Jérôme Boateng: Der unverstandene Quarterback?
Während Mannschaft, Fans und alle Beteiligten sich selbst und den historischen Gewinn der Meisterschaft feiern, sitzt ein Spieler allein auf der Bühne, auf der vorher noch die Schale in den Himmel gehoben wurde. Fast allein. Jérôme Boateng hat seine Töchter um sich herum. Doch er wirkt abwesend. Nicht unglücklich abwesend, aber distanziert vom eigentlichen Geschehen.
An den Feierlichkeiten seiner Mitspieler beteiligt er sich so gut wie gar nicht. Auch später am Abend wird er nicht dabei sein, wenn die Party am Nockherberg ausgelassen weitergeht. Sein Fehlen ist bereits länger mit dem Klub abgesprochen. Boateng nimmt an der Hochzeit seines besten Freundes teil, statt den Titel zu feiern.
Vielleicht ist der Innenverteidiger am Samstag Nachmittag einfach nur ein stiller Genießer. In die Hochzeitspläne lässt sich ohnehin kaum eine Absicht interpretieren. Und doch wird man das Gefühl nicht los, dass es das letzte Mal ist, dass Bayern-Fans ihn im Bayern-Trikot über den Münchner Rasen schlürfen sehen. Es wäre ein unwürdiger Abschied eines Helden, der sich in den letzten Monaten und Jahren häufig missverstanden gefühlt haben muss.
Ein großes Versprechen mit Fragezeichen
Als Jérôme Boateng 2011 für geschätzte 13,5 Millionen Euro nach München kam, war er nicht mehr als ein Talent. Über seinen Heimatklub Hertha BSC und den HSV wechselte er zu Manchester City, wo er zwar 24 Pflichtspiele absolvierte, jedoch den Sprung nach ganz oben aus unterschiedlichen Gründen verpasste.
Bayern nutzte die Gelegenheit und war überzeugt davon, dass der gebürtige Berliner sein Versprechen in Form seines riesigen Talents in München endlich einlösen würde.
Doch in der Zeit unter Jupp Heynckes blieben noch Fragezeichen offen. „Bruder Leichtfuß“ wurde er genannt, weil er trotz seiner tollen Leistungen immer wieder Momente der fehlenden Konzentration zuließ. Weil er in seiner Karriere auch mal die eine oder andere unnötige Karte kassierte und sich zu leicht provozieren ließ.
Aufstieg zu einem der besten Verteidiger der Bayern-Geschichte
Doch Boateng arbeitete hart an sich. Er entwickelte sich noch unter Heynckes zu einem Weltklasse-Verteidiger, dessen Momente der Schwäche immer weniger wurden. Schnell, robust, zweikampfstark, beweglich, athletisch und sicher am Ball – Boateng etablierte sich neben Abwehrchef Dante zum Stammspieler.
40 Pflichtspiele absolvierte er in der Saison 2012/13. Jener Spielzeit, die auch in vielen Jahren noch die Geschichtsbücher mit vielen Seiten füllen wird. In allen wird die Geschichte von Arjen Robben stehen. Er war der Torschütze, der eine persönliche Leidenszeit beendete. Er war der große Held. Natürlich werden auch Lahm und Schweinsteiger zu den Protagonisten zählen. Nicht zu vergessen ist neben einigen anderen auch Ribéry, dessen Hackenvorlage wohl etwas weniger Beachtung geschenkt wird als dem Tor selbst.
Einer aber findet bereits im Jahr 2019 nur noch beiläufige Erwähnung, wenn an das Wembley-Tor zurückgedacht wird: Jérôme Boateng. Er schlug den langen und präzisen Ball nach vorn. Er leistete sich im Finale keinen Fehler und spielte wie ein großer Spieler eben spielt. 84% seiner Zweikämpfe gewann Boateng und doch wird es kein Lied geben, das sein Werk beim FC Bayern besingt. Dabei war das Triple erst der Anfang seines Aufstiegs in die Weltspitze.
Guardiola formte ihn zum Quarterback
Mit Pep Guardiola kam nur wenige Monate nach dem großen Triumph ein Trainer an die Säbener Straße, unter dem Boateng seinen bisher größten Karrieresprung schaffen sollte. „Als Guardiola nach München kam, hat er mir gleich ein paar Szenen vorgespielt und gesagt: Schau, diese Szene kann nicht sein als Abwehrspieler, diese Szene auch nicht,“ sagte Boateng einst. Es sei ein „Best of dumme Fouls“ gewesen.
