Die fünf Phasen des Ausscheidens

Maurice Trenner 16.03.2019

Nach dem Spiel fühlte ich mich seltsam taub. Zwar war der FC Bayern auch in den letzten Jahren am großen Ziel, dem Europapokaltitel, gescheitert, doch dieses Mal fühlte ich mich anders – irgendwie leer. Seitdem kamen und gingen viele unterschiedliche Gedanken und meine Gefühlswelt drehte sich mehrfach, als ob ich fünf Phasen des Ausscheidens durchleben würde.

1. Leugnen: Aber das Hinspiel

Das Medienecho nach dem Hinspiel an der Anfield Road war überwältigend. Der Spielverlagerung-Autor Constantin Eckner schrieb für T-Online “Warum Bayern stolz auf das Remis sein kann”. Julien Wolff schrieb für die Welt gar “Warum Kovac der große Gewinner bei den Bayern ist”. Auch ich habe mich rückblickend blenden lassen.

Im Vergleich zu den schlimmsten Erwartungen direkt nach der Auslosung hatte der FC Bayern tatsächlich überraschend gut abgeschnitten. Reichten die Befürchtungen im Dezember noch bis hin zu einer Blamage (selbst Kovač sprach vom “schwersten Los”), so hatte man dem damaligen Tabellenführer der Premier League, der in der Spitze stärksten Liga der Welt, ein Unentschieden abgetrotzt.

Doch ist alles Gold, was glänzt? Der Plan von Kovač für das schwierige Auswärtsspiel war simpel: Hinten zu null spielen. Von Beginn an legten die Münchner den kompletten Fokus auf die Defensive. Sie wollten den Gegner durch Kompaktheit und Absichern seiner Stärke im Konterspiel berauben.

Und doch muss man auch sagen, dass Bayern im Hinspiel Glück hatte. Glück, dass Mané einen Schuss aus der Drehung nicht aufs Tor bringt. Glück, dass Matip einen Eckball am Tor vorbei köpfte. Und Glück, dass Salah für einen langen Pass von Henderson einen Schritt zu spät kam.

Im Rückblick wirken viele Dinge anders und doch war der Optimismus nach dem Hinspiel aus der Retrospektive nicht angebracht. Die Schwächen der Münchner, nämlich Unkonzentriertheiten in der Defensive sowie Lücken im Verbund, wurden an diesem Abend einfach nicht bestraft.

2. Enttäuschung: Kein Plan, kein Kampf

Das bringt uns zum Rückspiel und damit einem der schwächsten Spiele der Münchner in jüngster Vergangenheit. Ich bin heute im Verlauf des Tages nochmal die größeren Niederlagen der vergangenen Jahre im Kopf durchgegangen, um ähnlich schwache Spiele zu finden.

  • Paris SG – FC Bayern 3:0, CL-Vorrunde 2017/18: Das Prestige-Duell um den ersten Platz in der Gruppe B der Champions League ging grandios schief. Im letzten Spiel unter Trainer Ancelotti zeigten die Münchner eine desolate Vorstellung und verloren vollkommen verdient deutlich mit 3:0. Am Ende war es aber nur ein Gruppenspiel, in dem wohl hauptsächlich der Job des Trainers auf dem Spiel stand. Mit seiner Personalwahl – unter anderem ohne Hummels, Boateng, Ribéry und Robben – verkrachte Ancelotti sich endgültig mit der Mannschaft. Seine Entlassung folgte bereits am nächsten Tag.
  • VfL Wolfsburg – FC Bayern 4:1, Bundesliga 2014/15: Im ersten Spiel nach der Winterpause wurde Bayern extrem kalt erwischt und von Wolfsburg, angeführt von einem überragenden Kevin de Bruyne, vor allem in Kontersituationen regelrecht auseinander gespielt. Die Abwehr rund um Dante war komplett überfordert und wirkte zu keinem Zeitpunkt stabil, während der Angriff ohne Ribéry nicht in Erscheinung trat.
  • FC Barcelona – FC Bayern 4:0, CL-Viertelfinale 2008/09: Die Mutter aller Niederlagen. Ein unerfahrenes Bayern-Team kam mit Trainer-Neuling Klinsmann im Camp Nou komplett unter die Räder. Eine Machtdemonstration und auch ein Zeichen, dass dem deutschen Meister international noch einiges fehlte.
  • Zenit St. Petersburg – FC Bayern 4:0, UEFA-Pokal-Halbfinale 2007/08: Eine Niederlage so vernichtend, dass lange Zeit sogar über Spielmanipulation spekuliert wurde. Der Traum vom UEFA-Pokalsieg wurde im kalten St. Petersburg jäh zerstört. Gegen eine Mannschaft aus einer vermeintlich zweitklassigen Liga so zu verlieren, zeigte den Münchnern mit schonungsloser Offenheit die eigenen Grenzen auf.
  • FC Bayern – Real Madrid 0:4, CL-Halbfinale 2013/14: Die erste Guardiola-Saison gipfelte in dem Duell gegen den spanischen Rekordmeister Real Madrid im Halbfinale der Champions League. Nachdem man das Hinspiel mit 0:1 verloren hatte, wollte man im Rückspiel an die vergangene Triple-Saison anknüpfen. Wohl auf Drängen der Spieler stellte Pep auf die im Vorjahr grandiose Doppelsechs mit Schweinsteiger und Martínez um – ein Plan der schief ging. Durch zwei Kopfballtreffer von Ramos, sowie zwei Tore von Ronaldo erlebten die Münchner einen der dunkelsten Tage der Vereinsgeschichte.

