Analyse: Die Probleme des FC Bayern im Spielaufbau

Maximilian Trenner 16.02.2024

Louis van Gaal implementierte an der Säbener Straße einen Fußball, welcher von Angriffspressing und dominantem Ballbesitzfußball geprägt ist. Stets angreifend, einen Hang zur Disziplin vereint mit Kreativität, das waren die Leitlinien des Systems van Gaal.

Taktisch gestalte es sich so, dass bereits die Innenverteidigung die Basis für den Angriff schuf, daraufhin das Mittelfeld Raum überbrücken sollte, um die kreative Offensive zu füttern. Wichtig waren die technischen Fertigkeiten der Spieler und die Besetzung der Räume, um das angedachte Spiel ausführen zu können.

Nun werden sich manche Leser fragen, was denn das alles mit 2024 zu tun hat. Louis van Gaal gab Bayern München in seiner Amtszeit von Juli 2009 bis April 2011 eine Identität und eine Vision. Eine Vision, anders zu sein, eben „wir sind wir“, egal, wer „ihr“ seid. Man zieht also seine Vorstellung von Fußball durch – egal, welcher Gegner vor der Brust steht. Doch ist das heute auch noch so?

Die Grundidee unter Thomas Tuchel

Thomas Tuchel setzt im Spielaufbau meist auf ein klassisches 4-2-3-1, wobei es immer wieder kleinere Anpassungen in der Struktur gibt. So wird gerade die Position des defensiven Mittelfeldspielers mal freiheitlicher, wo die Spieler mehr auf den Flügel abkippen, mal etwas strikter interpretiert. Auch die Außenverteidiger-Positionen werden auf den Gegner angepasst. Hierbei kann man aber jeweils nur von marginalen Veränderungen sprechen, auch teils ungewollte durch das Verletzungspech.

Generell ist der FC Bayern eines der Teams in der Bundesliga, welches den Ball eher langsam über den Platz trägt. So dauert eine Aufbau-Sequenz laut Opta im Durchschnitt 13,8 Sekunden, was den Höchstwert der Liga darstellt.

Man versucht, mit Dreiecksbildungen durch die Linien zu „wandern“ und dann im letzten Drittel den Gegner mit individueller Klasse und einer hohen Besetzung zu überfordern.

Thomas Tuchel: Ein Blick in die Vergangenheit

Rückblickend war Thomas Tuchel in Dortmund und Mainz ein Trainer, der sich eher auf den Umschaltmoment fokussierte, ein wichtiger Punkt waren Rotationen im Spielaufbau, um gegnerische Strukturen zu brechen.

Bei PSG konnte er aufgrund der dominanten Position in der Liga auch eine offensivere Herangehensweise wählen und agierte mit hohen Außenverteidigern sowie zwei bis drei offensiven Mittelfeldspielern – die Grundidee bestand daraus, dass man die Kreativspieler wie Kylian Mbappé oder Neymar in Situationen bringt, wo sie glänzen können.

Auch beim FC Chelsea ließ er wie in Paris in einer Dreierreihe sowie einer breiten letzten Linie aufbauen – immer mit dem Fokus, dass man die offfenen Räume mit bestimmten Übergangsspielern wie Hudson-Odoi findet. Ähnlich wie bei den Bayern gab es immer wieder Situationen, in denen Chelsea nicht ausreichend hinter die gegnerische Abwehr vordringen konnten.

Die Versuche, Ballbesitz aufzubauen, mussten immer wieder neu gestartet werden, zumal die defensiven Mittelfeldspieler oft aggressiv gepresst wurden. Ein offensiver Mittelfeldspieler zog sich in die Räume zurück, die durch das Pressing frei werden, und schuf so Passmöglichkeiten nach vorne und eine Möglichkeit, dem Pressing zu widerstehen. Eine Rolle, welche er aktuell noch sucht, wobei Thomas Müller oft gute Ansätze zeigte und auch Musiala sich mehrmals im Spiel zurückfallen lässt.

