Vorschau: FC Bayern München – FC Sevilla

Justin Trenner 21.09.2020

Es ist aus vielen Perspektiven ein besonderer Abend, der den FC Bayern und auch Sevilla am Donnerstag erwartet. Im UEFA Supercup geht es nicht nur um einen weiteren Pokal, sondern auch um die Erkenntnis, wie sich eine Massenveranstaltung in einem Risikogebiet wie Budapest auswirkt. Rund 3.000 Bayern-Fans sind zugelassen, insgesamt sogar 20.000 Zuschauer*innen. Seit dem 1. September gibt es sogar ein grundsätzliches Einreiseverbot für Deutsche nach Ungarn – einzige Ausnahme: das Supercup-Finale.

Es ist mehr als streitbar, ob diese Entscheidung richtig ist. Letztendlich geht man zumindest ein großes Risiko ein. Bei einem Inzidenzwert von 35 pro 100.000 Einwohner*innen darf in der Bundesliga derzeit kein Spiel vor Publikum stattfinden. In Budapest liegt der Wert bei ungefähr 100 (Stand: 20. September 2020) – also in etwa doppelt so hoch wie in München.

Wie so oft wird sich erst im Nachhinein zeigen, ob sich die Bedenken dahingehend bestätigen werden. Und doch muss man unabhängig vom Resultat die Frage stellen, ob es der Fußball mit seiner erneuten gesellschaftlichen Sonderrolle wert ist, das Risiko überhaupt erst einzugehen.

FC Sevilla: Der Rekordsieger in der Europa League

Über den sportlichen Stellenwert des europäischen Supercups wird ebenfalls gern diskutiert. Schaut man sich aber die Spiele der vergangenen Jahre an, so waren das stets unterhaltsame Partien auf meist sehr hohem Niveau. Auch der FC Bayern und Sevilla würden den Pokal gern mitnehmen, um ihrem herausragenden Jahr eine weitere Krone aufzusetzen.

Für die Spanier ist es dabei der Start in die Saison. Kaum jemand kann derzeit seriös beurteilen, wo der Europa-League-Sieger steht, weil die ersten beiden Spiele gegen Atlético Madrid und den FC Elche verlegt wurden. Kadertechnisch hat sich hingegen nicht viel verändert. Zwar verließ den Klub mit Éver Banega (32) ein Urgestein des spanischen Fußballs, doch konnte Sevilla auf dem Transfermarkt gut nachlegen. Ivan Rakitic (31) kehrte für zunächst 1,5 Millionen Euro zurück (Summe kann durch Boni noch ansteigen), nachdem er 2014 von Sevilla nach Barcelona wechselte. Auch das Ende der Leihe von Sergio Ruguilón (23) konnte mit dem Transfer von Marcos Acuña (28) zumindest theoretisch gut aufgefangen werden. Der Argentinier ist schnell, dynamisch und flexibel einsetzbar, kann also nicht nur links hinten aushelfen, sondern auch im Mittelfeld.

Darüber hinaus verpflichteten sie mit Suso (26) für 24 Millionen Euro einen Spieler vom AC Mailand, den sie zuvor für ein halbes Jahr ausgeliehen hatten. Der Spanier kam in 23 Pflichtspielen allerdings nur auf zwei Tore und eine Vorlage. Erwähnenswert ist sonst noch die Verpflichtung von Óscar Rodriguez (22) von Real Madrid für 13,5 Millionen Euro. Während seiner Leihe zu Leganés konnte der offensive Mittelfeldspieler in Ansätzen überzeugen und geht nun den nächsten Schritt zu einem starken Klub, der in Europa viel Anerkennung genießt.

In der Ruhe liegt die Kraft

Schließlich ist Sevilla der Rekordsieger der UEFA Europa League beziehungsweise auch des alten UEFA Cups. Sechs Mal standen die Spanier in einem Finale (2006, 2007, 2014, 2015, 2016 und 2020), sechs Mal holten sie den Pokal. Der letzte Finalgegner Inter Mailand steht mit drei Pokalen auf Platz 3 der Liste. Allerdings gelang es Sevilla nur ein einziges Mal, dann auch den europäischen Supercup zu gewinnen – und zwar 2006 gegen Barcelona.

Sevilla spielt einen Fußball, der nicht nur sehr typisch für die spanische Fußballkultur ist, sondern auch klar die Handschrift des Trainers Julen Lopetegui trägt. Der 54-Jährige legt viel Wert auf einen kontrollierten und gut organisierten Ballvortrag und damit verbunden auch auf eine hohe Passgenauigkeit. Mit 392,7 angekommenen Kurzpässen pro Spiel stand Sevilla in der abgelaufenen La-Liga-Saison auf Platz 3 hinter Real Madrid (458,4) und Barcelona (598,3).

