Kovač und die Suche nach Balance

Tobias Trenner 15.03.2019

Das ist insofern interessant, als zum einen gerade Hummels sich noch im letzten Jahr sowohl in der Nationalmannschaft als auch beim FC Bayern mehrmals in erster Linie über einen Mangel an defensiv denkenden Spielern beklagt hatte; außerdem hätte durch das 0:0 im Hinspiel im Grunde ein erzielter Treffer durchaus genügen können, wenn man es denn geschafft hätte, ohne Gegentor zu bleiben und in einem Heimspiel nicht gleich derer drei zu kassieren.

An sich wäre also der Boden bereitet gewesen für die immer gleiche Litanei aus Sündenbekenntnis („individuelle Fehler“, „Chancenverwertung“) und Heilserwartung („müssen wir abstellen“), allein zu offensichtlich waren die Mängel im Offensivspiel, um diese nicht als entscheidend zu erachten.

Zur Rekapitulation: Man hatte gegen Liverpool in einem Alles-oder-nichts-Spiel eine komplette Halbzeit zur Verfügung, um mit zunächst einem, ab der 69. Minute dann mit zwei Toren das Viertelfinale zu erreichen und damit endgültig eine bereits verloren geglaubte Saison zu retten.

In einem Heimspiel, kein schweres Spiel vom Wochenende in den Knochen, keine wichtigere Aufgabe vor Augen. Doch mehr als anderthalb strukturierte Angriffe gelangen in den zweiten 45 Minuten nicht, es sprangen noch nicht einmal nennenswerte unstrukturierte Angriffsaktionen heraus, es gab kein wildes Anrennen mit dem Mute der Verzweiflung.

Kein Vergleich zu Spielen zurückliegender Jahre unter ähnlichen Vorzeichen wie gegen Atlético oder Juve, als man ebenfalls unbedingt ein bis zwei Tore schießen musste. Man spielte 45 Minuten auf die Fans der Südkurve zu, ohne diese auch nur ein einziges Mal etwas länger aus der Nähe zu Gesicht zu bekommen.

Die Mannschaft blieb in ihrem Vorwärtsdrang trotz der gebotenen Dringlichkeit seltsam gehemmt, als würde es sich nicht um das Rückspiel einer K.O.-Runde, sondern um ein gewöhnliches Ligaspiel handeln.

Geplante Lethargie

Es machte den Anschein (und die Interviews nach Spielende bestätigen diesen Eindruck), als wäre diese Lethargie oder – positiv ausgedrückt – Geduld zumindest bis zum 1:2 intendiert und dem Kovac’schen Kompaktheits-Mantra geschuldet gewesen, dessen Offensivkonzept nach dem erneuten Rückstand dann schlicht keinen Ansatzpunkt für eine Aufholjagd bot.

Denn „vorne geht eigentlich immer etwas, vielleicht eine Standardsituation“ mag solange eine gewisse Berechtigung haben, wie ein Tor zum Sieg oder zur Qualifikation genügen würde.

In einer Situation aber wie nach dem 1:2 in der 69. Minute, als man nun in gut 20 Minuten zwei Tore schießen musste, war jedem – Fans, Spielern, Trainer – bewusst, dass dies so wohl nicht mehr reichen würde. Da die Impulse von der Trainerbank (Goretzka und Sanches für Javi Martínez und James) für eine derartige Aufholjagd nicht hinreichend waren, wäre es notgedrungen Sache der Spieler gewesen, für einen Paradigmenwechsel zu sorgen und die Flucht nach vorne anzutreten.

Aber bis zum Schluss blieb man sich treu und verteidigte brav mit sechs Mann.

Es ist noch nicht lange her, da wurde in der hiesigen Medienlandschaft dem damaligen Bayerntrainer Guardiola angelastet, die Spieler in ein starres Taktik-Korsett zu zwängen, das diesen ihren Freiraum, ihre Individualität, ihre Spontaneität rauben würde.

Wenn überhaupt, dann trifft dieses Bild eher auf die Spielweise unter Kovač zu. Denn im Bemühen um Kompaktheit und Beibehaltung einer defensiven Grundordnung auch bei eigenem Angriff ist den Spielern ein Selbstverständnis abhanden gekommen, das über Jahre den Schlüssel dafür bot, Defensivbollwerke und rein destruktiv auftretende Gegner in die Knie zu zwingen: Nämlich dass alle 11 Spieler am Angriff partizipieren und nicht nur 3-5 mehr oder minder vom Rest der Mannschaft isolierte Offensivspieler, die sich so konstant in Unterzahlsituationen behaupten müssen.

Das reicht in den meisten Bundesligaspielen und führt in der Regel auch noch gegen europäische Vereine der Mittelklasse zum Erfolg, aber dafür, um auf allerhöchstem Niveau auftrumpfen zu können, reicht die individuelle Klasse der Bayernspieler in einem derartigen System schlicht nicht aus.

Einzig Coman in Top-Verfassung wäre zuzutrauen, sich mit seiner Dribbelstärke und Geschwindigkeit auch in solchen Situationen, wo er nahezu auf sich alleine gestellt ist, in Duellen mit Mannschaften wie Liverpool oder Barcelona durchzusetzen.

