über den ungerechten Ausgang jammern („Opfer-Narrativ“), während die anderen sich an allen möglichen tröstlichen Aspekten wie Torschuss-Statistik, xG-Verhältnis etc. laben („Wohlfühl-Analytik“). @Hans501 hingegen wählt zu beiden Sichtweisen quasi eine Äquidistanz, indem er den Wohlfühl-Analytikern die relativ geringe Chancenqualität entgegenhält und andererseits – wenn ich das alles noch richtig erinnere angesichts der massenhaften Kommentare gerade zu diesem Spiel – gerade mithilfe der xG-Werte vom Mittwoch und derjenigen aus dem Lissaboner Filialturnier aufzuzeigen versucht, dass bei allen Ähnlichkeiten die jeweils deutlich divergierenden realen Ergebnisse sich allesamt noch innerhalb einer erwartbaren Schwankungsbreite bewegten; kurz gesagt: damals hatte man in allen drei Spielen zumindest phasenweise verdammt viel Glück (und einen überragenden Neuer), diesmal nicht.

      10. @jep: Danke für diese sehr konzise und prägnante Zusammenfassung der Kerngedanken der betreffenden Diskussion, die ich nicht im Detail verfolgt habe. Könnte ich dich für diesen Service zukünftig häufiger in Anspruch nehmen? ;-)

        Die Qualität der Kommentare hier im Forum ist teilweise derart hoch, darfste keinem erzählen, dass das hier „nur“ ein Fussballblog ist. (Das war jetzt ernst gemeint.)

      11. @Alexander

        „(…) Flick “is playing the percentages” und macht das genau richtig so. An der grundlegenden Wahrscheinlichkeitsrechnung kann auch ein statistischer Outlier wie das Spiel gegen PSG nichts ändern, auch wenn er ein so unglücklicher und schmerzhafter ist wie eine 2:3 Heimspielniederlage im Viertelfinale der Champions League.“

        Ein beredtes Beispiel deiner Tipp-Kick-Scholastik, dieser Laptop-Fußball-Theorie, die dem lebendigen und unberechenbaren Wesen des Fußballs nicht vollumfänglich gerecht wird.

        Darüber hinaus freue ich mich aber aufrichtig, dass du meinen Auftritt als skandalös und inakzeptabel empfunden hast, denn genau wegen dieser Unabhängigkeit und Ehrlichkeit des Urteils schätze ich dich so sehr als Gesprächspartner; sobald es sich aber um Fußball handelt, verliere ich meinen Glauben an dich.

      12. @Alain Sutter: Nun, ich habe im wesentlichen anzuerkennen versucht, dass du dir deiner selber nicht weniger bewusst und über dich persönlich nicht weniger klar und deutlich zu urteilen in der Lage bist als im Bezug auf andere. Das ist eine selten anzuteffende Fähigkeit. Für den Rest gilt: „You may very well think that; I couldn’t possibly comment.“

        Du bist ein Philosoph, aber in Anbetracht dessen fehlt es dir erstaunlich oft an einem Gespür für die passende Ebene. Du lebst zu sehr im Detail. Meine Argumentation ist abstrakt und zumindest auf dem Niveau meiner abstrakten Prämissen deduktiv valide, vielleicht sogar praktisch sound. Meine Abstraktion interessiert sich nicht für die feinen Unwägbarkeiten und situativen Kontingenzen, die in ihrer je eigenen, spezifischen Konfluenz die übergeordnete Torerzielungswahrscheinlichkeit ausmachen, weil sie für meine Ebene der Argumentation unerheblich sind. Die Wellenfunktion ist da schon kollabiert und ich interessiere mich für das beobachtete Resultat und nicht den rohen Urzustand mit seinen schier endlos verästelten, miteinander verwobenen und sich gegenseitig überlagernden Zuständen.

        Lass uns versuchen, auf derselben Ebene zu diskutieren. Wenn du eine These in den Raum stellst, hole ich dich da ab, wo du dich gedanklich befindest, und umgekehrt.

        Deine Wertschätzung meiner fußballerischen Beiträge hier im Blog war übrigens auch schon einmal höher. Hoffentlich sind dir damals keine unbeabsichtigten Fehler unterlaufen. ;-)

      13. @Alexander: Alain ist nicht nur Philosoph, sondern steht auch für die romantische Seite des Fußballs; was verschiedenes beinhaltet, u.a. auch, „das Erbe Bachmayrs“ zu pflegen. Du wiederum stehst für die analytischen Aspekte des Fußballs und stehst den metaphysischen Neigungen Alains resp. Bendix‘ mit der gebotenen Skepsis des aufgeklärten Rationalisten gegenüber.