(Foto: Alexander Hassenstein/Getty Images)

Die Schlüsselachse bestanden eigentlich immer zwischen der Zehn und der Sechs sowie zwischen den Flügelspielern und den Außenverteidigern. Die Positionierung dieser Dreiecke auf beiden Seiten des Spielfelds soll den Gegner zum Reagieren zwingen. Probleme waren oft, ein besseres Timing und eine bessere Dynamik im letzten Drittel zu finden, dazu oft das Momentum sowie Formkrisen einzelner Schlüsselspieler, wo sich der strukturierte Ballbesitz einschleifend oder gar schablonenhaft anfühlte.

FC Bayern: Der Rückblick auf das Topspiel am Samstag

Am Samstag reiste die Elf von Tuchel zum Spitzenspiel nach Leverkusen. Am Ende verlor der FC Bayern mit 0:3 gegen die Werkself, auch weil die offensive Durchschlagskraft fehlte. Anders als in allen 30 Saisonspielen änderte Thomas Tuchel sein System von einem 4-2-3-1 in ein 3-4-2-1.

Dieser taktische Kniff sollte in der Offensive wohl Breite erzeugen und mit der hohen Besetzung der letzten Linie auch die Defensive von Bayer ein Stück weit überfordern. Durch die breiten sowie hohen Flügelverteidiger sollten Räume für Sané und Musiala entstehen, in welche sie hineinstoßen sollten.

Diese Herangehensweise nutzte Xabi Alonso aus, so stellte man das Zentrum zu und verlagerte das Spiel auf die Außen, wo die spielerische Qualität der Bayern eher mau war.

Die Problemfelder unter Tuchel

Alonso schlug die Bayern sozusagen mit den eigenen Waffen. Doch dieses Problem fand sich nicht nur in diesem Spiel wieder, es gibt auch Problemfelder, die sich durch die Saison oder gar die Amtszeit von Tuchel ziehen.

Problemfeld 1: Probleme bei Raumverengung

Wie bereits angesprochen, hatte man am Samstag Probleme, da Bayer Leverkusen das Zentrum zustellte und somit auch die Passwege nach vorne. Diese Problematik sah man auch unter Julian Nagelsmann, weswegen Tuchel anstatt einem Sechser einen zweiten in seinen Aufbau integrierte, um zusätzliche Optionen im Passspiel zu schaffen. Bekannterweise sieht er auf der Sechser-Position eine Schlüsselrolle. Die Annahme, dass dadurch mehr Stabilität ins Spiel kommt, muss jedoch nicht immer richtig sein.

Denn ein defensiver Mittelfeldspieler steht unter Tuchel beim Spielaufbau immer mit Blick zum Tor und der Passweg vom Innenverteidiger in den Sechserraum ist oft im Aufbau durch die Zustellung des Gegners forciert. Durch dieses Pressing-Verhalten des Gegners, auch von Bayer Leverkusen, bleibt den Spielern oft nichts anderes übrig als einen Rückpass zum Innenverteidiger. Das Ergebnis ist, dass nun die Optionen weniger werden und der Gegner noch höher anlaufen kann.

Leverkusen oder Gladbach stellten dazu die erste Linie im Pressing sehr eng, um die defensiven Mittelfeldspieler möglichst von allen Seiten anlaufen zu können und ihm nur der Rückpass übrigbleibt. Ein Aufdrehen und das „Treiben“ des Balles, wie es sich Tuchel wünschen würde, ist somit unmöglich.

Dayot Upamecano und auch Min-jae Kim wurden so beispielsweise am Samstag dazu gezwungen, dass sie selbst Dribblings nach vorne wählen, um die Pressingfalle nicht zu bedienen. Dafür bietet sich die Dreierkette an, die Halbraumverteidiger bekommen mehr Freiheit als herkömmliche Innenverteidiger, es war eventuell auch Tuchels Antwort auf diese bekannte Problematik.

