Die Rückkehr des alten Giganten
Vor ziemlich genau 17 Monaten erlitt Philipp Lahm die schwerste Verletzung in seiner Zeit beim FC Bayern. Seine Rückkehr fast vier Monate danach, von Fans und Verein heiß ersehnt, zeigte einen Kapitän, der sichtliche Probleme mit seiner Form hatte. Nach einem Jahrzehnt auf höchstem Niveau, praktisch ohne jegliche Formschwankungen, ließ er zum ersten Mal spürbar nach.
Lange Schwächephase
Was zunächst noch auf die fehlende Erfahrung Lahms im Umgang mit Verletzungen geschoben werden konnte (Lahm war zuletzt im Jahr 2005 länger verletzt), wandelte sich in der Hinrunde der laufenden Saison zu einem sichtbaren Problem. Der inzwischen 32-Jährige konnte seine gewohnten Fähigkeiten nicht mehr so konstant abrufen. Sowohl im zentralen Mittelfeld als auch auf der rechten Außenverteidigerposition wurden größere Schwächen offensichtlich – Schwächen, die mit der Verletzung nichts mehr zu tun haben konnten.
Als Musterbeispiel dient hier vielleicht der Gegentreffer beim 3:1-Sieg der Bayern auf Schalke im November, exakt ein Jahr nach der Verletzung. Hier wurde Philipp Lahm in der Rückwärtsbewegung problemlos von Max Meyer ausgetanzt, ein einfacher Wackler reichte schon. Ein Fehler, wie man ihn bei den meisten Spielern mit leichter Enttäuschung akzeptieren würde. Bei Lahm hingegen war es ein so unerwartetes und unbekanntes Gefühl, dass einen beinahe die Sorge packte, dass hier eine große Zeit zu Ende gehen würde. Nicht nur bei Miasanrot fragten wir uns in dieser Phase, ob die Formkurve jemals wieder nach oben zeigen würde. Der ewige Reflex der deutschen Sportmedien bei Altgedienten, hier schien er berechtigt: Ist die Zeit von Philipp Lahm vorbei?
Ein halbes Jahr später können wir festhalten, dass es ein dummer geradezu naiver Fehler war, diesen Mann vorzeitig abzuschreiben. Philipp Lahm ist tatsächlich zurück. Auch wenn er physisch, gerade im Bereich der Endgeschwindigkeit nicht mehr die absolute Topform seiner Blütezeit erreichen kann, so ist der Bayernkapitän zur Zeit wieder die große Konstante in der Mannschaft – nicht zuletzt aufgrund seiner neuen Position.
Das ewige Positionsspiel
„Wo spielt Lahm?“ – Keine andere Frage hat seine Karriere so sehr begleitet wie diese. Als gelernter Rechtsverteidiger gelang ihm der Durchbruch beim VfB Stuttgart als Aushilfskraft auf links und auch bei der Nationalmannschaft spielte er sich als Linksverteidiger in die Herzen der Fans. Berühmt (und bis heute überbewertet) ist sein Zug zum Tor über links, dieser diente vielen Fans und „Experten“ auch als Hauptargument gegen Lahms eventuelle Migration auf die rechte Seite. Durchsetzen konnte sich diese Meinung nicht, auf seiner eigentlich gelernten Position machte er in der Heynckes-Ära einen weiteren Sprung nach vorne.
Komplettiert wurde die Lahmsche Revolution von Pep Guardiola. Es galt fast schon als Königsmord, zumindest aber als verrückt, das deutsche Außenverteidiger-Heiligtum im Herbst seiner Karriere in die Mitte zu ziehen. Doch die Spielintelligenz, Ballsicherheit und Pressingresistenz Lahms überzeugten Guardiola so sehr, dass er dieses Risiko eingehen musste. Die überhitzte Kritik an dieser Entscheidung, die sich während der WM 2014 entlud, war ziemlich fehl am Platze. Denn die schwächeren Leistungen lagen nicht an der Mittelfeldposition selbst, sondern viel mehr an kollektiven Prozessen, Abstimmungsschwierigkeiten, schwachen Vertretern – die neuen Rechtsverteidiger waren gelernte Innenverteidiger – und teils auch an gewissen Formschwankungen während des Turniers, die die öffentliche Diskussion um Lahm zum Überlaufen brachten.
