¡Adiós, Thiago!

Justin Trenner 18.09.2020

„Thiago oder nix!“ Es sind drei Worte, die in die jüngere Geschichte des FC Bayern München eingehen. Es sind Worte, die zu einem der besten Transfers der Vereinsgeschichte führen. Thiago Alcántara do Nascimento – kurz einfach Thiago – kommt 2013 zum deutschen Rekordmeister, um gemeinsam mit Pep Guardiola nicht nur die Fußballkultur des Klubs zu verändern, sondern auch, um sich selbst in einer neuen Kultur weiterzuentwickeln.

Er ist ein Versprechen an die Zukunft. Ein feiner Fußballer, der vielleicht so sehr stellvertretend für das Erfolgskonzept „La Masia“ beim FC Barcelona steht, wie es bis heute keiner mehr nach ihm schafft. Einer, der ein würdiger Nachfolger von Xavi oder Iniesta werden kann, sich dann aber dazu entscheidet, aus der Wohlfühlzone auszubrechen und den Weg in eine Fußballkultur zu gehen, die so ihre Probleme mit feinen Fußballern hat. Eine Kultur, in der überspitzt formuliert nur der zum Helden avanciert, der sich kämpfend auf den Thron setzt – weniger jemand, der mit spielerischer Leichtigkeit zu überzeugen weiß. Auch bei Schweinsteiger gab es vielerorts vor allem Anerkennung für seine mentalen Stärken, weniger für seine technischen Fähigkeiten. In Erinnerung bleibt vielen ein blutverschmiertes Gesicht im WM-Finale, weniger seine strategisch klugen Bewegungen im Champions-League-Finale.

Es gibt in nahezu jeder Kultur Vorurteile. Eines scheint im deutschen Verständnis vom Fußball zu sein, dass Künstler und Freigeister Schönwetterfußballer sind, denen die Qualität im Malochen gegen den Ball fehlt. Das bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass alle so denken. Aber die Probleme, die viele mit Fußballern wie Thiago haben, gehen auffällig oft in diese Richtung. Der Spanier aber wird vielen Menschen, die so zu Beginn über ihn denken, das Gegenteil zeigen. Er wird dafür sorgen, dass dieses Vorurteil bei vielen endgültig verschwindet.

Thiago Alcántara: Führungsspieler statt „Schönwetterfußballer“

Doch erstmal alles auf Anfang: Im Prinzip ist es 2013 ein großer Glücksfall. Thiago steht bei einem der besten Klubs Europas unter Vertrag und ist gesegnet mit großem Talent. Doch kein Weg führt vorbei an einem Mittelfeld, das in der Geschichte des Fußballs bisher einmalig ist: Sergio Busquets, Iniesta und Xavi.

Auch wenn gerade Xavi bereits auf seiner Ehrenrunde ist, sieht Thiago keinen anderen Weg als den Wechsel in ein neues Umfeld. Für die Bayern ist es damals der perfekte Zeitpunkt. Mit Pep Guardiola ist ein neuer Trainer an die Säbener Straße gekommen, der bis heute eine unglaubliche Strahlkraft auf Spieler hat. Insbesondere aber auf Thiago, den er seinerzeit schon bei Barcelona zu fördern wusste. Das Verhältnis der beiden ist sehr gut und so kommt es zu den oben zitierten Worten: „Thiago oder nix!“

Sich bei einem Triplesieger durchzusetzen, ist alles andere als einfach. Doch die besondere Konstellation mit Guardiola erlaubt ihm einen Vorsprung. Thiago kennt die Philosophie des Trainers. Er ist sogar das notwendige Puzzleteil im Mittelfeld, um die Spielweise möglichst schnell zu implementieren. Trotz Spielern wie Toni Kroos, Bastian Schweinsteiger und Mario Götze.

Das nicht eingelöste Versprechen mit Götze

Thiago überzeugt sofort als Spielgestalter und Taktgeber, verletzt sich dann aber schwer. Ein Syndesmosebandriss führt dazu, dass er rund zwei Monate raus ist. Dann aber kommt es zu einem ersten magischen Auftritt des Spaniers: In Dortmund werden er und Neuzugang Götze in der Schlussphase des Spiels eingewechselt. Sofort harmonieren die beiden, als würden sie schon jahrelang gemeinsam auf dem Platz stehen. Sie heben das Spiel der eigenen Mannschaft innerhalb von Minuten auf ein anderes Level. Erstmals ist die deutsche Öffentlichkeit außer sich. Ein Duo, das die Welt noch nicht gesehen hat.