Problemfeld 2: Lange Bälle als Momentum-Brecher

Neben den dribbelnden Verteidigern wurden auch 32 lange Bälle zum Spielaufbau genutzt, gerade Neuzugang Eric Dier, der die zentrale Rolle in der Innenverteidigung eingenommen hat, spielte zahlreiche Bälle auf Sascha Boey und Leroy Sané, um die oben genannte Breite auch zu nutzen.

Dadurch entsteht allerdings eine gewisse Zweiteilung des Teams. Durch einen Aufbau mit übermäßig vielen langen Bällen entsteht keine Dominanz und kein Rhythmus im Spiel. Das von van Gaal eingebrachte „Überbrücken der Räume im Mittelfeld“ ist so nicht möglich und man überspringt eine Phase, weswegen der Übergang in die nächste „Kreativphase“ eher holprig abläuft.

Denn bei langen Bällen ist es oft so, dass aufgrund der Passlänge die Vorstellungen des Empfängers mit dem Ergebnis nicht übereinstimmen. Zeigt Boey einen Pass in die Tiefe an, werden nur vereinzelte Pässe in den gewünschten Raum ankommen. Die Gründe liegen auf der Hand: Der Gegner kann sich schnell auf den Pass einstellen und lange Bälle sind oft unpräzise.

Es kann zwar immer wieder ein Mittel sein, in der Offensive durch Tiefenläufe lange Bälle zu fordern, um den Gegner vertikal auseinanderzuziehen, doch zieht man sich selbst zu weit auseinander, wird man anfällig bei Ballverlusten – die gerade bei langen Bällen und Pässen nicht unüblich sind.

Eine Rolle spielt auch, dass Flügelspieler einfach oft nicht die besten Spieler im Luftzweikampf sind. So hat Boey nur 50 Prozent seiner Duelle in der Luft gegen Bayer 04 gewonnen. Den Effekt von verlorenen Luftzweikämpfen sollte man in einem Spiel nicht unterschätzen, denn oft kann ein Gegner einen in diesen Momenten ungeordnet auffinden.

Auch der mentale Effekt kann durchaus eine Rolle spielen. Selbst wenn der lange Ball ankommen sollte, findet der jeweilige Bayern-Spieler kaum Möglichkeiten zur Verarbeitung vor. Aus der Luft in kreative Situationen zu kommen wird aufgrund der gewissen Unkontrollierbarkeit der Bälle eher schwierig.

Dies widerspricht dem technischen und kreativen Fokus der vermeintlichen Philosophie. Oft werden lange Bälle als Mittel zum Zweck gesehen, darf das aber so sein? Wenn man sich den Anspruch stellt, mittels Kurzpassspiel aufzubauen, dann ist dieses Verhalten durchaus ein Anzeichen von fehlenden Strukturen oder fehlenden Automatismen. Oder noch schlimmer: Es sind „falsche“ Automatismen.

Problemfeld 3: Fehlende Kreativität und Statik

In den letzten Wochen war zu spüren, wie abhängig Bayern von individueller Klasse ist. Dynamik ist ein Prinzip von Thomas Tuchel – Räume öffnen, Breite suchen und dann die Lücken finden, so soll das Spiel aussehen. Doch Bayern ist gewissermaßen unberechenbar, dies kann man beispielsweise an gegenläufigen Bewegungen im Mittelfeld oder durch das Suchen von Eins-gegen-eins-Situationen erkennen.

Aber Unberechenbarkeit geht immer in beide Richtungen, dazu steht und fällt sie mit der Formkurve. Nicht umsonst konnte Bayern mit 4:0 in Dortmund durch eine taktische Meisterleistung in der Offensive gewinnen. Schaut man aber nun in die nähere Vergangenheit, dann ist es genau der Teil im Kader, welcher in einer Formkrise steckt. Da stellt sich die Frage, ob man vielleicht zu abhängig von einzelnen Spielern und deren Klasse ist.