Einen Unterschied gibt es dennoch zwischen der Pleite im April 2014 und dem Ausscheiden gegen Liverpool am Mittwochabend: Das Team von Guardiola wirkte bis in die Haarspitzen motiviert. Man wollte ganz Europa zeigen, dass man den Erfolg aus dem Vorjahr wiederholen kann.

Gegen Liverpool allerdings wirkten die Münchner von Anfang an verunsichert. Verunsichert von dem hohen Pressing des Gegners. Verunsichert, weil der Matchplan von Kovač sie so sehr in die Defensive zwang.

Nach dem 1:2-Rückstand war kein Aufbäumen zu erkennen. Die Mannschaft wirkte regelrecht gebrochen. Die fast gleiche Mannschaft, die scheinbar zuvor die alte Leichtigkeit wieder gewonnen hatte. Sieben der Spieler hatten im Frühjahr 2016 noch einen 0:2-Rückstand gegen Turin in zwanzig Minuten gedreht. Alles ist möglich im Fußball – dieser Spruch schien in diesem Moment nur den wenigsten ein Begriff zu sein.

Der Plan von Kovač hinten erneut kein Tor zu kassieren und vorne durch die individuelle Klasse eins zu erzielen, misslang. Zwar auch weil zum wiederholten Male in diesem Jahr Aussetzer von einzelnen Spielern zu Gegentoren führten. Hauptsächlich aber, weil selten eine Bayern-Mannschaft daheim so sehr die Rolle des Außenseiters annahm.

Sorgenfalten auf der Stirn von Niko Kovač. Ist der Kroate richtig für den FC Bayern?
Odd Andersen/AFP/Getty Images

In einem Spiel in dem Liverpool wahrhaft keine außergewöhnliche Leistung zeigte oder auf einen revolutionären Spielplan setzte, war man chancenlos. Der amtierende Deutsche Meister war ratlos – mit Ball, aber auch ohne.

Die Dominanz der vergangenen Tage ist längst verflogen. Der FC Bayern hat sich unter Trainer Kovač zu einer individuell besser besetzten Kopie von Eintracht Frankfurt entwickelt. Gegen schwächere Gegner in der Lage den Ball zu dominieren, fokussiert man sich in großen Spielen auf seine Defensive und versucht über Konter zu Toren zu kommen. Aber entspricht das noch dem Selbstverständnis des FC Bayern?

3. Verhandeln: Das Double ist möglich

Ist jetzt, wegen des ersten Ausscheidens im Achtelfinale der Champions-League seit 2011, gleich alles schlecht? Basel, Arsenal, wieder Arsenal, Donezk, Turin, schon wieder Arsenal, Besiktas. Liverpool war einer der schwierigsten Gegner in der Runde der letzten Sechzehn seit langem. Gegen den englischen Tabellenzweiten kann man mal ausscheiden.

Außerdem läuft es in der Liga doch mittlerweile vernünftig. Dank mehrerer Ausrutscher von Borussia Dortmund liegt man wieder auf Platz Eins. Und im Pokal geht es im Viertelfinale gegen Heidenheim, wobei der Hauptkonkurrent BVB schon ausgeschieden ist. Das Double ist möglich. Andere Bayern-Trainer hatten schon schwächere erste Jahre.

Ist jetzt gleich alles schlecht? Vielleicht muss man als Fan in einer Übergangssaison auch mit kleineren Brötchen zufrieden sein. Jedes Jahr im Europapokal im Halbfinale zu stehen ist eventuell auch einfach eine Utopie verwöhnter und selbstgefälliger Bayern-Anhänger.

Und doch gehen die Gedanken zurück zu dem Spiel. Ausscheiden darf man gegen Liverpool. Sich über 180 Minuten so zu präsentieren ist nicht akzeptabel.

Die Statistik weist 0,17 Expected Goals für Bayern im Rückspiel aus. In einem Spiel um Tod oder Gladiolen kam der Rekordmeister seltener gefährlich vor das gegnerische Tor als Nürnberg im völlig einseitigen Hinrunden-Duell.

Selten hat eine Statistik so schockiert und dennoch so akkurat die Realität wiedergegeben.

4. Depression: Wo geht es hin?

Das Selbstverständnis des FC Bayern – diesen Ausdruck habe ich bereits für das Spiel unter Kovač verwendet. Doch genügt der Trainer selbst diesem Anspruch? Sollte der Kroate teil der langfristigen Lösung für die Münchner sein und wie sieht diese aus? Traue ich dem Trainer-Novizen den großen Wurf mit dem FCB zu? Selten stellte sich diese Frage pressender als heute.

