FC Bayern Frauen: Wie weit ist das Team wirklich?

Justin Trenner 06.10.2021

Als die sportliche Leiterin Bianca Rech vor zweieinhalb Jahren bei uns im Podcast zu Gast war, hat sie uns tiefe Einblicke in die mittel- bis langfristige Strategie der FC Bayern Frauen gewährt: „Wir haben eine Vierjahresstrategie erarbeitet und der Weg soll natürlich ganz klar nach oben gehen. Ein Ziel ist natürlich: Wir wollen die Wolfsburger da oben ablösen mittelfristig und in Europa diesen ersehnten Champions-League-Titel vielleicht auch irgendwann mal erreichen“, so Rech.

Heute, zwei Jahre später, blicken die Münchnerinnen auf die erst kürzlich gewonnene Meisterschaft und ein enges Champions-League-Halbfinale gegen den Chelsea WFC zurück. Es steht außer Frage, dass bei den Bayern aktuell vieles in die richtige Richtung läuft. Erstmals seit längerer Zeit gelang es ihnen, den Kader nicht nur zusammenzuhalten, sondern ihn darüber hinaus noch sinnvoll zu verstärken.

Schon in den ersten sechs Spielen der neuen Saison zeigt sich, dass Spielerinnen vom Format einer Saki Kumagai oder einer Sofia Jakobsson dem ansonsten nach wie vor in weiten Teilen jungen Team sehr weiterhelfen. Formschwächen oder Ausfälle wie jene von Sydney Lohmann oder Klara Bühl können durch die Breite im Kader aufgefangen werden. Gerade im Frauenfußball, wo das Verletzungsrisiko und auch die Ausfallzeiten nachweislich anders sind als bei den Männern, ist es nochmal wichtiger, möglichst viele Alternativen zu haben.

Wer gewinnt, hat recht sollte sich dennoch hinterfragen

Die individuelle Klasse der Bayern ist enorm. Es scheint, als hätten sie sich insbesondere vom unteren Teil der Bundesliga derart abgehoben, dass Patzer gegen solche Teams kaum noch möglich sind. Mit dieser Qualitätsveränderung gehen aber auch Erwartungen einher. Die Ambition, irgendwann im Konzert der ganz großen Teams mitzuspielen, äußerte Rech 2019 schon sehr offensiv.

Im Fußball wie im Leben allgemein ist es schwer, etwas zu kritisieren, was rein objektiv betrachtet erfolgreich ist. Die Bayern sind amtierende Meisterinnen, haben mit ihrer Kaderplanung gleich mehrere Statements gesetzt und scheinen auch in dieser Saison wieder Favoritinnen auf den Titel zu sein – insbesondere nach dem überraschenden Patzer der Wolfsburgerinnen bei formschwachen Freiburgerinnen (2:2).

Was genau soll bei 27:0 Treffern in sechs Partien bitte Angriffsfläche bieten? Dass die Bayern jetzt ausgerechnet zum Start der neu aufgelegten Gruppenphase in der Champions League gepatzt haben, ist deshalb womöglich sogar ganz gut. „Wer gewinnt, hat recht.“ So lautet eine bekannte Phrase. „Wer gewinnt und sich dennoch hinterfragt, hat gute Karten auf nachhaltigen Erfolg“ ist eben nicht ganz so knackig – aber zutreffender.

Dass es gegen Benfica nur zu einem 0:0 gereicht hat, ist deshalb vielleicht sogar positiv für die Bayern. Sowohl Scheuer, der ausgerechnet in der Champions League zur großen Rotation ansetzte und Asseyi in sichtbar ungewohnter Rolle als Achterin agieren ließ, um Magull und Zadrazil zu schonen, als auch die Spielerinnen bekamen damit einen Warnschuss zur richtigen Zeit.

Strukturelle Probleme der Bayern Frauen

Also rein in die Analyse. Woran müssen die Bayern Frauen arbeiten, um solch trostlose Auftritte wie gegen Benfica zukünftig zu vermeiden? Wer sich gestern nicht zwischen der Partie der Titelverteidigerinnen aus Barcelona gegen den Arsenal WFC und jener der Bayern bei Benfica entscheiden konnte, hat sich womöglich beides gleichzeitig angesehen.

Der Unterschied war frappierend. Auf der einen Seite Barcelona, die mit einer kaum greifbaren Dominanz eines der formstärksten Teams Europas hinten reingedrückt haben. Strukturell, taktisch, individuell – überall war Barça einen Schritt schneller und besser als Arsenal. Um jene abzuholen, die das Geschehen im Frauenfußball nicht ganz so intensiv verfolgen: Das ist in etwa so, als würde das Männerteam des FC Bayern einen Gegner wie Paris Saint-Germain oder Liverpool komplett chancenlos am eigenen Strafraum einschnüren und am Ende mit 4:1 besiegen.

Es ist nochmal beeindruckender, wenn man nebenher verfolgt hat, wie schwer sich die Bayern im Parallelspiel bei Benfica getan haben. Dass Benfica qualitativ eine andere Hausnummer ist als die meisten Bundesligateams, war offensichtlich. Dennoch hätte man von den Münchnerinnen erwarten können, dass sie Benfica ähnlich vielseitig bespielen wie der FC Barcelona es mit Arsenal getan hat.