        Aus diesen Gegensätzen ergeben sich immer wieder inhaltliche Spannungen, die zu interessanten Diskussionen führen. Die aktuelle Diskussion weckt da Erinnerungen an Vorgängerdebatten mit ähnlicher Konstellation. Ich zumindest weiß das zu schätzen – zumal in einer Zeit, in der einem mehr als in der Vergangenheit bewusst wird, wie fragil all das ist, woran wir uns gewöhnt haben.

      14. @jep

        Vielen Dank für deine netten und verständnisvollen Worte. Da ich mein Kommentieren hier auf MSR eigentlich als inneren Monolog erlebe, in dem Alexander manchmal die Rolle des Über-Ichs, der Vernunft und des schlechten Gewissens einnimmt, erschrecke ich regelmäßig, wenn ich merke, dass es tatsächlich Leser gibt, die diese Gedanken verfolgen – denn dazu ist das Gesagte zu unreflektiert, zu unbegründet und viel zu unhöflich.
        Aber da dir ja offenbar verständlich ist, dass es sich bei all den Unflätigkeiten um ein banges Wimmern aus der Fragilität der Existenz handelt, wirst du die Worte wohl einordnen können.

        @Alexander

        Klopp pflegt vor Begegnungen, in denen seine Mannschaft nominell unterlegen ist, zu sagen, dass sie den Gegner auf ihr Niveau herunterholen müsse, um überhaupt eine Chance zu haben.
        Da du persönlich für alles einstehst, was diese Welt so groß und mächtig macht, du aus voller Kehle die Hymne ihrer Entwicklungslogik singst, der Weltgeist die Segel deiner Santa Maria auf dem Weg zu neuen Küsten bis zum Bersten aufbläht, du auf den Schultern von Riesen stehend die Bauarbeiten der Kosmopolisrationis kommentierst und dirigierst, bleibt mir doch kaum mehr etwas anderes übrig, als mich auf das Detail meiner eigenen Existenz zu beziehen, dieses endlos verästelte, verwobene, sich überlagernde Residuum meines Lebens, das deiner Funktionslogik noch nicht gehorcht.

        Ich glaube nicht, dass du dich täuschst, etwas falsch machst oder Böses im Schilde führst, sondern viel eher, dass wir beide in unserer je eigenen Logik legitime Standpunkte vertreten, die das Leben des Menschen grundsätzlich und potenziert in der Moderne unter enorme Spannung setzen, ohne dass wir den Konflikt generell oder persönlich entschärfen könnten: „Die Wellenform ist da schon kollabiert (…)”. Du interessierst dich „für das beobachtete Resultat”, ich bin das Wasser.

        Ich verstehe sehr wohl, dass dich mein Befinden zumal professionell nicht tangiert; mit deiner Torerzielungswahrscheinlichkeitstheorie rollen sie dir in der Finanzabteilung der Bayern München AG den roten Teppich aus und du bekommst einen goldenen Thron im ersten Stock der Säbener Straße. Als Erfinder des Perpetuum mobiles des Erfolges, mit dessen theoretischer Hilfe man sich durch einfache Siege gegen Paderborn und Köln den Zugang zu den unerschöpflichen Reichtümern des gehobenen Fußballs statistisch garantiert verschaffen kann, verhilfst du manch sorgengegrämtem Buchhalter zu einer ruhigen Nacht.

        Ich beneide dich offen gestanden für deine „abstrakten Prämissen”, diese Rüstzeug des modernen Menschen.
        Ich hingegen bin tatsächlich der Philosophie insofern verbunden, als ich jeden Tag aufs Neue mit leeren Händen vor meiner tabula rasa stehe: Spötter nennen das Vorurteilsfreiheit, Betroffene Zweifel.
        Während du aus der obersten Warte der Trutzburg der modernen Wissenschaft den perspektivischen Rundumblick in die Vergangenheit und die Zukunft hast und dich am Spektakel des Vorhergesagten labst, stehe ich Mittelkreis unmittelbar bevor das Spiel angepfiffen wird.
        Es fängt wieder einmal bei null an, die Vitrinen voller Pokale zu Hause und die Millionen auf dem Konto interessieren in diesem Moment nicht, ich bin so einsam als wäre ich alleine im Universum, genauso wie meine Kameraden neben mir: Karrieren, Meisterschaften, Siege sind jetzt ganz weit weg, was zählt, ist der Moment, der jeweils die ganze Schwere des Schicksals in sich trägt: eine kleine Unaufmerksamkeit, eine falsche Bewegung und wir durchleben den Kahn-Ballack-Gerrard-Karius-Knall, in dem die Erde unter uns fauchend ihren Schlund aufreißt und uns die Unschuld für immer raubt.