Die Hoffnung, dass Thiago und Götze über Jahre hinaus das Traumduo im Mittelfeld bilden könnten, wächst. Wirklich viele gemeinsame Zauberstunden gibt es danach aber nicht mehr. Götze hat ebenso mit Verletzungen zu kämpfen wie Thiago, der sich im folgenden Sommer das Innenband im Knie reißt und große Teile der Saison 2014/15 verpasst.

Langsam weicht die große Hoffnung einer ersten Welle an Kritik. Thiago sei zu verletzungsanfällig, um den Ansprüchen und Erwartungen gerecht werden zu können, heißt es. Im letzten Guardiola-Jahr verpasst er dann aber nur noch fünf Pflichtspiele mit einer weiteren Verletzung. Endlich bleibt der Spanier über einen längeren Zeitraum fit. Unangefochtener Stammspieler wird er trotzdem nicht.

Entgegen vieler Erwartungen kommt der zu Saisonbeginn verpflichtete Arturo Vidal, eher ein atypischer Spieler für den Guardiola-Fußball, auf rund 400 Pflichtspielminuten mehr (insgesamt 3204) als Thiago (2782). Trotzdem: Der Kicker schreibt 2016 zwischenzeitlich sogar davon, dass Thiago endlich seinen Rhythmus gefunden habe. Kollege Douglas Costa bezeichnet ihn als „magic“.

Thiago ist aber nicht der entscheidende Baustein dafür, dass die Bayern während der Saison 2015/16 so nah an einen Champions-League-Sieg kommen wie seit 2013 nicht mehr. Seinem wichtigen Tor gegen Juventus Turin folgen einige Spiele, in denen er keine große Rolle spielt. Im Halbfinale gegen Atlético Madrid lässt er sich gemeinsam mit einigen Kollegen vor dem 1:0 durch Saúl austanzen, im Rückspiel spielt er keine Minute mehr.

Vor allem seine Fähigkeit, die Offensive mit der Defensive zu verbinden und sich aus Drucksituationen zu befreien, wird aber in vielen Spielen sehr wichtig fürs Team, wenngleich er den ganz großen Erwartungen noch nicht gerecht werden konnte. Medial ist oft vom „uneingelösten Versprechen“ die Rede.

Thiagos Durchbruch

Die ganz große Erfolgsgeschichte, die man sich 2013 noch versprach, bleibt zunächst also aus. Zu sehr wirken die verpassten Monate in der Anfangszeit nach. Ausgerechnet ohne seinen großen Lehrmeister Guardiola macht Thiago dann aber einen riesigen Schritt nach vorn.

Unter Carlo Ancelotti deutet sich bereits nach wenigen Monaten an, dass die Mannschaft taktisch nicht mehr so flexibel und versiert ist wie noch in den Vorjahren. Die Lücken im Positionsspiel werden zunehmend größer, die Anfälligkeit für Fehler ebenfalls.

Das liegt aber nicht daran, dass Thiago nun zum Stamm der Mannschaft gehört. Im Gegenteil: Thiago entwickelt sich in dieser Phase zu einer Art stillem Führungsspieler. Er verkörpert einen Siegeswillen, wie ihn das Klischee des „Schönwetterfußballers“ eigentlich nicht zulässt. Mit seiner Spielintelligenz lässt er die taktischen Versäumnisse des Trainerteams weniger schlimm aussehen. Thiago füllt Lücken, er absolviert viele Kilometer und knüpft Verbindungen zu seinen Mitspielern. Vor allem aber löst er eigentlich aussichtslose Drucksituationen auf, in denen seine Mitspieler schlecht positioniert sind.

