Kommentar: Was wird aus dem Ballbesitzfußball?
Der Bundesliga-Start steht kurz bevor. Es wäre der Mannschaft, aber vor allem Ancelotti gegenüber nicht fair, jetzt schon ein endgültiges Fazit zu ziehen. Mats Hummels äußerte sich über seine eigene Leistung sehr kritisch, fügte aber an, dass es zu diesem Zeitpunkt erwartbar gewesen wäre. Schon im letzten Spielbericht haben wir darauf hingewiesen, dass die strukturellen Probleme auch darauf zurückzuführen sind, dass den Bayern noch die Automatismen abgehen. Dennoch gab es nach dem Spiel zum wiederholten Male einige grundsätzliche Diskussionen über den Ballbesitzfußball der letzten Jahre und dem, was im Supercup zu beobachten war.
Ein kurzer Rückblick
Der Rekordmeister verlor unter Guardiola drei Champions-League-Halbfinals. Eines davon gegen Ancelottis Real Madrid im Jahr 2014. Damals setzte der Italiener auf ein tiefes Mittelfeldpressing, um dann über Bale und Ronaldo schnelle Umschaltmomente zu kreieren. Das Positionsspiel der Bayern ging mit 5:0 in zwei Partien unter. Im Jahr darauf war der Gegner niemand geringeres als der FC Barcelona. Es war ein Aufeinandertreffen zweier Ballbesitzhungriger Teams. Barca gewann ebenfalls deutlich mit 5:3 in Addition. Auf Bayern-Seite fehlten sowohl einige Stammspieler aufgrund von Verletzungen, als auch die Fitness vieler erst kurzfristig zurückgekehrter Spieler. Guardiola hielt dennoch an einer nach Dominanz suchenden Spielweise fest.
Auch im dritten Jahr musste sich der Katalane geschlagen geben. Mit Atlético Madrid traf seine Mannschaft dabei auf das womöglich am besten organisierte 4-4-2-Mittelfeldpressing der Welt. Dennoch schafften es die Münchner, sich in zwei Partien mehr als 50 Abschlüsse zu erarbeiten. Am Ende sollte es jedoch wieder nicht reichen, weil zum einen die Chancenverwertung nicht gut genug war und zum anderen Atlético mit gefährlichen Kontersituation das eine Auswärtstor mehr erzielte.
Im Supercup am Sonntag dann die umgekehrte Situation. Der BVB hätte nach der ersten Halbzeit gut und gerne mit 2 oder gar 3 Toren führen können, vielleicht sogar müssen. Tuchels Elf erzielte jedoch kein einziges Tor und so war es Vidal, der nach rund 60 Minuten mit der ungefähr dritten gefährlichen Aktion des Meisters die Führung besorgte. Alle relevanten Statistiken fielen an diesem Abend zugunsten der Dortmunder aus. Die Passivität der Bayern wurde jedoch nicht bestraft und so stellte das Ergebnis die Leistung in den Schatten.
Die Vorteile des Ballbesitzspiels
Vermutlich wäre die Kritik an Ancelotti größer gewesen, wenn der Rekordmeister dieses Spiel hoch verloren hätte. Das war durchaus möglich. So blieb es relativ stumm um den Italiener. Auch die Aussagen, dass er seine Mannschaft schon ziemlich weit sehe, blieb größtenteils unkommentiert. Guardiola fokussierte sich immer auf die Leistung der Mannschaft. Sie war für ihn die oberste Priorität. Auf der Suche nach einem System, das ihm die größten Erfolgschancen verspricht, fand er das „juego de posicion“ – das Positionsspiel.
