Nachschau: So knackte Flick den BVB im Knüller

Justin Trenner 10.11.2019

Es läuft die 88. Spielminute im Knüller zwischen dem FC Bayern München und Borussia Dortmund. Wie in den letzten Jahren ist der Ausgang des Spiels bereits klar: Der Rekordmeister wird seinen langjährigen Rivalen mit mindestens vier Toren aus der Allianz Arena schießen.

Doch das ist nicht das Bemerkenswerteste an dieser 88. Minute. Gerade hatte der eingewechselte Ivan Perišić einen Angriff per Volley abgeschlossen. Der Ball ging knapp am Pfosten vorbei. Während sich der Kroate noch ärgert und Roman Bürki sich auf den Abstoß vorbereitet, breitet Thomas Müller aber die Arme weit aus, dreht den Kopf von einem Mitspieler zum anderen und gibt lautstarke Kommandos.

Seine Kollegen folgen ihm. Fünf Bayern-Spieler rücken auf und stellen die Anspieloptionen für Bürki zu. Langer Ball, wenig später Ballbesitz Bayern. Was genau daran nun bemerkenswert ist? Die Intensität, mit der die Münchner auch bei einer 4:0-Führung bis zum Abpfiff zu Werke gingen. Vielleicht auch deshalb so bemerkenswert, weil es das vom amtierenden Meister über die volle Distanz eines Spiels zuletzt selten zu beobachten gab.

„Taktisches Training“: Flick baut ein Grundgerüst

Schon unter der Woche ließ der FC Bayern mit einer Mitteilung auf der offiziellen Website aufhorchen. Eine „taktische Trainingseinheit“ hätte Hans-Dieter Flick geleitet. Taktisch? Welches Training ist denn nicht taktisch? Nach dem Spiel gab Joshua Kimmich weitere Einblicke:

Wir hatten viel mehr hohe Ballgewinne, so haben sie nicht ins Spiel gefunden. Wir hatten klare Vorgaben, wer wen anläuft, es gab klare Strukturen, an die wir uns gehalten haben. Jeder wusste, was zu tun ist. Und natürlich ist es leichter, schon früh den Ball zurückzugewinnen als erst am eigenen Strafraum, bevor du dann wieder zehn Feldspieler ausspielen musst.Joshua Kimmich über den Matchplan

Dementsprechend sah es auf dem Platz auch aus. Nach einer ungefähr 15-minütigen Phase des Abtastens kamen die Bayern spätestens durch das Führungstor von Robert Lewandowski so richtig ins Rollen. Sie gewannen ihre Zweikämpfe, sie verschoben klug und – das ist der wesentliche Punkt, den auch Kimmich herausstellte – sie hatten ein strukturelles Grundgerüst, an dem sich die ganze Mannschaft orientieren konnte. Die große individuelle Klasse der Spieler verschmolz so zu einer mannschaftlich ansprechenden Leistung.

Halbraum-Randale: Dortmund erdrückt

Der Mut, mit Thiago und Philippe Coutinho auf zwei Kreativspieler zu verzichten, zahlte sich aus, weil Flick einen klaren Plan verfolgte, zu dem Leon Goretzka und Thomas Müller in der aktuellen Situation besser gepasst haben: Er hat den Fokus auf die Halbräume gelegt – in Ballbesitz, aber gerade auch gegen den Ball. Dafür benötigte er aggressive und extrem laufstarke Spieler auf den Achterpositionen. Zumal Müller gerade in der Organisation des Pressings eine zentrale Rolle zukam, die nur er in dieser Form ausführen konnte.

Flicks Plan lenkte Dortmunds Spiel.

Das sah konkret dann so aus, dass Dortmunds Aufbauspiel von den Bayern gelenkt wurde. Lewandowski und die Außenstürmer liefen die ballführenden Borussen so an, dass es im Prinzip nur drei Möglichkeiten gab: Die Spieleröffnung ins Zentrum, der Chipball auf die linke Seite oder der Chipball auf die rechte Seite.

In der Spielfeldmitte waren Goretzka und Müller stets an den Sechsern dran. Kimmich schob darüber hinaus sehr aggressiv und konsequent nach. Links und Rechts sorgten die Chipbälle der Dortmunder dafür, dass Bayerns Achter den entscheidenden Tick mehr Zeit hatten, auf die jeweilige Seite zu verschieben. Ein weiteres Mittel waren dort die nach vorn verteidigenden Außenverteidiger.

Erfolgreiches „Durchdecken“

Die hohe Intensität war dabei der eine entscheidende Faktor. Bayern hielt das Tempo von der ersten bis zur letzten Minute hoch und setzte den BVB stets unter enormen Druck. Lediglich Mats Hummels schien dem bei den Gästen gewachsen zu sein, machte er doch als einer der wenigen ein starkes Spiel. Über ihn wurde gerade in der Anfangsphase das eine oder andere Mal der Weg ins vordere Drittel gefunden. Dann hatten die Bayern aber eine starke Restverteidigung.