Es entsteht der Eindruck, dass es nicht der Trainer ist, der die Bayern letztendlich zum Double führt, sondern Thiago. Das wird immer dann deutlich, wenn er nicht auf dem Platz steht, oder gut organisierte Gegner es schaffen, ihn doch aus dem Spiel zu nehmen. Schnell entsteht der Vorwurf, Thiago hätte in den wichtigen Spielen in der Champions League nicht das gezeigt, was er in der Bundesliga auf den Platz bringt. Wie so oft täuscht aber das Ergebnis über tatsächliche Leistungen hinweg. Allein die packenden Duelle mit Real Madrid werden retrospektiv zu sehr anhand der Endergebnisse bewertet. Den Bayern fehlt es schlicht an taktischer Qualität und Cleverness, um schließlich auch zu gewinnen, doch Thiago macht jeweils ein sehr gutes Spiel im Duell mit den damals besten Mittelfeldspielern der Welt – Luka Modrić und Toni Kroos.

Der Spanier verkörpert das „Mia san mia“ seines Klubs

Es ist nahezu bezeichnend, dass Thiago genau dann den entscheidenden Schritt zur Weltklasse macht, als das Team um ihn herum anfängt, nach Jahren der Dominanz mindestens leicht zu schwächeln. Nein, der nun größere Abstand zu den Top-Teams Europas ist nicht Thiago zuzuschreiben. Thiago ist einer von wenigen Gründen dafür, dass er nicht noch größer wird.

Er ist quasi die Lebensversicherung des FC Bayern in einer Zeit des Übergangs. Einer Zeit nach einer großen Ära. Und doch scheint er vielen als Sündenbock für die Niederlagen zu dienen – teils sogar mit Behauptungen, die kaum zu belegen sind. Über Jahre hinweg ist Thiago einer der zweikampfstärksten Spieler des Kaders. Dennoch wird ihm vorgeworfen, er sei defensiv zu schwach. Während eines Spiels sorgt Thiago immer wieder für magische Momente, in denen er Räume für seine Mitspieler öffnet, die eigentlich nicht existieren. Dennoch fokussieren sich Kritiker auf den einen Fehler, der sich manchmal in sein Spiel schleicht.

Thiagos Leichtigkeit führe zu oft zu Leichtsinnigkeit, sagen sie. Ganz unrecht haben sie nicht. Es gibt diese Momente, in denen der Spanier leichtfertig den Ball verliert. Aber nur selten wird erwähnt, wie oft er im Gegenzug das einfallslose Spiel der Bayern rettet und wie sehr er mit seiner Einstellung das „Mia san mia“ des Klubs verkörpert.

Plötzlich der, den seine Kritiker sehen wollen

Im Jahr 2019 kann auch er seine Mannschaft aber nicht mehr retten. Unter Kovač ist er erstmals der Spieler, den viele in ihm sehen: Leichtsinnig und ohne großen Einfluss. Abermals entflammt harte Kritik. Sein Vertrag, nur noch bis 2021 gültig, steht auf der Kippe, heißt es. Doch Thiago steht wieder auf und zeigt genau das, was ihm vielerorts nicht zugetraut wird: Die vermeintlichen „Tugenden“ deutscher Fußballkultur.

Nach der Übernahme von Hansi Flick entwickelt er sich zunehmend wieder zu einem der wichtigsten Spieler im Kader. Gerade in der so wichtigen Arbeit gegen den Ball steht er den Pressingmaschinen Goretzka und Müller in nichts nach. Am Ende der Bundesligasaison wird er pro 90 Minuten durchschnittlich auf 2,3 Interceptions (Platz 2 im Kader hinter Martínez) und 2,3 erfolgreiche Tacklings (Platz 1 im Kader) kommen. Der Kicker titelt im Laufe der Rückrunde: „Thiagos Verwandlung vom Künstler zum Arbeiter“.

Aber nein, es ist nicht Thiagos Verwandlung, die das Fachmagzin dort zu bemerken vorgibt. Es ist die späte Einsicht dessen, was Thiago seit Jahren bereits verkörpert: Die Mischung aus Eleganz, Leichtigkeit und harter Arbeit mit sowie gegen den Ball. Erst als der Spanier unter Flick wieder zu alter Stärke aufblüht, ist es der Spin einiger Berichterstatter, der eine vermeintliche Verwandlung feststellt.

Flick löst die Abhängigkeit von Thiago – und macht ihn so noch stärker

Unter Flick ist Thiago wieder der Mann für die magischen Momente. Vielleicht ist die Krise der Hinrunde auch bezeichnend für seine Bedeutung. Glänzt Thiago, glänzt der ganze Klub. Glänzt er nicht, leiden selbst so herausragende Mitspieler wie jene des FC Bayern sehr darunter – insbesondere dann, wenn der Trainer kein taktisches Netz spannen kann, das alle auffängt.