Die Bayern wollten den Ball haben, denn hat man das Spielgerät, kann der Gegner keine Tore erzielen. So einfach ist das Grundprinzip. Es funktionierte. Guardiola richtete die Mannschaft extrem mutig und offensiv aus, brach dabei aber auch Defensivrekorde. Mit 17 Gegentoren hatten die Münchner vergangene Saison weniger als jedes Bundesliga-Team der Geschichte auf dem Konto. Der wichtigste Vorteil des Positionsspiels ist die strukturelle Überlegenheit. Richtig angewandt ist die Mannschaft zu jedem Zeitpunkt in der Lage Überzahlsituationen in den wichtigen Zonen zu schaffen. Zudem war der Kader des Ex-Trainers in den letzten drei Jahren so flexibel wie vielleicht nie zuvor. Die Vielzahl an Systemen, die mittlerweile fest integriert sind, könnte auch Ancelotti helfen. Es scheint aber, als würde der Italiener vorerst darauf verzichten und an seinen beiden Systemen festhalten.
Die Flexibilität und auch die vielen verschiedenen Strukturen gegen unterschiedlichste Systeme des Gegners gehen dem Bayern-Spiel derzeit ab. In den Testspielen waren die Münchner aber immerhin aktiver und offensiver, als im Supercup. Das lässt hoffen, dass das Ballbesitzspiel nicht komplett ad acta gelegt wird. Zudem sagte der neue Trainer des amtierenden Meisters, dass er keine Revolution starten möchte. Gegen Dortmund war man vor allem auch physisch unterlegen. Tuchels Mannschaft war eingespielter und ist zum jetzigen Zeitpunkt einige Wochen weiter. Vielleicht setzte er, um die Unterlegenheit wissend, auf eine defensivere Ausrichtung. Das Spiel zeigte aber trotzdem, dass Fußball kompliziert ist. Systeme und ihre Wirkung lassen sich nicht auf wenige Spiele und Ergebnisse reduzieren. Die Erfolgschancen können noch so hoch sein, es gibt immer Faktoren die keine Ausrichtung der Welt ändern kann. Das zeigte der Sieg des FC Bayern, der nicht dem Spielverlauf entsprach, ganz deutlich.
Ist der passive Umschaltfußball eine Option für den FC Bayern?
Zwar war Ancelottis Team in den Vorbereitungsspielen – speziell in den USA – offensiver, aktiver und aggressiver, aber auch dort waren viele passive Phasen zu beobachten. Die Mannschaft ließ sich dann in ein tiefes Mittelfeldpressing zurückfallen und der Gegner hatte Ballbesitz. Gerade in diesen Situationen wurde es aber immer gefährlich. Bayern ließ sich in die eigene Hälfte drücken und war ständig unter Druck. Die Anzahl an bisher zugelassenen Chancen dürfte diesen Eindruck unterstreichen. Wenn einige Experten einforderten, dass der Rekordmeister auch mal auf das Spielgerät verzichten könne, dann sollten sie spätestens jetzt erkannt haben, dass auch diese Spielweise eine hohe mentale Konzentrationsfähigkeit abverlangt.
Sich ohne Ball richtig zu bewegen ist schwer, denn der Instinkt eines jeden Spielers ist darauf ausgelegt selbst zu agieren. Im passiveren 4-4-2 den richtigen Moment für eine Pressingsituation zu finden, erfordert nicht nur eine hohe Spielintelligenz, sondern auch Geduld und Kondition. Der Kader des FC Bayern und die Qualität der Mannschaft sind einfach zu hoch, um sich dauerhaft einem System unterzuordnen, das auf Fehler des Gegners angewiesen ist. Die ersten Eindrücke zeigen, dass die Erfolgschancen des Meisters immer dann steigen, wenn offensiv, aggressiv, aber vor allem aktiv verteidigt wird.
Dennoch wäre es vielleicht gar nicht so verkehrt, wenn Ancelotti den Ballbesitzfußball um einige Elemente ergänzen könnte. Es macht den Anschein, dass der Italiener genau das auch versucht. Diese Phasen, in denen die Bayern tief stehen wollen, funktionieren aber noch nicht. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Fehlende Automatismen, noch nicht fitte Spieler und die gedankliche Umstellung auf ein neues System sind womöglich ganz vorne anzuführen.
Welche Ansätze gibt es, um effizienter zu sein?