Lopetegui will ein geduldiges Spiel seiner Mannschaft sehen. Dabei hilft ihm auch der extrem erfahrene Kader. Lieber wird nochmal der eine Pass mehr nach hinten gespielt, als dass ein zu großes Risiko eingegangen wird. Dafür haben es die Angriffe in sich, wenn Sevilla das Tempo schlagartig erhöht.

Sevillas ungefähre Grundordnung in Ballbesitz

Das Positionsspiel ist in Ballbesitz durch recht typische 4-3-3-Strukturen geprägt: Hoch agierende Außenverteidiger, die durch breite Innenverteidiger und einen oft abkippenden Sechser abgesichert werden. Außerdem Flügelspieler, die sich eher in die Halbräume orientieren, um mit ihren Laufwegen einerseits Raum für die Außenverteidiger zu erlaufen und andererseits das Mittelfeld und den Neuner zu unterstützen.

Probleme im Angriffsdrittel

Gerade die beiden Achter haben im Spiel eine große Verantwortung. Sevilla agiert grundsätzlich sehr flügellastig, braucht über die Mittelfeldspieler aber Momente der Entlastung und vor allem auch der Überraschung. Im Verlauf der letzten Saison gab es hin und wieder das Problem, dass die Achter nicht die Verbindung zwischen Aufbau- und Angriffsdrittel herstellen konnten. Mitunter standen sie dann zu tief und hochpressende Gegner – wie es der FC Bayern sein wird – konnten nicht mal eben überspielt werden, weil es hinten zu eng und gleichzeitig der Abstand nach vorn zu lang wurde.

Auch wenn es sicher nicht die Regel ist, so kann Bayern durchaus mit seinem Angriffsmomente erzwingen, in denen Sevilla es mit dem Kurzpassspiel übertreibt. Werden die beiden Achter dazu gezwungen, sich tief fallen zu lassen, fehlt dem Spiel der Spanier die notwendige Tiefe für gefährliche Angriffe.

Gerade im Offensivspiel fehlt es Sevilla meist an Überraschungsmomenten um gut organisierte Defensivreihen zu knacken. Es ist nahezu typisch für sie, dass sie den Ball gut laufen lassen können, es dann aber aufgrund des recht langsamen Ballbesitzspiels an Räumen fehlt. Zumal es an Unterschiedspielern im letzten Drittel fehlt, die auch mal aus sehr wenig Raum viel machen können. Lopetegui hat noch kein richtiges Mittel gefunden, um das kontrollierte Spiel seiner Mannschaft weniger vorhersehbar zu machen. Paradoxerweise ist es gleichzeitig die große Stärke des Teams, dass sie Ballkontrolle haben und auch unter Druck kluge Entscheidungen treffen, aber eben auch die große Schwäche, dass aus dem Stand heraus zu wenig Fahrt aufgenommen werden kann.

Bayern vor erstem Gradmesser?

Interessant wird es am Donnerstagabend vor allem deshalb, weil Sevilla nicht darauf angewiesen ist, die Räume in Bayerns Defensive zu erlaufen oder zu öffnen. Stattdessen müssen sie dafür sorgen, dass der Champions-League-Sieger immer wieder den Ball verliert. Sevilla wird dieses Vorhaben wahrscheinlich aus einem Mittelfeldpressing heraus angehen. Das erlaubt es dem Team von Lopetegui offensiver herausschieben zu können und zugleich auch mal defensiver und noch kompakter zu verteidigen, wenn es keine Aussicht auf Ballgewinne gibt.

Verlieren die Bayern den Ball, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder die direkte Umschaltsituation mit den schnellen Flügelspielern im Halbraum, oder eine kurze Ballbesitzphase, um das Gegenpressing der Bayern zu triggern. Das birgt selbstverständlich Gefahren, aber Sevilla hat die technischen und taktischen Qualitäten, um die Pressingwellen der Bayern auch mal zu überspielen und sich so in vielversprechende Überzahlsituationen zu bringen.