Kompaktheit als Antwort auf die Krise

Dieses vorrangige Bemühen um Stabilität und Kompaktheit zieht sich bereits durch die gesamte Amtszeit von Niko Kovač als Trainer von Bayern München und ist von einer auf dem Prinzip von Trial & Error basierenden Methode geprägt, gegen die grundsätzlich nichts einzuwenden ist.

Die besten Trainer der Welt experimentieren an ihren Aufstellungen herum und versuchen, diese zu optimieren. Kennzeichnend für den Saisonverlauf ist jedoch, dass Kovač nach einem aus heutiger Sicht geradezu kühn anmutenden Manöver, als er im Bemühen um mehr Kreativität zu Saisonbeginn den alleinigen Sechser Javí Martínez durch Thiago ersetzte, immer vorsichtiger und defensiver wurde.

Was bei Ottmar Hitzfeld in dessen erster Amtszeit nahezu drei Jahre gedauert hatte, war unter Kovač ein Prozess weniger Monate, der durch jede Niederlage weiter beschleunigt wurde und schließlich in der Etablierung einer Doppelsechs bei zugleich stark limitiertem Aufrückverhalten mündete.

Frust und Ratlosigkeit aufgrund eines beschränkten Offensivgeists.
Odd Andersen / AFP / Getty Images

Da es bei Bayern München in den zurückliegenden Jahren beinahe zu einer Selbstverständlichkeit geworden war, in jedem Spiel dominant aufzutreten und permanent anzugreifen, wirkt es ungewohnt und irritierend, die Mannschaft nun derart tiefstehend und passiv zu erleben. Aber natürlich ist es das gute Recht eines Trainers, die Mannschaft nach den eigenen Vorstellungen aufzustellen und spielen zu lassen.

Es muss jedoch erlaubt sein, die Sinnhaftigkeit dieser tiefgreifenden und kaum auf den Kader zugeschnittenen Veränderung zu hinterfragen, wenn der gewünschte Effekt einer größeren defensiven Stabilität in keinem Verhältnis zur damit verbundenen Preisgabe offensiver Agilität und Durchschlagskraft steht.

Denn Niko Kovač ist es eben nicht gelungen, der Mannschaft eine andere, neue (Defensiv-)Identität zu verpassen. Allenfalls beim Hinspiel in Liverpool war etwas von einer Verinnerlichung der Defensivarbeit als sinnstiftendem Kitt eines Kollektivs zu spüren. Am Mittwoch dagegen ergab sich aus der selbstauferlegten Beschränkung des Offensivgeists keinerlei Mehrwert hinsichtlich der Abwehrarbeit.

Kaum vorstellbar, dass ein gewohnt offensiv auftretendes Bayernteam sich mehr als drei Gegentore gefangen hätte. Allein der Verzicht auf Partizipation am Offensivspiel durch einen Großteil des Teams erhöht nicht automatisch die Qualität der Defensivarbeit an sich.

Was nun?

Der Verein muss sich fragen, ob man den Weg von einem in Europa gefürchteten, allzeit dominant auftretenden Top-Club hin zu einem lediglich noch schwer zu schlagenden und unangenehm zu bespielenden Team, den der Trainer Kovač offenbar gehen möchte, für angemessen und zielführend hält.

Sollte dies tatsächlich der Fall sein, dann müsste der Kader noch tiefgreifender umgestaltet werden als es bislang allem Anschein nach geplant ist. Dann wäre auch ein Lewandowski im Angriff ungeeignet und müsste durch einen schnellen Konterstürmer wie z.B. Aubameyang genauso ersetzt werden, wie es erforderlich wäre, in der Außenverteidigung auf gelernte Abwehrspieler anstelle von Mittelfeldspielern wie Kimmich oder Alaba setzen zu können. Diese sollten am besten noch kopfballstark sein, schließlich will man ja über Standardsituationen zum Erfolg kommen.

Denn der aktuelle Bayernkader ist nach wie vor so zusammengestellt, dass man davon ausgeht, permanent tiefstehende Gegner spielerisch aushebeln zu müssen. Vom Torwart über die Abwehrspieler bis hin zum Angriff sind es (bis auf ganz wenige Ausnahmen wie Javí Martínez) Spieler, die ihre größte Qualität eher in der Spielgestaltung als in der Spielzerstörung haben. Verabschiedet man sich aber von diesem gestalterischen Anspruch und sollen auch beim FC Bayern in Zukunft Verteidiger in erster Linie verteidigen, Mittelfeldspieler laufen und kämpfen können, dann hat das vorhandene Spielermaterial hinsichtlich dieses Aufgabenprofils schlicht kein internationales Format, gibt es eine Vielzahl besserer Spieler auf dem Markt.

Es dürfte unschwer zu erkennen sein, dass ich lieber die seit van Gaal etablierte Spielweise behalten und Niko Kovač beispielsweise durch jemanden wie Erik ten Hag ersetzen würde, als den Kader nach dessen Spielvorstellung umzubauen. Aber viel wichtiger ist, dass der Verein sich darüber klar wird, sich zuerst auf eine Spielweise festlegen zu müssen, dann einen dazu passenden Trainer zu suchen und erst in einem dritten Schritt sich um das nötige Spielermaterial zu kümmern.

Bei Niko Kovač ist der Verein genau andersherum vorgegangen, das Resultat war gegen Liverpool auf dem Platz zu sehen.