Zu wenig Dominanz durch Spielstärke

Abermals offenbarten sich bei den Deutschen Meisterinnen aber strukturelle Probleme. Schon in der Bundesliga haben sie ihre letzten Partien eher über individuelle Klasse, Wucht und das Erzwingen des Zufalls gewonnen. Gegen Köln war es beispielsweise eher physische als spielerische Dominanz, aber die Aufsteigerinnen konnten den Bayern zu wenig entgegensetzen. Anders war es gegen Benfica, die körperlich und taktisch mit weitgehend gutem Defensivverhalten dagegen gehalten haben und die eine oder andere Situation im Umschaltspiel nach vorn fahrlässig liegen ließen.

Lina Magull, Sarah Zadrazil, Sydney Lohmann, Linda Dallmann und Saki Kumagai – eigentlich sollte man bei dieser Besetzung davon ausgehen, dass Kontrolle im Mittelfeld eher kein großes Problem sein sollte. Tatsächlich ist es das aber schon – ja, eigentlich schon in der gesamten Ära unter Jens Scheuer. Mal mehr, mal weniger. Wobei das „weniger“ hier eher von der individuellen Verfassung der Spielerinnen abhängt als von tatsächlichen strukturellen Verbesserungen.

Das Spiel ist unter Scheuer sehr auf die Flügel ausgelegt. Mit Lineth Beerensteyn, Viviane Asseyi, Klara Bühl, Giulia Gwinn, Maximiliane Rall, Hanna Glas und der flexibel einsetzbaren Sofia Jakobsson haben die Bayern hier auch sehr viele verschiedene Arten von Spielerinnen in ihren Reihen. Spielerinnen, die gern in den Halbraum einrücken, Spielerinnen, die lieber die Breite halten, Außenverteidigerinnen mit Offensivdrang, dribbelstarke Spielerinnen und Spielerinnen, die gern die Kombination mit den Mitspielerinnen suchen – wer sich so viel Flexibilität auf den Außenbahnen leisten kann, hat die Qual der Wahl.

Probleme beim Flügelfokus

Und doch scheint der Flügelfokus zu berechenbar zu sein. Gegen die vollkommen unterlegenen Kölnerinnen schafften die Bayern es bereits kaum, das Zentrum gegen ein kompakt verteidigendes Team zu halten. Magull ließ sich immer wieder tief fallen, um Bälle abzuholen und Zadrazil kippte gern mal rechts heraus, um sich dem Druck durch Gegenspielerinnen zu entziehen und womöglich auch, um die aufrückende Glas abzusichern. Teilweise kam es in Ballnähe somit zu einer Dreifachbesetzung des Flügels.

Grafische Annäherung an die Strukturprobleme der Bayern in Köln. (Erstellt mit der App Tacbo)

Durch die breite Viererkette, die vielen Spielerinnen in der Angriffslinie und die oft herauskippende Achterin Zadrazil soll der Gegner auseinandergezogen werden. Sowohl die Abwehr- als auch die Mittelfeldreihe muss, will sie die Breite des Spielfelds entsprechend abdecken, die horizontalen Abstände erweitern. Das bietet den Aufbauspielerinnen der Bayern in der Theorie die Möglichkeit, die nun größeren Zwischenräume im Zentrum zu besetzen und zu bespielen. Außerdem können die Bayern mit der U-Struktur den Flügelraum gut absichern und verteidigen.

Trotzdem gibt es aber drei grundlegende Probleme:

  • Erstens fehlt in der Offensive Bewegung. Es gibt zwar immer mal wieder Positionswechsel, aber die Zwischenräume werden zu inkonstant besetzt. So inkonstant, dass es zufällig wirkt. Die einzige Spielerin, die sich regelmäßig fallen lässt, um sich zwischen den Linien anzubieten, ist Dallmann.
  • Zweitens ist diese Struktur sehr anfällig für Konter, wenn der Ball zentral verloren wird. Die in der Grafik dargestellte Raumverteilung zeigt an, welche Spielerin in welcher Zone des Spielfeldes am schnellsten am Ball wäre. Ignoriert werden dabei Handlungsschnelligkeit und Tempo der jeweiligen Spielerin. Der Raum zwischen der Aufbaulinie und den Angreiferinnen ist dominiert durch die Farbe Blau. Wird der Ball hier verloren, ist das Gegenpressing deutlich erschwert.
  • Drittens zirkuliert der Ball in der U-Form sehr berechenbar über den Platz. Gegnerinnen können schnell verschieben und sich auf die Angriffe der Bayern einstellen.

Lösungsmöglichkeiten: Kleine Anpassungen oder große Innovation?

Lösungsmöglichkeit 1 (Erstellt mit der App Tacbo)

Lösungsmöglichkeit 1 zeigt nun eine alternative Positionierung im Rahmen des durch Scheuer vorgegebenen Systems. Wenn Magull ihre Position zwischen Angriff und Mittelfeld hält und Zadrazil dennoch nach außen kippt, kann Kumagai andribbeln. Lässt sich Dallmann nun in den Zwischenraum fallen, kann sie sowohl auf Zadrazil außen als auch auf Magull innen klatschen lassen. Rall und Schüller könnten wiederum in die Tiefe starten oder sich ihrerseits für einen Kurzpass anbieten.