Bayerns Form ist dennoch schon wieder überragend. Unter Flick gibt es so viele taktische Details, die aktuell schlicht auf absolutem Spitzenniveau sind, dass jeder Gegner der Welt Probleme bekommen würde. Es gibt klare, wiederkehrende Abläufe im Spiel des Triplesiegers, auf die man sich aber trotzdem nicht richtig einstellen kann. Weil eben einerseits die Durchführung dieser Spielzüge meist so extrem präzise ist, dass der Gegner keine Chance hat und andererseits jede Situation mindestens im Detail anders ist, obwohl man das Gefühl hat, sie bereits mehrfach gesehen zu haben.

Szenenanalyse: Bayerns Tor zum 6:0 gegen Schalke

Ein recht simples Beispiel, das gleich mehrere Prinzipien der Bayern gut erklärt, ist der Ballvortrag in der 69. Minute gegen Schalke.

Boateng eröffnet in Richtung Hernández, weil er sieht, dass Sané sich im Halbraum als Unterstützung anbietet. Eigentlich ist dieser Pass ein Risiko, weil Schalke bei Ballgewinn ziemlich viel Platz hätte. Doch er ist auch die theoretische Chance auf viel Raumgewinn. Durch die Bewegung von Sané wird der Außenverteidiger von Schalke mit herausgezogen, wodurch sich für Hernández die Chance auf einen Doppelpass bietet. Aber: Die Bayern merken in dieser Szene wahrscheinlich, dass die Offensivspieler nicht optimal positioniert sind und ein Durchbruch zu einem Ballverlust führen könnte – auch weil Sané einen sehr anspruchsvollen Ball spielen müsste, um Hernández bedienen zu können. Also spielt Hernández den Ball wieder zurück zu Boateng.

Dennoch zeigt die Szene das grundsätzliche Prinzip der Halbraumunterstützung. Sowohl die Flügelspieler als auch die Mittelfeldspieler sind nach Eröffnung des Spiels auf die Außenverteidiger stets darum bemüht, Passwege vom Flügel ins Zentrum oder in die Halbräume zu ermöglichen, indem sie sich klug zwischen die Linien bewegen und damit entweder Spieler aus ihren Positionen ziehen, oder sich selbst anspielbereit zeigen. Es ist ein stetiges Bewegungsspiel, in dem jeder Spieler genau weiß, was er zu welchem Zeitpunkt zu tun hat. Selbstverständlich müssen die Bayern es auf dem Platz auch intuitiv lösen, aber Flick scheint nur wenig dem Zufall überlassen zu wollen. Die Läufe der Spieler wirken durchgeplant und durchorganisiert. Sie repräsentieren Flicks konzeptionelle Detailverliebtheit.

In der konkreten Szene geht es dann mit einer Seitenverlagerung durch Boateng weiter.

Weil Schalkes Bastian Oczipka aber schnell verschiebt, gibt es Einwurf für die Bayern. Auch diese Szene steht trotz ihres Misserfolgs aber stellvertretend für ein Prinzip im Bayern-Spiel. Gegen Schalke spielten sie sehr viele Seitenverlagerungen, um Gnabry, Sané oder die Außenverteidiger in aussichtsreiche Positionen zu bringen. Im konkreten Beispiel wird deutlich, dass Schalke die linke Seite dicht gemacht hat und Bayern dort klar in Unterzahl ist. Bayern hat also das Herausschieben des Gegners getriggert und es geht nun darum, eine Lösung zu finden, um das Aufrücken für sich zu nutzen. Die Seitenverlagerung soll hier das starke Verschieben der Gäste zum Vorteil machen. Da Gnabry aber nicht breit genug steht, ist der Weg von Oczipka recht kurz und er kann zum Einwurf klären. Schalke nutzt die gewonnene Zeit zum Verschieben.

Nach der Ausführung des Einwurfs sind die Bayern ganz schnell positioniert – sowohl für einen eigenen Angriff auf die Defensivreihe der Schalker, als auch für ein Gegenpressing, falls nötig. Sie bilden nicht nur Dreiecke, sondern auch Rauten, hinten sichern drei Spieler ab, in Ballnähe stehen Kimmich und Gnabry bereit, falls der Ball verloren wird. Pavard hätte die Möglichkeit, durch die Bewegung von Müller den Ball diagonal zwischen die Linien zu bringen, Müller hat durch die Positionierung von Lewandowski ebenfalls sofort wieder eine Anspielstation. Innerhalb von Sekunden spannen die Bayern ein Netz, das ihnen alle Möglichkeiten gibt. Pavard aber nutzt nicht die erstbeste Gelegenheit, sondern spielt den Ball nochmal zurück. Womöglich auch, weil die Anschlussoptionen nach Müllers Pass auf Lewandowski nicht allzu rosig wären. Pavard spielt Gnabry an, der hat sofort Kimmich als Anspieloption und dann wird über Süle neu aufgebaut. Auch hier also trotz der Entscheidung nicht anzugreifen das Prinzip der Halbraumunterstützung, aber eben auch das Prinzip, in Ballnähe möglichst viele Optionen für ein Gegenpressing zu haben. Tiefe, Risiko und gleichzeitige Absicherung.