        Es ist diese Tragik des Fußballers im Mittelkreis vor dem Anstoß, die mein Denken und mein tägliches Leben bestimmt: Ich habe keine Gewissheit, keine Hilfe, keine Ahnung, aber ich will es versuchen.
        Und da mich die Gedanken der Erwachsenen, der Großen, der Wissenden nur lähmen, werde ich lieber wieder zum unvernünftigen Kind, das im Spiel nie von der Bürde seiner Existenz erdrückt wird, sondern dem Schicksal ganz unbewusst launenhaft und humorvoll ein Schnippchen schlägt und sich hingibt in den Strom des Lebens, der in ihm wirkt und der ihn trägt, um anschließend ganz erschöpft von den Wirren dieser Karussellfahrt sich andächtig an den Rand setzt und die große und mächtige Welt bestaunt.

        Der Ebenenwechsel ist kein wissenschaftliches Versagen, sondern eine törichte Kinderei.

      15. @jep: +1! Ist es nicht dieses schier unerschöpfliche Überraschungspotential und die Offenheit des Sozialen, was das Leben so aufregend und faszinierend macht? Man trifft auf die interessantesten Leute und führt die spannendsten Diskussion an den unmöglichsten Stellen.

      16. @Alain: Dem habe ich nichts hinzuzufügen. Dein Text ist wie ein Kunstwerk, dem auf inhaltlicher Ebene zu begegnen mir fast schon wie ein Frevel erschiene. Er eignet sich für ästhetische Urteile eher als für vernünftige. Erlaube mir, mich einfach an der Schönheit zu erfreuen.

        Ich kann für das Wohl dieser Welt nur hoffen, dass es nicht nur dein Leben ist, dass sich meiner kalten Funktionslogik entzieht. Es wäre schlimm um diese Welt bestellt, befände ich mich in einer Position der Kontrolle. Ich möchte zudem dringend bezweifeln, dass sie mir bei FCB den roten Teppich ausrollen würden – für irgendwas – dafür bin ich viel zu sehr ein Theoretiker und viel zu wenig Praktiker.

        Das Spiel beginnt am Mittelkreis, aber so wie das Leben zum Tod drängt, drängt es zur 90. Minute und die Bahnen dorthin sind oft vorgezeichnet.

      17. @ Alexander

        Wie recht du hast, auch ich hätte keine Lust mich auf Scharmützel mit intellektuellen Wegelagerern in irgendeiner gottverlassenen Waldschlucht am Rande des Reiches einzulassen.
        Diese Kerle haben keinen Funken Anstand im Leib, Gesetze und Ordnung stellen sie auf den Kopf um ihr nichtsnutziges Tun zu verschleiern; Ideenplünderer und time bandits, die sich in der Selbstbeweihräucherung ihrer Lagerfeuerromantik dem Glauben an ihre eigene Legende hingeben: aus den hinterhältigen Straßenräubern werden im Laufe der Zeit Vorkämpfer für soziale Gerechtigkeit, der Mangel an Absicht wird zur reinen Selbstlosigkeit.
        Das Gemeinwesen ist für die merry men nur mehr Bühne, die Architekten und Wahrer der Ordnung werden zu Geächteten in der Ballade der Sänger.

        I kan nought parfitly my Paternoster as the preest it singeth
        but I kan rhymes of Robyn hood and Randolf Earl of Chestre

      18. Höre ich da einen leicht schmollenden Unterton…? ;-)

      19. @Alexander

        Nein, gar nicht, nur das gebotene Maß an Selbstreflektion.

      20. Was mehr hätte ich schreiben können?

      21. Manchmal kommt es mir vor, als würde man dich in diesem Monolog zum Narren halten und ich könnte vor Wut platzen. Aber was mehr könnte ich tun? Noch einen Hahn opfern?