Doch der Katalane brachte ihm nicht nur bei, seine Zweikämpfe größtenteils ohne Grätschen erfolgreich zu bestreiten. Er machte aus Boateng einen Spielmacher, der im Sommer 2014 gemeinsam mit Hummels seine Nationalmannschaft zum WM-Titel führte. Gegenüber der Sport Bild sprach Boateng davon, dass er Guardiolas Quarterback sei. Er verteile die Bälle und sei verantwortlich für eine gute Spieleröffnung.
In den drei Jahren unter Pep Guardiola blieb Boateng nicht nur einer der zweikampfstärksten Verteidiger der Liga und der Welt. Er schraubte seine Passquote darüber hinaus auf fast 90 Prozent hoch, obwohl das Risiko seiner Zuspiele immer größer wurde. Diese Diskussion ist zwar müßig, wer aber behauptet, dass Boateng zwischen 2013 und 2016 einer der besten Innenverteidiger der Bayern-Geschichte war, hat einige Argumente auf seiner Seite.
Emotionale Distanz
Er war Teil einer größeren Entwicklung. In dieser Dekade entwickelten sich mit ihm einige Innenverteidiger zu Spielmachern aus der Tiefe. Vielleicht war keiner so genial wie Boateng. Vielleicht. In jedem Fall hat er das Geschehen auf seiner Position aktiv mitgeprägt und neue Standards gesetzt. Nicht umsonst wurde ihm der Spitzname „Kaiser“ verliehen. Wie einst Beckenbauer prägte der Berliner das Spiel von ganz hinten.
Wenn der FC Bayern nun einen Innenverteidiger auf dem Transfermarkt sucht, dann sucht er einen, der mit dem Ball umgehen kann. Im Idealfall einen wie Boateng. Nur wird es schwer, einen wie ihn nochmal zu finden. Das Komplettpaket aus den Basics und diesen präzisen Vertikalzuspielen ist selten.
Trotz allem wird Boateng nicht wenigen eher als Randfigur in Erinnerung bleiben. Dieses kaum zu greifende Phänomen wird vor allem mit der Entwicklung in den letzten Jahren zusammenhängen. Viele Fans bauten eine emotionale Distanz zu ihm auf, weil sie das Gefühl hatten, dass Boateng sich selbst zu sehr vom Fußball entfernte.
Selbstverschuldete Dynamik?
Ausgefallene Mode, ein eigenes Magazin, ein Standbein in den USA – selbst Karl-Heinz Rummenigge forderte ihn einst auf, mal wieder „back to earth“ zu kommen. Dieser klubinterne Seitenhieb sowie die zunehmend abbauenden Leistungen nach der Europameisterschaft 2016 bekamen ihre ganz eigene Dynamik.
Man möchte fast sagen, dass es eine Dynamik ist, die selbst verschuldet ist. Doch ist sie das? Heißen all diese außersportlichen Aktivitäten, dass Boateng seinen Fokus auf das Wesentliche verloren hat?
Wen interessiert es beispielsweise, dass Cristiano Ronaldo in Unterhosen posiert? Wen hat es bei David Beckham interessiert, dass er neben dem Fußball noch zig andere Dinge getan hat? Sind Thomas Müllers Pferde dafür verantwortlich, wenn er keine Leistung bringt?
Unsinnige Fokusdiskussion
Diese Argumentationen sind schlicht aus der Luft gegriffen und schon gar nicht zu belegen. Fakt ist aber, dass es einer Vielzahl an Fans lieber ist, wenn ein Giovane Elber eine Ranch in Brasilien hat oder Müller sich mit Pferden auseinandersetzt.
Mode, irgendwelche Lifestyle-Magazine, Social-Media-Aktivitäten und erst recht Partys sind verschrien als abgehobene Aktivitäten und könnten dem Klischee eines Fußballers nicht weniger entsprechen. Es sind vermeintliche Schwachpunkte eines Glamour-Profis, der lieber wieder „back to earth“ kommen sollte. Dabei ist es im Prinzip nichts anderes als ein cleveres zweites Standbein, das er sich am Ende seiner Karriere aufbaut. Eigentlich ist das sogar ziemlich clever.