Dadurch, dass die Bayern sich aus der engen Spielsituation herausbewegen, zieht sich Schalke vertikal ein Stück auseinander und öffnet den Zwischenlinienraum. Süle dribbelt sofort wieder an, Kimmich öffnet ihm durch seinen Laufweg die Schnittstelle und Müller bietet sich im Zwischenraum an. Gleichzeitig bewegt sich Tolisso bereits vorausschauend in den roten Bereich zwischen den Verteidigungsketten des Gegners und auch Lewandowski antizipiert die Situation, indem er zum Sprint in den Strafraum ansetzt. Man könnte dieses immer wieder auftretende Prinzip als „Kommen und Gehen“ bezeichnen. Die Bayern sind stets damit beschäftigt, gegenläufige Bewegungen auszuführen. Einige Spieler sprinten in die Tiefe, um die Kette nach hinten zu drücken, andere bewegen sich zwischen die Linien, um den Raum zu nutzen. Es gibt keine feste Zuordnung von Rollen in dem Sinne, dass es immer Müller ist, der sich fallen lässt. Aber die Bayern schaffen es dennoch, fast immer gut aufeinander abgestimmt zu sein und so kommt es fast nie zu Missverständnissen.

In der Szene steht Lewandowski jetzt frei zwischen dem zweiten Innenverteidiger und Oczipka, der von außen zulaufen will und auch bei Tolissos Bewegung kommt Schalke nicht schnell genug hinterher. Gleich drei Spieler fokussieren sich auf Müller, der genug Zeit hat, um den Pass zu Tolisso zu spielen.

Tolisso schaltet schnell und spielt den Ball direkt zu Lewandowski, der nun halbrechts frei durch ist. Eigentlich verschläft der Pole den Abschluss, durch seinen hervorragenden Rabonatrick gelingt es ihm aber, den nachrückenden Müller zu bedienen und es steht 6:0. Auch das ist bei den Bayern sensationell: Obwohl Lewandowski im Prinzip frei durch ist, gelingt es ihnen, innerhalb von Sekunden drei Spieler in der Mitte des Strafraums gestaffelt anzubieten.

Ist der FC Bayern überhaupt zu stoppen?

Sie spielen mit einem unfassbaren Druck und einer kaum zu verteidigenden Präzision. Und auch wenn Schalke ihnen viel angeboten hat, so ist es beeindruckend, wie konsequent die Bayern ihren Prinzipien folgen, ohne dabei ausrechenbar zu sein.

Gegen Sevilla wird das ganz sicher der Schlüssel zum Erfolg sein. Aber es ist eben auch die Konterabsicherung, die noch stärker in den Fokus rücken wird. Sevilla ist ballsicherer als Schalke und kann aus der einen oder anderen Situation vielleicht etwas machen. Vereinzelt lief Königsblau in 3-gegen-2-Situationen auf die Abwehrreihe der Bayern zu, konnte es aber nicht ausspielen – weil die Münchner sich in der Rückwärtsbewegung verbessert haben. Aber eben auch, weil sie einfach nicht die Qualität hatten.

Sevilla wird eine andere Herausforderung, da sind sich alle einig. Doch wer will die Bayern stoppen, wenn sie mit einer derartigen Flexibilität und einem so hohen Tempo agieren? Auf der Langstrecke könnte es womöglich nur die eigene Fitness sein, wenn der Kader nicht noch entscheidend aufgestockt wird. Doch auch das zeigt die analysierte Szene eindeutig: Die Bayern sind dabei, sich in Ballbesitz häufiger mal zu erholen. Es gab in der Vergangenheit durchaus Momente, in denen Pavard schon nach dem Einwurf voll auf Angriff gegangen wär. Stattdessen hat er die ruhige Variante gewählt, die Schalke schlussendlich auseinander zog und sich somit als richtig erwies.

Böse Zungen würden behaupten, dass die Saison für den FC Bayern erst am Donnerstagabend so richtig losgeht. Man darf jedenfalls gespannt sein, wie sich der Triplesieger dort präsentiert. Das dürfte dann auch den Auftritt der Schalker nochmal retrospektiv etwas einordnen.


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