      22. Leider ist diese Form der Kommunikation unweigerlich ein ständiges Karikieren des Gesprächspartners und ich weiß nicht, wie man diesen Fluch abwenden könnte.
        Flick-Salihamidzic-Rosenkrieg für Anfänger. Sind wir vielleicht doch nur Marionetten in einem makabren Spiel?

      23. „Man“ hält mich zum Narren? Glücklicherweise merke ich das nicht einmal. Wer ist „man“? Und wenn ich dich karikiert hätte, wäre das jedenfalls höchst unabsichtlich geschehen und täte mir leid. Karikieren wir uns überhaupt einander? Ist es nicht jeder einzelne von uns, der sich selbst zu einer Karikatur macht? Du zum Beispiel bist für mich irgendwo zwischen Rousseau („man is born free, yet everywhere he is in chains“), Siddhartha Gautama (wegen des Leidens), Thomas Mann (wegen der Lust an der Sprache), Nietzsche (wegen des Aufbegehrens), Diogenes (wegen des Spotts) und Spinoza (wegen der Universalität) verortet. Woher habe ich diesen Eindruck? Ist es meine Zuschreibung, meine Projektion, oder ist es deine Selbstoffenbarung?

        Warum zum Teufel sucht sich ein Romantiker wie du ausgerechnet den modernen Profifußball als Objekt der Begierde? Du fragst mich oft, wie ich die Spannung zwischen meiner alles optimierenden, kühl rationalisierenden Weltsicht und den essentiellen Bedürfnissen des Lebens und der Seele aushalte. Die Frage gebe ich gerne zurück. Wie hält ein spiritueller Universalist wie du die Partikularität des modernen Profifußballs aus?

      24. So, jetzt richtig plaziert,sorry.

        „Warum zum Teufel sucht sich ein Romantiker wie du ausgerechnet den modernen Profifußball zum Begehr?“

        Vielleicht weil dieser – und auch manch anderer – Widerspruch ein wesentlicher Aspekt unserer Conditio humana ist. Wir wissen natürlich, wie sehr im modernen Fußball (fast) alles Sinnen und Trachten nicht nur der Protagonisten, sondern auch des interessierten Publikums (ausweislich z.B. eines großen Teils der Kommentare in diesem Forum) auf die Planbarkeit und Verstetigung von Erfolg ausgerichtet ist. Da heißt es dann gerne: „Wie er zustande kam, interessiert bald niemanden mehr.“

        Und dennoch sehnen wir uns nach dem ästhetischen und moralischen Genuss des freien, spontanen Spiels. Und erinnern uns gerne an solche wilden Dramen wie die Viertelfinals gegen ManU anno 2010 oder an von traumhafter Sicherheit geprägtes Kombinationsspiel wie drei Jahre später beim Stadtrivalen. Wenn man den Blick über das Wohl und Wehe des eigenen Lieblingsklubs hinaus weitet, dann hat auch die CL-Saison etwa von Ajax Amsterdam vor zwei Jahren das Potential, solche romantischen Bedürfnisse zu befriedigen, incl. des fast schon tragischen Ausscheidens gegen einen weiteren Außenseiter, nämlich Tottenham. Dazu noch das unglaubliche Parallel-HF, Barça vs Liverpool.

        Aber dann kommen die Strategen und planen die nächste Wettbewerbsreform, die bittschön solche Ausreißer wieder ein bisschen weniger wahrscheinlich machen möge, zum Wohl des planbaren Erfolgs der immer gleichen Großklubs. Zu denen der eigene auch gehört. Der dann in einem so bizarren Viertelfinale wie dem aktuellen mit zwei Spielen, in denen jeweils das bessere Team verliert, dennoch dem Gott des Zufalls das längst mal wieder – nach all dem Glückhaften der Vorsaison – fällige Opfer bringen muss. So viel Widersprüchlichkeit muss man erstmal aushalten. Sie kann aber auch süchtig machen.

      25. Das sollte hier ganz unten stehen aber drum kopiere ich es nochmal:

        Ich gehe zwar davon aus, dass das jetzt keiner mehr hier liest, aber entschuldige mich trotzdem, dass ich ein paar Tage durch Abwesenheit geglänzt habe und hier so viele großartige Kommentare verpasst habe. Macht eine sachliche Antwort noch Sinn? Ich versuche es einfach mal, auch wenn ich damit vielleicht nur eigene Gedanken ordne.