Boateng jedenfalls hat sich wenig vorzuwerfen. Er hat eine tolle Karriere hingelegt und sich am Ende für einen Weg entschieden, der seinen Interessen außerhalb des Sports entspricht. Ob diese Interessen nun mit denen der Fans übereinstimmen, kann ihm egal sein. Schade ist nur, dass es in der Bewertung seiner Leistungen eine übergeordnete Rolle einnimmt, welches schräge Outfit er mal wieder irgendwo trug oder welches Magazin mal wieder mit seinem Namen herausgebracht wird. Als würde Boateng all diese Aktivitäten alleine planen und durchführen.
War es wirklich eine schlechte Saison?
Schaut man sich aber die sportlichen Werte dieser so als Katastrophe ausgerufenen Boateng-Saison an, sieht man das alles vielleicht etwas differenzierter: 66% Zweikampfquote (Hummels 67%, Süle 69%), 89% Passquote (Hummels 89%, Süle 93%), 11 Torschussvorlagen (Hummels 13, Süle 6), 2 Assists (Hummels 1, Süle 0), 0,3 Ballverluste pro Spiel (Hummels 0,5, Süle 0,4), 0,6 Mal pro Spiel ausgedribbelt (Hummels 0,7, Süle 0,2) – liest sich so eine katastrophale Saison?
Es sind vor allem einzelne Momente, die Boatengs Jahr in ein viel zu schlechtes Licht rücken. Beispielsweise die verschuldeten Elfmeter in der Hinrunde in Berlin und bei Ajax oder sein Verhalten gegen Düsseldorf beim 3:3. Dass aber auch Spieler wie Hummels, Thiago, Ribéry, Süle oder Neuer regelmäßig patzten, wird oft verschwiegen. Ist es dann nicht vielleicht doch auch eine Frage der Ausrichtung der Mannschaft? Mit 23,5 Ballverlusten pro Spiel hatten die Bayern in der Bundesliga so viele wie seit fünf Jahren nicht mehr.
Viel spricht dafür, dass Boateng an Niveau verloren hat. Hummels hat das beispielsweise auch. Bei Ersterem scheinen die Aktivitäten neben dem Platz aber dazu zu führen, dass wenige entscheidende Fehler zur Verklärung seiner Situation führen. Eine Bewertung, die in dieser Form unfair ist. Boatengs Verletzungen und seine fehlende Fitness im Jahr 2018 spielen dann eine geringere Rolle als sein Magazin oder seine Brillen.
Ein unwürdiger Abschied
Boateng war immer jemand, der eine klare Position vertrat und das aussprach, was ihn im Moment beschäftigte. Sein ständiger Kampf gegen Rassismus, seine Entwicklung zum Führungsspieler innerhalb der Mannschaft, seine bescheidene aber klare Art in den Interviews – genauso steht er auch jetzt über den Dingen, die über ihn berichtet werden. Auf die Frage, ob er den Fokus auf den Fußball verloren habe, gab er ein klares Nein als Antwort. Ob man ihm das glauben möchte, liegt in der Perspektive des Betrachters.
Blickt man aber zurück auf seine Zeit beim FC Bayern, kann es nur schwerlich zwei Meinungen geben. Jérôme Boateng hat dort, wo es drauf ankommt, eine Ära entschieden mitgeprägt: nämlich auf dem Platz. Es sieht im Moment alles danach aus, dass sich die Wege im Sommer trennen. Sollte es so kommen, stünde der vergangene Samstag nicht nur im Zeichen eines Märchens, das Robben, Ribéry und Rafinha schöne letzte Stunden in der Allianz Arena bescherte.
Er stünde auch im Zeichen eines kaum noch besungenen Helden, der einen unwürdigen Abschied bekam. Teils selbst verschuldet, teils aus Gründen, die in der Diskussion rund um den Fußball leider immer noch viel zu viel Beachtung finden. Natürlich aber auch deshalb, weil sein Abschied faktisch noch gar nicht feststeht. Und doch rückt er näher. Es tut weh, dass der einst großartige Quarterback Guardiolas und der Vorbereiter der Vorbereitung des Wembley-Tores vermutlich durch die Hintertür verschwinden muss. Auch wenn es sportlich Sinn ergibt, ist das Wie unwürdig.