Spieler der Saison 2017/18

Justin Trenner 10.06.2018

Der Hype-Train kennt keinen Halt mehr. Von Guardiolas Musterschüler entwickelte sich Kimmich zum unersetzlichen Außenverteidiger bei Joachim Löw und an der Säbener Straße. Bei den Bayern kam der Zug kurz ins Stocken, als Ancelotti keinen Platz für das Talent fand. Doch auch davon ließ sich niemand beirren.

Nachdem Philipp Lahm seine Karriere beendete, brach rund um den Klub Panik aus – nur nicht beim FC Bayern selbst. Sie hatten ja Kimmich. Große Zweifel gab es intern nicht, doch die leichte Sorge war berechtigt, dass er das große Loch nicht stopfen könnte, das der Weltmeister-Kapitän von 2014 hinterlassen hatte.

Doch der Hype-Train legte den nächsten Gang ein. Ancelotti, dem nun nichts mehr übrigblieb, als Joshua Kimmich regelmäßig einzusetzen, wurde eines Besseren belehrt. Auch unter Nachfolger Heynckes legte der gelernte Mittelfeldspieler Woche für Woche in der Verteidigung eine Konstanz an den Tag, die für sein Alter schlicht beeindruckend ist.

Spieler der Saison 2017/18: Joshua Kimmich.
(Foto: Alexander Hassenstein/Bongarts/Getty Images)

Der ewige Lahm-Vergleich

Kimmich erinnerte in dieser Hinsicht an seinen Vorgänger, an den in München aber nur noch selten erinnert wird. Vermutlich ist das das größte Lob, das man dem 23-Jährigen machen kann. Lahm fehlt in München, keine Frage. Doch er fehlt vor allem als Persönlichkeit. Aus sportlicher Perspektive wäre die Behauptung vermessen, dass der FC Bayern mit dem bestmöglichen Philipp Lahm in dieser Saison erfolgreicher abgeschnitten hätte.

Es ist allein der Qualität Kimmichs geschuldet, dass eine der fünf größten Legenden der Vereinsgeschichte nur in den wenigsten Situationen der Saison als Spieler vermisst wurde. Das ist purer Wahnsinn.

Vermessen wäre es aber auch, Kimmich bereits in die Höhen eines Philipp Lahm zu hieven – natürlich nicht wortwörtlich gemeint. Die Vergleiche, die ihn automatisch begleiten, sind oft unfair und nicht verhältnismäßig. Hier und da wird dem Außenverteidiger vorgeworfen, dass er in der Defensive nicht so stabil wäre wie der Ex-Kapitän.

Das entspricht natürlich teilweise der Wahrheit, aber es ist Meckern auf sehr hohem Niveau. Zunächst darf man nicht den Fehler machen, und den späten Lahm mit dem frühen Kimmich vergleichen. Auch Lahm hatte in der Anfangsphase seiner Karriere damit zu tun, Balance in sein Spiel zu bekommen. Vielen ist das kaum noch in Erinnerung, wird doch seine Laufbahn oft als fast perfekt dargestellt.

Tatsächlich musste aber auch der Weltmeister in seiner Anfangsphase beim FC Bayern und in Stuttgart Fehler machen, um aus ihnen zu lernen. Wie schon bei Lahm begrenzen sich diese Fehler allerdings auch bei Kimmich auf Nuancen.

Wer beispielsweise ernsthaft Marcelos Flanke in der Champions League Joshua Kimmich anhängen möchte, erwartet unerreichbare Perfektion. Der Verteidiger, der diese Situation verteidigt, muss erst noch gebaut werden.

In der abgelaufenen Bundesliga-Saison gewann Kimmich 59% seiner Zweikämpfe – David Alaba gewann knapp die Hälfte seiner Duelle, Rafinha 56% und selbst Mats Hummels kam mit 63% nur auf einen geringfügig besseren Wert als sein Teamkollege auf der Außenbahn. In der Königsklasse wurden Kimmich schon etwas häufiger die Grenzen gezeigt, doch auch da liegt er nur 6% hinter Marcelo (47 zu 53).