        @Alexander: Du hast in allem was du geschrieben hast völlig Recht. Letztendlich lief mein Gedankengang nur etwas aus dem Ruder und sollte ursprünglich in die Richtung zielen, dass bei scheinbar rein offensiver Ausrichtung die Defensivarbeit noch mehr beachtet werden muss (und letztes Jahr besser beachtet wurde als streckenweise dieses Jahr). Dass diese ‘Wollmilchsau’ nicht durchzuhalten ist stimmt natürlich auch, aber man hat sie häufiger bemüht als gewünscht, wenn man diese Saison vielen Rückständen hinterhergelaufen ist.

        @Jep: Danke, dass du meinen Gedankengang vom ersten PSG-Spiel so treffend zusammengefasst hast. Nach dem zweiten wollte ich gar nichts mehr schreiben, weil wir eben noch etwas unpräziser wurden und PSG uns sehr deutlich aufgezeigt hat, dass unser System bei mangelnder Fitness nicht mehr sonderlich funktioniert. Durchhalteparolen waren da das Gebot der Stunde und nicht mehr Kritik, die letztendlich auch noch auf Flick niederprasseln würde, von dem ich allerdings hoffen würde, dass er bei uns und nicht beim DFB aus seinen Fehlern lernt.

        @Alain: Was soll man da noch sagen, außer dass niemand einen Hahn will, sondern eher ein Gelage, das dem Baccus geweiht werden müsste! So ein Hahn wäre dafür höchstens eine Unterlage, aber niemals Hauptbestandteil! :P

        Bei der letzten großen Debatte, die wir geführt haben, hast du mir den Gedanken geweckt, dass der Fußballverein im tief in uns verwurzelten Ur-/Höhlenmenschen das Bedürfnis nach dem Stamm, dem Zusammenhalt und dem gemeinsamen Ziel befriedigt, das der moderne Mensch ja auch gar nicht mehr für den essentiellen Überlebenskampf braucht. Ein Fehlen diese ’sinnstiftenden Faktors’ scheint im modernen Leben aber doch spürbar zu sein, denn anders wäre die Leidenschaft für Vereinigungen, die eine rollende Schweineblase oder Plastikkugel jagen, wohl kaum zu erklären. Ob da ein Retortenverein einem gewachsenen Verein wie dem FCB nachsteht, kann man immer noch völlig unterschiedlich beurteilen und jede Sichtweise ist erlaubt, die für irgendwen auch iher Gültigkeit hat.

        Dieses Mal ist es das Spiel selbst, das du ansprichst und welches archaische Bedürfnisse befriedigt. Das Nicht-Wissen um den Ausgang in einer zwar komplexen Welt, die aber trotzdem hauptsächlich am täglichen Einerlei krankt. Selbt bei eindeutigen Kräfteverhältnissen ist der Ausgang immer ungewiss und man weiß nie ob man am Ende das Jagdglück feiern kann oder bei Nüssen und Beeren seine Wunden leckt. Selbst die aufregenste Tage eines Lageristen, vermögen es wohl nicht immer da mitzuhalten. Ein Sieg über den FCB muss da vielen anmuten, wie wenn der eigene Jagdtrupp ein Mammut erlegt hätte. Wie schade ist es da, dass wir selbst uns so oft mit Eichhörnchen begnügen müssen. Aber genug gejammert – lieber jede Woche Eichhörnchen, als nie im Leben Mammut. ;)

        Ich hoffe du siehst das noch, Alain, und ich muss sagen, dass ich wie immer tief beeindruckt bin davon, in welche Höhen du einen Chat über Fußball mit deinen Einsichten trägst.

      26. @Hans501: Dem möchte ich nichts hinzufügen, außer eben, dass Deine sympathischen Ausführungen zumindest einen Leser gefunden haben.

      27. …zwei Leser…

      28. @Alain: Plato lässt grüßen. ;-)

    3. @Hans501

      Vielen Dank für den Zugangscode zu dieser inzwischen verfallenen, geheimen Kammer, das ehemalige Boudoir eines launischen Blogs, das inzwischen zu einer dunklen, sagenumwobenen Höhle tief unter der Allianzarena weit ab vom Weg und Blick der zahlenden Kundschaft über uns herabgesunken ist.
      Hier, fernab des pulsierenden Lebens, sind wir ganz unter uns, einzig der Widerhall der huschenden Schritte fern oben auf der grünen Wiese erinnert uns noch an unsere Herkunft, das satte Leben im Glanz der Sonne, den Überfluss an Einsicht und Meinung.