Ab und an machen die Bayern das sogar sehr gut. Die Struktur ist also keinesfalls immer so unvorteilhaft wie oben beschrieben. Weil das Angebot durch mangelndes Laufspiel aber in vielen Phasen zu mager ist, spielen die Münchnerinnen im Aufbauspiel sehr schnell auf die Flügel, was zu den beschriebenen Problemen führt.

Lösungsmöglichkeit 2 (Erstellt mit der App Tacbo)

Um die Struktur insgesamt zu verbessern, könnte Scheuer sich auch Inspiration bei Kollege Julian Nagelsmann holen, mit dem er sich neulich auch am Trainingsplatz unterhalten hatte. Eine Struktur, die nicht ganz so stark auf Breite, dafür aber auf eine engmaschige Besetzung des Zentrums ausgelegt ist, könnte dazu führen, dass die Bayern gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen:

  • Einerseits sind die Abstände zueinander geringer, was das eigene Gegenpressing vereinfacht. Im Vergleich zu den Grafiken oben ist der blaue Raum im Mittelfeld deutlich kleiner. Die Bayern sind im Anlaufen sehr stark und könnten hier noch entscheidende Prozentpunkte rausholen.
  • Andererseits könnte Scheuer seinen Außenspielerinnen damit zu mehr Raum verhelfen. Gegnerinnen müssen sich stärker aufs Zentrum konzentrieren, was dazu führt, dass die offensiven Flügelspielerinnen – hier Gwinn und Rall – häufiger ins Eins-gegen-eins kommen könnten.

Viele Flanken helfen viel?

Denn in der Konsequenz bedeutet die aktuell sehr breite Struktur, dass die Bayern sich abhängig von Flanken machen, die sie wiederum in vielen Fällen suboptimal vorbereiten. Der Ball geht zur Außenverteidigerin und von dort zur weit nach außen gerückten Acht oder direkt zur Flügelspielerin. Selbst Teams aus dem Tabellenkeller schaffen es, während dieses kleinteiligen und wenig überraschenden Aufbaumusters rechtzeitig zu verschieben. Oft bleibt den dann gedoppelten Außenspielerinnen also nur der Pass zurück oder eine Flanke.

Weil die Bayern viele Spielerinnen im Strafraum haben, entsteht dadurch auch häufig Gefahr. Gerade in der Bundesliga haben sie so bereits viele Tore erzielt. Kommt die Hereingabe aber nicht an, landen zweite Bälle zu selten bei den Roten. Gerade gegen Benfica war das auffällig. Von insgesamt 35 Flanken(!) kamen nur 4(!!) an. Würde es frei zugänglich eine Statistik geben, die misst, wie oft die Bayern die Rebounds dieser Hereingaben eroberten, wäre der Prozentsatz wohl recht gering.

In der Bundesliga werden diese strukturellen Probleme eher kein großes Gewicht haben. Und es ist an dieser Stelle abermals wichtig zu erwähnen, wie gut sich das Team in den vergangenen Monaten entwickelt hat. In den allermeisten Partien sind die Bayern schon individuell derart überlegen, dass eine zufällige Flanke, ein Standard oder ein Dribbling den Ausschlag geben werden. Und als Team sind sie mittlerweile so gefestigt, dass sie Momente der strukturellen Unordnung mit Einsatz, Physis, technischer Qualität und Laufbereitschaft überspielen können.

Zeit für den nächsten Schritt

Doch in der Champions League wird das allein nicht reichen. Schon deshalb ist die Reform der UEFA ein großer Gewinn. Früh in der Saison müssen die Bayern sich gegen andere Größen Europas beweisen, ohne direkt ein Ausscheiden zu fürchten. Aber auch abseits des alten Grundsatzes, dass ein gutes Pferd nur so hoch springt, wie es muss, sollte das Trainerteam daran interessiert sein, die strukturellen Schwächen möglichst schnell zu beheben.

Ein weiterer Grundsatz, der nicht knackig genug ist, um es in die ungeschriebenen Fußballgesetze zu schaffen, lautet: Wer seine Gegner:innen strukturell kontrolliert, wendet letztendlich weniger Kraft auf als jene, die ihre Gegner:innen über Physis oder individuelle Qualität zu kontrollieren versuchen.

Niemand beweist das im Frauenfußball eindrucksvoller als der FC Barcelona. Und auch wenn die Bayern gemessen am von Bianca Rech damals erläuterten Vierjahresplan schon sehr weit sind, muss Raum für Kritik erlaubt sein. Denn der Weg zur erhofften Konkurrenzfähigkeit an Europas Spitze ist immer noch weit. Trotz eines tollen Champions-League-Halbfinals im letzten Jahr. Trotz der Meisterschaft. Der Kader des FC Bayern bietet viel und in dieser Saison wird es Zeit, dieses Potential auch auf hohem Niveau auszureizen.



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