Laufbereitschaft und Wille waren bei den Bayern in dieser Saison oft zu erkennen. Diesmal wussten sie aber ganz genau, wohin sie laufen sollten. Das machte den großen Unterschied. Es gab nur wenige Situationen, in denen die Spieler auf ihre Intuition angewiesen waren. Sie hatten ihre Lösungen bereits zurechtgelegt und wussten sie anschließend anzuwenden. Zusätzlich erwischte insbesondere Javi Martínez einen Sahnetag. Die ganze Viererkette hätte es verdient, namentlich genannt zu werden. Doch der Baske hat wie in seinen besten Zeiten einen großen Raum fast allein verteidigt.

Dass die Bayern-Spieler aber nur selten allein verteidigen mussten, lag an der in allen Phasen kompakteren Ausrichtung. Selbst bei den wenigen klugen Verlagerungen der Gäste waren direkt zwei oder mehr Spieler der Münchner in Ballnähe. Kimmich sprach vom erfolgreichen „Durchdecken“. Dortmund fand darauf schlicht keine Lösung. Selbst wenn die Bayern den Ball nicht hatten, waren sie die Mannschaft, die das Spiel kontrollierte. Weil sie agierten und der BVB ständig zur Reaktion gezwungen wurde.

Defensive im Kontext des Angriffs

Und das ist der große Unterschied zum bisherigen Saisonverlauf. Bei Niko Kovač war einer von vielen komplexen Gründen fürs Scheitern, dass er das Spiel zu sehr aus der Defensive heraus dachte. Hört man Flick zu, könnte man ihm selbiges unterstellen. Es ginge erstmal darum, die Defensive zu stabilisieren. Das betonte er mehrfach.

Doch Flick scheint die Defensive nicht als isolierten Bereich zu verstehen. Seine Vorgehensweise sowie seine Aussagen deuten darauf hin, dass er sie als Grundlage für einen dominanten und kontrollierten Ballbesitz versteht. „Nach vorn verteidigen“, um den Ball zu bekommen.

Schnelle Rückeroberungen, den Gegner nicht ins Spiel kommen lassen und selbst aber dann die Ruhe bewahren. Zuletzt rannten die Bayern häufig in Kontersituationen, weil sie jede sich bietende Chance für einen Vertikalpass nutzten. Gegen Borussia Dortmund spielten sie auch mal den sicheren Pass zurück, obwohl sich einer der Achter weiter vorn anbot.

Kontrolle statt Harakiri

Die oberste Priorität war stets der kontrollierte Ballbesitz. In einer viel kompakteren Staffelung in Ballnähe schafften es die Bayern, enge Situationen aufzulösen, das Spiel auch mal zu verlagern und Dortmund in Bewegung zu halten.

Dortmund mag passiv und ängstlich verteidigt haben. Doch der Anteil der Bayern daran, dass das so erschreckend schwach aussah, ist enorm und die gute Leistung lässt sich durch die Schwächen des Gegners in diesem Fall nicht schmälern. Sie fanden die Balance aus Druck und Tempo auf der einen sowie Ruhe und Kontrolle auf der anderen Seite.

Will das Haar in der Suppe gesucht werden, kann darauf verwiesen werden, dass Spiele gegen Borussia Dortmund eine so besondere Geschichte sind, dass allein die Motivation der Spieler dazu ausreicht, eine solche Leistung zu ermöglichen.

Es geht nun um Kontinuität

Und es stimmt auch ein bisschen. Wer sich die vergangenen Knüller in München ansieht, der weiß, dass die Ansätze der Trainer sehr unterschiedlich waren. Jedoch reichte es jeweils zu hohen Siegen. Oft hatten diese Kantersiege einen derart starken Ausnahmecharakter, dass die Leistungen in der Folge nicht bestätigt werden konnten.

Das ist die Herausforderung, die Flick, der laut Karl-Heinz Rummenigge „bis auf weiteres“ Trainer bleibt, jetzt hat. Er muss Kontinuität reinbringen. Er muss es schaffen, dass die Sicherheit in Ballbesitz sowie der Druck nach vorn auch im Alltag vorhanden sind.

Dann dürften die Chancen gut stehen, dass die Bayern auch in den nächsten Wochen weitere Fortschritte machen und erfolgreich sind. Der 4:0-Sieg war eine erste Ansage. Er setzt die Messlatte für den weiteren Saisonverlauf. Und er zeigt: Hat diese Mannschaft ein taktisches und strategisches Grundgerüst, kann sie Großes leisten. Die Spieler scheinen nun erst recht an Flick zu glauben. Was er daraus machen kann, wird darüber entscheiden, wie lange er noch als Chef an der Seitenlinie steht. Dafür wird er in den kommenden Wochen auch die Spieler erfolgreich in das Grundgerüst integrieren müssen, die er jetzt für seinen Plan gegen Borussia Dortmund auf die Bank setzte. Frei nach Mehmet Scholls Rhetorik könnte man nach nur zwei Spielen aber etwas vorschnell urteilen: Endlich wurden die Spieler wieder in taktische Fesseln gelegt.



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