      Nun sitzen wir hier unten im fahlen Schein des Feuers, das in unserem Rücken noch immer glimmt, und dessen Schattenprojektionen an den Wänden die einzig verbliebene Augenscheinlichkeit ist, während das sachte Trommeln am Firmament, das gelinde Knistern der Glut mit dem kaum merklichen Vibrieren des Untergrundes einen feinen Klangteppich webt, der ohne die übliche Fragwürdigkeit alles Sinnlichen direkt in unsere Seele strömt und uns über den Ursprung sinnieren lässt: Ist dieses unentwegt-fern wogende Klappern der Hufe da oben ein Kampf oder das ausgelassene Spiel unbändiger Kreaturen?

      Es sind lebendige und heroische Erinnerungen an die alten Helden Achilles und Ajax, Platini und Messi, an Ruhm und Tragödien, an Hoffnung und Niedergang, während wir hier unten bei diesen Gedanken noch immer mit einem melancholisch-zärtlichen Lächeln auf den Lippen an unseren längst abgeknabberten Eichhörnchenschenkeln nagen und die blanken Knochen traumversunken und entrückt von Zeit zu Zeit mechanisch in die Schale mit dem süßen Beerenchutney tunken.
      Eigentlich haben wir nie gewusst, wo genau die Grenze zwischen Spiel und Kampf verläuft, wie viel Genuss im Leid erlaubt ist, wie ernst man die Groteske nehmen sollte: Sind wir mannhafte Krieger oder eher mythologische Fabel- und Mischwesen, für die der après-midi d’un faune ein so lebendiger Traum ist, dass wir jetzt hier unten sitzen und immer noch nicht wissen, was genau da oben in der sonnenbeschienen Lichtung einst passierte: wir schwanken unablässig zwischen Reue über die vermeintliche Tat und dem intuitiven Versuch einer Rechtfertigung unseres Verlangens.

      Aber was auch immer es ist, das die Seelenruhe so nachhaltig stört, dieses Mysterium unseres Lebens, irgendwo zwischen der Verteidigung des eigenen Tores, dem Kampf ums bloße Überleben der fragilen sterblichen Kreatur und dem hoffnungsfrohen Nach-vorne-Stürmen des übermütig-berauschten Halbgotts, der sich in seinem Wahn sogar an der Venus vergehen will.
      Das Bild des Fauns ist eine Reminiszenz längst vergangener Tage, das nur mehr bleierne Abbild des Lebens da oben auf der zerklüfteten Höhlenwald in der Schummrigkeit unserer Existenz hier unten, wobei wir allein durch die imaginierte Teilnahme an der Jagd nach dem mythologischen Ball eine Intensität des Unvorstellbaren in uns erzeugen können, die uns keine direkte Teilhabe am Geschehen verschaffen kann.

      Durch das Abstrahieren von unserer persönlichen Verbundenheit lösen wir uns aus den Fesseln der materiellen Gegenwärtigkeit und dem passiven Erleiden des Lebens als ewigem Reagieren auf äußere Impulse und machen uns zu etwas Unweltlichem von höchster Lebendigkeit, das fernab von Zeit und Raum, losgelöst von rationaler Kontrolle und logischem Verstehen die Güte des Werdens in der Nichtigkeit des Moments spürt.
      Wir sitzen hier unten als Steinzeitmenschen ohne alle Prätentionen und lassen im mystischen Nebel der Selbstverklärung unsere Geschichte, die Geschichte der Menschheit, die Entstehung des Universums, das Heraustreten des Seins aus dem Absoluten an unserem geistigen Auge vorbeiziehen ohne auch nur das Geringste davon zu verstehen, schließen sanft die Augen und leiden still, aber unverbrüchs an der Schlappe gegen PSG.