Das bringt uns zu einer weiteren Komponente des Münchner Aufbauspiels: Der hohen Besetzung der letzten Linie. Diese Angriffslinie besteht aus den Flügelspielern, Harry Kane und Jamal Musiala. Nun ist es so, dass diese Spieler oft in Gleichzahl zur gegnerischen Abwehr agieren. Bayern hatte fünf Offensivspieler, Leverkusen fünf Verteidiger.

Nun möchte man den Gegner vor Aufgaben stellen: Geht der Innenverteidiger mit, wenn Kane abkippt, wie reagiert man auf die tiefen Läufe von Musiala? Hier stellt man gerade Gegner mit eher schwächerer individueller Qualität vor große Probleme, aber auch am Samstag in der BayArena war es Musiala, der wenigstens mit seinen Aktionen zwischen den Linien für Gefahr sorgte.

Auch gegen Gladbach zeigte sich, dass ein alleiniges Abkippen von Kane keinen Effekt hat, wenn die Anspielstationen in die Breite und nach vorne fehlen. Dazu sucht man aktiv Situationen, wo die Flügelspieler einen Zweikampf mit Außenverteidigern suchen, auch dieses Verhalten ist von Abhängigkeiten der Form, des Gegners und der individuellen Klasse geprägt.

Regelbrecher 2.0

Jede Schwäche bietet eine Lösung an. Der Gegner möchte, dass man wenig Raum im Zentrum hat, dann muss das ausgenutzt werden. Es wäre sinnvoll, wenn man einen ähnlichen Weg wie Brighton geht, dass man die Außenverteidigung enger positioniert und auch die Doppelsechs deutlich tiefer staffelt.

So hat man inklusive der Innenverteidigung sieben Spieler, die am Aufbau teilnehmen und eine numerische Überzahl. So kann man sich gegenseitig unterstützen und bei Ballverlust können gleich mehrere Spieler den Zweikampf suchen.

Auch das Abkippen von Kane könnte man einbauen, so könnte er einen Verteidiger vor die Frage stellen, ob er den Weg auch bestreitet und den Raum öffnet, oder eben nicht. Also genau das, was er gerne macht. Der Unterschied? Mit der hohen Anzahl in einem tiefen Aufbau „pinnt“ man auch Gegenspieler und schafft so Räume zwischen den Linien, die der FC Bayern bespielen könnte.

Dazu müssten sich die Flügelspieler sehr breit positionieren, was man aktuell ähnlich macht, und so die gegnerische Abwehrreihe auseinanderziehen. Hier würden dann wieder Musiala oder auch die Flügelspieler eine zentrale Rolle einnehmen, wie man die geöffneten Räume bespielen kann.

Eine zentrale Rolle in diesem System spielen dazu die defensiven Mittelfeldspieler, sie laufen nicht mit dem Blick zum Ball an, sondern immer seitlich (=horizontal), um den Ball verlagern zu können oder dass man sich drehen kann.

Das ist dahingehend wichtig, weil sich hierdurch direkte Anspielstationen ergeben (Bild 1), während es anders nur der Rückpass bleibt (Bild 2)

Dieses Verhalten in Bild 1 macht es möglich, dass man mit wenigen Stationen sechs gegnerische Spieler überspielt. Dazu erhöht sich von Linie zu Linie die Geschwindigkeit – so würde Musiala, wie vorhin erwähnt, ein Übergangsspieler sein. Die Flügelspieler sollten versuchen die Tiefe zu suchen, sobald die richtigen Räume durch abkippen geöffnet wurden.

Das Aufbau-Modell von Roberto De Zerbi würde dem FC Bayern guttun. Es würde genau an Stellen ansetzen, bei denen es aktuell hakt. Hohes Risiko, die Macht der Kreativität und auch ständige Entwicklung im Ballbesitz – es erinnert an das, was van Gaal mal indoktrinierte: „’Mia san mia‘, wir sind wir – und ich bin ich: selbstbewusst, arrogant, dominant, ehrlich, arbeitsam, innovativ!“

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