Die Saison des FC Bayern fühlt sich gerade an wie in den mittleren 2000er-Jahren. In der Bundesliga spielt man oben mit, der Titel scheint greifbar. Der Pokal ist sowieso drin. Und im Europapokal lässt man sich überraschen. Vielleicht kann man einen der großen Vereine an einem schlechteren Tag ärgern. Ist das die Zukunft des FC Bayern? Und kann das der Anspruch eines Vereins sein, der in der Deloitte Money-League jedes Jahr in den Top-5 liegt?

Enttäuschte und ratlose Gesichter auf dem Rasen nach dem Aus im Achtelfinale.
Odd Andersen/AFP/Getty Images

Wenn man die Aufstellung der beiden Teams gestern betrachtet fällt auf, dass die Münchner von den besten acht Spielern auf dem Feld maximal drei stellen. Auf internationalem Niveau ist der Kader der Münchner nicht mehr außer-, sondern nur gewöhnlich. Selbst mit der angekündigten Transfer-Offensive fällt es schwer zu glauben, dass die Münchner diesen Rückstand in der Qualität einfach so aufholen können.

Gerade wenn man bedenkt, dass die Geldbörsen der Konkurrenz noch besser bestückt sind als das berüchtigte Festgeldkonto. Der bayerische Transfersommer ist international eine gewöhnliche Transferperiode für die meisten großen Vereine. Zum Vergleich: Liverpool gab in den letzten beiden Sommern 168 Millionen bzw. 182 Millionen Euro aus.  

Umso wichtiger ist es für eine Mannschaft genau deswegen sich einen anderen Vorteil zu kreieren. Europaweit am besten schafft dies in den letzten Jahren wohl Atlético Madrid, die neben ihrer extremen Kontertaktik zudem auf harte Zweikampfführung sowie eine extreme Willenskraft setzen.

Kann Kovač dem FC Bayern diesen taktischen Vorsprung verschaffen? Die bisherige Saison scheint dies zu widerlegen. Zwar hat der Kroate vor wichtigen Spielen sich oft einen ordentlichen Matchplan zurechtgelegt, verpasste es jedoch im Spiel wichtige Anpassungen vorzunehmen.

Sollten die Verantwortlichen in ihrer Saisonanalyse zu einem ähnlichen Schluss kommen, so wäre die logische Konsequenz sich von Kovač zu trennen – egal, ob man das Double oder nur einen weiteren Titel holt.

Noch wichtiger scheint jedoch, dass der Verein einen gesamtheitlichen Plan aufweist. Eine Spielidee, die unabhängig vom Trainer in der ersten Mannschaft verfolgt wird und dann auch auf die Jugendmannschaften ausgerollt werden kann. Einen Leitfaden für Mannschaft und Funktionäre. Ein solches Konzept wäre genau der frische Wind in die teils verfestigt wirkende Struktur des FC Bayern, den ein neuer Kopf wie der in den Medien als Sport-Vorstand kolportierte Oliver Kahn nach München mitbringen könnte.

5. Akzeptanz: International nicht mehr oben

Abschließend kann die ernüchternde Bilanz nur sein, dass der FC Bayern vorerst aus der obersten Gruppe europäischer Elite verschwunden ist. Das Aus gegen Liverpool ist das Ende einer Ära, wenn man den deutschen Gazetten und auch Bloggern wie Tobias Escher glauben darf.

Eins ist klar: Die große Ära des FC Bayern, rund um ihre großen Spieler wie Arjen Robben, Franck Ribery, Philipp Lahm, Thomas Müller oder Bastian Schweinsteiger: Sie ist seit der Niederlage gegen den FC Liverpool endgültig vorbei. Und das nach den Siebziger und Neunziger Jahren größte Jahrzehnt des deutschen Fußballs auch.


aus „Das Ende einer Ära“ von Tobias Escher

Der Weg zurück an die Spitze wird ein steiniger und während das gesamte Expeditionsteam sowie der Leiter noch nicht feststehen, so sind einige Base Camps dennoch bereits aufgebaut. Der Aufmarsch fängt nicht auf Meereshöhe an.

Die Generation Lahmsteiger, die unser Autor Justin in seinem Buch treffend bezeichnet hat, mag am Mittwoch gegen Liverpool endgültig ihr Ende gefunden haben, doch eine neue Generation steht in den Startlöchern. Kimmich, Thiago und Coman könnten die Grundpfeiler dieser neuen Ära werden. Süle, Gnabry und Goretzka könnten wichtige Helfer auf dem Weg zurück nach oben werden.

Wichtig ist, dass Kimmich nicht der neue Lahm, Thiago nicht der neue Schweinsteiger und Coman der neue Robben werden kann. Das neue Gesicht des FC Bayern wird ein anderes sein – und das ist auch gut so.