      1. Falsche Stelle, Wald anstatt Wand und der Eindruck, als würde ich über mich sprechen, wo ich doch nur den Faun im Sinn hatte…

      2. Sollte hierhin.
        @Alain: Plato lässt grüßen. ;-)

      3. Freut mich sehr, dass ihr alle noch einmal hier herein geschaut habt. :)

        Lieber Alain, deine Fabulierkunst bereitet mir wie immer große Freude und wenn du vom „lösen … aus den Fesseln der materiellen Gegenwart und dem passiven Erleiden des Lebens als ewigem Reagieren auf äußere Impulse“ schreibst, dann sehe ich vor meinem geisigen Auge eine Szene, in der niemand geringerer als Zinedine Zidane in die Luft springt, um einen Ball mit der Brust zu stoppen, um sich dann aus den Fesseln dieser materiellen Gegenwart zu lösen und sich noch in der Luft um den zu Boden fallenden Ball dreht, den er dann „losgelöst von Zeit und Raum, losgelöst von rationaler Kontrolle und logischem Verstehen“ immer noch in der Luft perfekt zu einem seiner Mitspieler passt. Das alles hatte natürlich überhaupt keine Auswirkungen auf den Verlauf des Spiels und schon Sekundenbruchteile später, war der Ball wieder beim Gegner, jedoch wäre die ätherische Schönheit dieses Moments durch lauten Torjubel nur gestört worden, während ein staunendes Schweigen des Publikums sie unterstrich.

        So geht es mir dann auch manchmal beim Lesen deiner Worte, aber zum Glück kann man gleichzeitig staunend schweigen und dabei tippen, wobei ich dann doch noch ein wenig geschummelt habe, weil ein paarmal laut lachen musste. ;)

  10. @Alain Sutter: „Könnten wir zum Thema ‘Offensive’ zurückkehren?“

    In der aktuellen Folge des neuen „Phrasendrescher“-Podcasts von „Spielverlagerung“ erläutert Tobias Escher („Phrasen-Dr.Escher“) zum Thema „Kompakt stehen“, dass vor Jahren SKY seine Analysen allesamt durchgewinkt hat – außer der einen, in der er am Beispiel des HSV unter Gisdol zeigte, dass es auch eine offensive Kompaktheit gibt (während die Phrase zumindest im journalistischen Gebrauch etwa gleichbedeutend mit „Bus parken“ bzw. „kein Gegentor kassieren“ sei).

  11. Ich sehe es ähnlich wie der Artikelverfasser.

    Weshalb sollten wir auch nicht eine offensive Grundausrichtung haben? Wir sind nun mal meist der Favorit. Natürlich gibt es dann auch mal Spiele wie gg. PSG, wo man zuwenig Tore schießt und dann verliert.

    Aber sehen wir uns doch unsere Gegentore, welche natürlich zuviele sind, an: bei sehr vielen Toren waren einfache Verteidigungsfehler bzw. individuelle Patzer Schuld. Fußball ist halt auch ein „Fehlersport“, welche man in der Anzahl als Spitzenteam relativ gering halten sollte. Dies ist eine hohe Form der Qualität und Klasse.

  12. Hallo Alexander,
    herzlichen Glückwunsch zur Niederkunft, dein Kleiner ist wieder einmal sehr hübsch und interessant geworden, wobei man sich über seine Gesundheit streiten kann, aber daran möchte ich nicht mehr teilnehmen, da ich inzwischen sogar selbst meine toxischen Beiträge, deren Gift sich unvermerkt über den eigentlichen Gesprächsfaden hinaus verbreitet und auch die angrenzenden Diskussionen zu lähmen zu scheint, kaum mehr ertrage, mich zudem nicht ständig unverständlicherweise wiederholen möchte und inzwischen auch ein wenig den Glauben daran verloren habe, dass wir es jemals noch zustande bringen uns auf einem vernünftigen Terrain irgendwo in der intellektuellen Steppe zwischen uns zu treffen und stattdessen wie gehabt unsere ka­ri­ka­tu­ris­tischen Schattenkämpfe weiter betreiben, derweil ich vermute, dass diese Prahlerei nichts weiter als die leidlich verschleierte Unfähigkeit zweier alter Ideologen ist sich aufgrund der Höhe ihrer Rösser die Blöße der Unmöglichkeit des Herabsteigens einzugestehen und sie ihren Par­force­ritt in don quijotescher Manier als intellektuelle Selbstverteidigung begreifen, ein geistiges Überleben in der wohligen Wärme der Ursuppe der eigenen Voreingenommenheit, eine Ausweglosigkeit, die mich dazu veranlasst, dir heute in einem beiläufigen Satz Gruß, Dank, Zweifel und Adieu zukommen zu lassen.

  13. […] muss, sondern im Gegenteil für ein Team wie die Bayern sehr sinnvoll sein kann, haben wir in diesem Artikel ausführlich beleuchtet. Kurz zusammengefasst: Fußball ist ein low scoring game – […]

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