Ein weiterer Aspekt, der oft vergessen wird, ist, dass Kimmichs offensive Spielweise so gefordert wird. Das bedeutet, dass er teamtaktisch abgesichert werden muss. Nicht alle Kontersituationen, die über seine Seite entstehen, sind also auch automatisch als sein Fehler zu betrachten.

Trotz allem ist in der Rückwärtsverteidigung Luft nach oben – alles andere wäre für einen 23-Jährigen auch sehr beängstigend. Seine zukünftigen Trainer werden an diesem Punkt ansetzen müssen, doch auch Kimmich selbst hat zuletzt bewiesen, dass er immer stabiler wird. Gerade aus den gemachten Fehlern lernt er sehr schnell.

Gegen den Ball hat er in nur wenigen Monaten extrem schnell dazugelernt, alte Verhaltensmuster – wie beispielsweise zu langsames Verschieben bei Seitenwechseln – hat er sich abtrainiert.

Er findet eine immer bessere Balance aus Offensiv- und Defensivspiel. Wenn man einen Vergleich zu Philipp Lahm ziehen möchte, dann den, dass Kimmich aktuell weiter ist, als es der Weltmeister in seinem Alter war. Gerade im Angriff hat er unfassbare Werte zu bieten. Sechs Tore und 17 Torvorlagen steuerte er in 3796 Minuten in allen drei Wettbewerben dazu – das sind alle 165 Minuten eine Torbeteiligung.

Dieser Mehrwert ist jetzt schon unverzichtbar für den FC Bayern. Kimmich streichelt die Bälle so in den gegnerischen Strafraum, dass seine Teamkollegen nur noch in die Flanke rennen müssen, um zum Abschluss zu kommen. Sein Positions- und Passspiel sind kaum schlechter als bei Philipp Lahm.

Kimmich ist stets ein sicherer Fixpunkt für die Mittelfeldspieler, er über- und vorderläuft seinen Vordermann nahezu in Perfektion, und sorgt in den richtigen Momenten für Breite im Spiel seiner Mannschaft. Eine Passquote unter 90% findet man beim Nationalspieler nur selten.

Dabei geht er durchaus auch ins Risiko. Pressingsituationen löst er mit klugem Passspiel und Körpertäuschungen. Auch von Angriffspressing lässt sich Kimmich nicht beeindrucken. Statt seinen Torwart mit einem Rückpass unter Druck zu setzen, findet der 23-Jährige häufig die Lücken in der vordersten Pressinglinie des Gegners. Wer das mal genauer beobachtet, wird aus dem Staunen nicht mehr herauskommen.

Kimmich scannt sekündlich den Platz, weiß stets wie Gegner und Mitspieler positioniert sind. Mit dieser Übersicht gelingen ihm teilweise hervorragende Pässe, die gefährliche Spielzüge initiieren. Momente, die im Fußball nur selten geschätzt werden, aber enorm wichtig sind.

Mentalitätsmonster Kimmich

Doch es ist nicht nur die sportliche Qualität, die Kimmich schon im frühen Alter unersetzlich für den FC Bayern macht. Als die Bayern das Hinspiel gegen Real Madrid verloren, war das Gesicht des Verteidigers zur Faust geballt. Niemandem war der Frust über diese unnötige Niederlage so sehr anzumerken wie ihm.

Beim ZDF wurde er wenig später gefragt, ob er die Einschätzung teile, dass Bayern mehr Aufwand für große Chancen betreiben musste als Real. Kimmich entgegnete leicht verwundert, wie oft der Reporter die beiden Mannschaften jeweils gefährlich vor dem Tor gesehen habe. „Die Frage können sie sich selbst beantworten“, legte der Nationalspieler bei der Favoritenfrage fürs Rückspiel nach.