Die Zukunft ist hybrid
Inzwischen ist Philipp Lahm in seiner Polyvalenz angekommen und diese scheint auch von der Allgemeinheit akzeptiert zu sein. Dennoch stellte sich bis vor kurzem stets die Frage, auf welcher Position er der Mannschaft am meisten hilft. Dieses Problem lösten Lahm und Guardiola in der Rückrunde mit der vierten Stammposition seiner Karriere, die ihn den vierten Frühling leben lässt.
Auf dem Papier spielt der Verfechter der flachen Hierarchie als traditioneller Rechtsverteidiger. Und in der Tat gibt es Momente, in denen er die Position auch klassisch interpretiert, in denen er der Mannschaft die benötigte Breite gibt und den gegnerischen Flügel mit berechnender Präzision terrorisiert. Der Unterschied zur Vergangenheit liegt in der Perfektion seiner Hybridrolle, die die Amtszeit Guardiolas vielleicht am besten visualisiert.
Eine der größten taktischen Neuerungen des Trainers beim FC Bayern war die Einführung der einrückenden Außenverteidiger. So sollten diese in Ballbesitzphasen nicht mehr an der Seitenlinie kleben, sondern zumindest in die Halbräume rücken. Der große Vorteil dieser Ausrichtung ist die erhöhte Konterabsicherung, da man die gegnerischen Umschaltmomente mit zusätzlicher Präsenz im Zentrum unterdrücken kann. Ein Problem dieser Spielidee ist die Limitierung der eigenen Offensive, da es an vertikalen Flügelläufen fehlt, die simpel und dennoch zerstörerisch sind.
Lahm hat dieses Problem inzwischen behoben. Er weiß genau, wann er ins Zentrum rücken muss und wann die Unterstützung des Flügels benötigt wird. Somit spielt Lahm praktisch zwei Positionen zur gleichen Zeit. Und das sehr nah an der Perfektion. Der alte Gigant ist endgültig zurück.
In ruhigen Ballbesitzphasen rückt der Kapitän stark in die Mitte und bildet mit dem Mittelfeldanker (zumeist Alonso oder Vidal) eine Art Doppelsechs. Das große Loch, das er damit auf rechts hinterlässt, tut nicht weh, denn den Zugriff auf den durchbrechenden Gegner erhält er vom Zentrum aus genauso gut – vielleicht sogar noch besser, da er den Gegenspieler nach außen drängen kann. Da die Mehrzahl der Gegner tief steht, ist diese Lücke sowieso kaum besetzt, sondern kann höchstens anvisiert werden.
Besonders in Umschaltmomenten und nach Überwinden des gegnerischen Mittelfelds spielt Philipp Lahm hingegen klassischer und unterstützt entweder den Flügelspieler mit einer Hinterlaufbewegung oder kreiert eine zusätzliche Anspielstation im offensiven Halbraum. Dank der Ballkontrolle und Übersicht agiert Lahm in letzteren Situationen hervorragend und einem Mario Götze nicht unähnlich – nicht zu Unrecht sagt man, dass er auf fast jeder Position die internationale Klasse erreicht hätte.
Nichts würde die Laufbahn des wohl besten deutschen Feldspielers seit Lothar Matthäus besser zusammenfassen als ein Karriereende auf höchstem Niveau. Die Leistungen der letzten Monate sind Grund zur Hoffnung. Offensichtlich ist die Zeit des Philipp Lahm erst vorbei, wenn er das sagt.