Das Trainerteam hat derzeit zwei größere Baustellen zu bewältigen. Zum einen müssen sie die Arbeit gegen den Ball verbessern, zum anderen ist es wichtig Vertikalität ins Spiel zu bekommen. Ohne Ball ist die Passivität das größte Problem. Im tiefen Mittelfeldpressing stimmen die Abstände häufig noch nicht. Sowohl horizontal als auch zwischen den Ketten. In der 8. Minute des Supercups war eine Szene stellvertretend für diese Beobachtung. Marc Bartra konnte einen Ball vom eigenen Sechzehner hinter die Viererkette der Bayern spielen. Der Rekordmeister attackierte in dieser Situation hoch. Bis auf Philipp Lahm rückte die Abwehrreihe jedoch nicht nach. So entstand ein riesiges Loch um den Mittelkreis herum.
Helt grei pasning av Marc Bartra. pic.twitter.com/zhBFXVfA1o
— Kai Bardal (@kaibardal) 14. August 2016
Hier ist es wichtig die Automatismen zu finden. Will man in einem 4-4-2 erfolgreich sein, so haben die Abstände gegen den Ball höchste Priorität. Sind die Bayern im tiefen Mittelfeldpressing, müssen sie kompakt stehen, aber ohne in Passivität zu verfallen. Es ist deutlich schwerer ein Spiel ohne den Ball zu kontrollieren. Schafft Ancelotti es aber, dass der Deutsche Meister auch ohne Ballbesitz für Kontrolle sorgen kann, wäre das ein probates und nachweislich erfolgreiches Mittel. Diese Ergänzung wäre sogar optimal. Je mehr man den Gegner in Sicherheit wiegt ohne ihn in gefährliche Situationen kommen zu lassen, umso mehr Räume bieten sich einem auch bei Ballgewinnen. Davon sind die Bayern aktuell noch weit entfernt, doch wie eingangs erwähnt, sollte man Ancelotti die nötige Zeit geben.
In Ballbesitz gibt es aber auch einige strukturelle Probleme zu lösen. Der Spielaufbau funktioniert noch nicht optimal. Das liegt weniger an den drei Aufbauspielern (gegen Dortmund waren das Hummels, Alonso und Martínez) als an der Positionierung der Mittelfeldakteure. Alaba und Lahm rücken als Außenverteidiger nicht mehr ein. Dadurch kippen Vidal sowie auch Thiago relativ tief ab. Das wiederum führt dazu, dass in der letzten Linie nicht mehr so viele Optionen vorhanden sind und längere vertikale Bälle entweder zu Unterzahlsituationen führen, oder gar nicht erst ankommen. Würden die Außenverteidiger wieder einrückend agieren, könnte man in den wichtigen Zonen für Überzahl sorgen. Selbst wenn nur Lahm in seine Hybrid-Rolle aus der letzten Saison wechseln würde, gäbe dies entscheidende Vorteile. Alaba könnte dann die Dreierkette hinten komplettieren, Alonso müsste nicht mehr abkippen und hätte zudem mit Lahm genügend Unterstützung in der Zentrale. Mit dieser 3-2-Staffelung waren die Bayern im Aufbau oftmals sehr erfolgreich.
(M)eine Meinung
Ich persönlich favorisiere den Ballbesitzfußball, weil die Kontrolle über das Spiel mit dem Ball nicht nur viele Nerven schont, sondern meiner Meinung nach auch besser zum FC Bayern passt. Spielt man ein System gegen den Ball, so setzt man sich auch ein Stück weit der Abhängigkeit von Fehlern des Gegners aus. In den letzten Jahren war das nicht der Fall. Mit dem Ball hat man selbst die Kontrolle über das Spiel, aber auch eine hohe Verantwortung.
Allerdings bin ich auch offen dafür, dass der Italiener diese Ausrichtung dahingehend verändert, dass die Bayern sich auch mal für ein paar Minuten fallen lassen können. Voller Spannung, aber auch mit der Sorge, dass der Rekordmeister in Zukunft wieder mehr zulassen wird, blicke ich in die Zukunft. Es wird interessant zu sehen, ob Ancelotti die perfekte Balance zwischen beiden Systemen finden kann.