Kimmich war angefressen. Er ließ das ohne Rücksicht auf Reaktionen heraus. Doch er wurde weder respektlos noch ausfallend. Für sein Alter ist er unfassbar bestimmt und sachlich, aber keinesfalls weichgespült oder zahm. Er verkörpert lediglich einen unfassbaren Ehrgeiz.

Selbst nach verlorenen Trainingsspielen ist Kimmich nach eigener Aussage so angefressen, dass er schlechte Laune habe. Verbissenheit, Ehrgeiz, ständige Spannung – Kimmich überträgt diese Eigenschaften auch auf den Platz. Er marschiert vorweg, übernimmt Verantwortung, ist selbstreflektiert und lernwillig.

Oft wird in Deutschland total pauschal und ohne Kontexte von Typen gesprochen. Müsste man definieren, was diese Debatte um Typen eigentlich meinen sollte, so käme man auf den Prototypen Joshua Kimmich. Spielintelligent, technisch hochbegabt, professionell, verantwortungsbewusst, trainingsfleißig, selbstbewusst, nicht auf den Mund gefallen… er bringt einfach alles mit, um der Kapitän der Zukunft zu sein. Bei den Bayern und in der Nationalelf.

Noch ist er nicht so weit. Noch fehlen gewisse Nuancen sowie Erfahrungen. Die wird er in Zukunft sammeln müssen.

Kimmich ist nicht Philipp Lahm. Er ist auch nicht Bastian Schweinsteiger. Sicherlich gibt es Charakterzüge und Eigenschaften, die Vergleiche mit den beiden Bayern-Legenden hervorbringen. Dass diese überhaupt herangezogen werden, zeigt aber, was Kimmich jetzt schon erreicht hat.

Auch in den nächsten Monaten wird er den ein oder anderen kleinen Fehler machen. Vielleicht auch mal einen größeren, auch wenn das untypisch für ihn ist. Die Kritiker werden reagieren, indem sie sein Potential mit der Lahmsteiger-Schablone abgleichen, und feststellen, dass ihm noch zu viel fehle, um in solche Regionen zu gelangen.

Kimmich wiederum wird sein Gesicht nach diesen Fehlern zur Faust ballen, angefressen in die Kabine marschieren, und es beim nächsten Mal besser machen. Weil er Situationen richtig einordnet.

In München hat man mit ihm längst nicht nur einen Anführer und Star der Zukunft. Joshua Kimmich ist schon in der Gegenwart Leistungsträger und Leader. Diesen Status wird er in den nächsten Jahren weiter festigen, da gibt es kaum Zweifel. “Den lieb’ ich, der Unmögliches begehrt”, heißt es in Goethes zweitem Teil von Faust. Ein Satz, der auch gut zu Joshua Kimmich und seinem Standing bei den Fans passt.

Den Miasanrot-Award für den Spieler der Saison musste er sich gegen Spieler wie James oder Ulreich hart erarbeiten, doch er hat ihn sich verdient. Es wäre keine gewagte These, wenn dies nicht sein letzter Award bleibt.

Und wenn der Kimmich-Hype-Train irgendwann im Zielbahnhof der Karriere einfährt, wird von Vergleichen mit Lahm und Schweinsteiger hoffentlich nur noch die Rede sein, wenn es um die Einordnung der eigenen Spuren geht, die Joshua Kimmich beim FC Bayern hinterlassen hat.

Nur selten kann man sich bei jungen Spielern weit aus dem Fenster lehnen, aber Kimmich ist einzigartig – auf allen Ebenen. Die Redaktion gratuliert Joshua Kimmich, und wünscht ihm eine erfolgreiche Weltmeisterschaft in Russland, bei der sein Hype-Train die nächsten Meilensteine der Karriere einfahren wird. Und wer weiß? Vielleicht werden nach dem Turnier auch dort die bewussten Erinnerungen an Legende Lahm ins Unterbewusstsein rücken. Tuuuut, tuuut!