Unter Flick ist die Situation nun aber paradox: Einerseits schafft er es, dass Spieler wie Lewandowski oder Thiago wieder an ihrem Maximum spielen können. Auf der anderen Seite löst er gleichzeitig die Abhängigkeit von ihnen. Er ist in der Lage, ein taktisches Netz zu spannen. Jeder Spieler weiß in nahezu jeder Situation, was er zu tun hat. Flick ist detailversessen und bietet seinen Spielern auch dann Lösungswege an, wenn es mal kompliziert wird. Dieses Netz führt nicht nur dazu, dass die Besten im Kader ihre beste Leistung zeigen können. Es fängt auch Spieler auf, die diese Spieler dann ersetzen müssen. Als Thiago sich in der Rückrunde verletzt, springt Goretzka ein und entwickelt sich neben Kimmich zu einem Erfolgsgaranten.

Vielleicht ist deshalb jetzt der Moment gekommen, an dem Thiago die beste Form seiner selbst ist und der FC Bayern ihn zugleich dennoch ersetzen kann – zumindest in der Spitze. Trotzdem wird seine Qualität fehlen. Seine Fähigkeit, dem Spiel eine besondere Note zu geben und selbst in den aussichtslosesten Situationen Räume zu sehen, die kein anderer sieht.

Thiago ist eben komplett. Er ist alles andere als ein „Schönwetterfußballer“. Wer sein Spiel und seine Persönlichkeit verstehen will, der versteht auch, welch herber Verlust sein Wechsel für den FC Bayern ist. Als Spieler dreht sich auf dem Platz alles um ihn. Als Mensch nimmt er sich weniger wichtig. Dass er nur selten Interviews gibt, dürfte zu seiner stark verzerrten Wahrnehmung in den Medien führen. Aber darauf kommt es ihm und den Bayern auch nicht an.

Der Maestro geht

Allein seine Videobotschaft zum Abschied zeigt, dass er mit reinem Gewissen geht. Seine Aufgaben in München sind erledigt. Er hat die Champions League gewonnen – nicht als unwesentlicher Bestandteil des Kaders wie einst in Barcelona, sondern als tragende Figur und Unterschiedspieler. Aber der Klub wird in seinem Herzen bleiben. Bei wenigen Spielern ist ein solcher Satz so glaubwürdig wie bei Thiago, der in den letzten Jahren zu einer Identifikationsfigur vieler Fans wurde, weil er eben mehr ist als ein genialer Fußballer.

Twitter

Mit dem Laden des Tweets akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von Twitter.
Mehr erfahren

Inhalt laden

In Zukunft wird man sich in München noch häufiger an die Zeit zurückerinnern, in der dieser magische Fußballer mit nur einer kleinen Körpertäuschung eine ganze Pressinglinie des Gegners ausgehebelt hat. Man wird sich auch noch oft daran zurückerinnern, wie Thiago im Mittelfeld Bälle zurückerobert hat und sie sofort zu verteilen wusste. Vielleicht ist der Wechsel auch eine Chance für etwas Neues. Für junge Spieler, für Kimmich, für Flick – aber zunächst wird es wehtun.

Seine Dribblings, seine Läufe, sein Positionsspiel, seine Fähigkeit, ganze Mannschaftsteile miteinander zu verbinden und zu strukturieren – Thiagos Spiel lässt sich kaum in Worten beschreiben, man muss es gesehen haben. Und man muss sich darauf einlassen (wollen). Dann öffnet sich einem eine Fußballkultur, die diesem Land lange fern blieb. Einem Land der Malocher und Arbeiter. Doch Thiago steht nicht für einen krassen Gegensatz. Er hat diese beiden Kulturen miteinander vereint. Seine Magie auf dem Platz hat den Blick vieler auf das gesamte Spiel verändert. Gleichzeitig hat der Fußball in Deutschland ihn als Spieler auf das nächste Level gebracht. Und jetzt geht er nach England, um sich nochmal weiterzuentwickeln. Es ist verständlich, aber aus Perspektive des FC Bayern ist es auch äußerst schmerzhaft. Wir sagen: ¡Adiós, Thiago!