Leon Goretzka – Der Unverstandene
„Es kann gut sein, dass später alle einmal schreiben werden: In Sotschi fing es an.“ Dieses Zitat aus einem Spiegel–Online-Artikel aus dem Jahr 2017 zum Auftritt Leon Goretzkas beim Confed-Cup verdeutlicht eindrücklich die Erwartungshaltung an den damals 22-jährigen Bochumer.
Der Weg von Leon Goretzka schien lange vorgezeichnet. Als junges Talent vom VfL Bochum zum Nachbarn Schalke 04 gewechselt und schnell als Spielertyp der Zukunft für die deutsche Nationalmannschaft und den Klubfußball ausgemacht – spätestens mit seinem Wechsel zum FC Bayern München im Jahr 2018.
Nach anfänglichen Startschwierigkeiten konnte sich Goretzka auch in München in den Vordergrund spielen und galt nach seiner Boss-Transformation während der Corona-Pause zusammen mit Joshua Kimmich als das zukünftige Gesicht des Münchner Mittelfelds. Auch die Medienlandschaft übernahm gerne die Vorstellung der nächsten Generation an Führungsspielern, die Goretzka mit Interviews und Aussagen über den Tellerrand des Fußballs hinaus befeuerte. So war vor vier Jahren klar: An diesem Leon aus Bochum führt kein Weg vorbei.
Im Winter der Saison 2023/2024 scheinen diese Zukunftsaussichten mehr Nebelschwade als klare Vision gewesen zu sein. Goretzka spielt aktuell auch aufgrund des kleinen Kaders im Mittelfeld zwar regelmäßig, scheint jedoch nie die Rolle zu finden, die ihn zu einem Unterschiedsspieler auf höchstem Niveau machen kann. Woher kommt die große Lücke zwischen Erwartungshaltung und Leistung auf dem Feld und steht Goretzka dabei beispielhaft für die „Generation 1995“? Eine Analyse.
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Die Erwartungshaltung
Es schien fast schon zu perfekt, als nach der Corona-Pause 2020 das Duo Kimmich/Goretzka nun endlich konstant das zeigen konnten, was viele sich schon länger erhofften: Eine perfekt aufeinander abgestimmte Schaltzentrale im Mittelfeld. Goretzka, der mit seiner physischen Präsenz den Gegenpart zum scheinbaren Strategen Kimmich bilden konnte.
Hier wurde angenommen, dass Goretzka den häufig ebenfalls in höheren Zonen agierenden Kimmich defensiv absichern und somit die Balance im Mittelfeld halten könne. Eine These, die es noch zu prüfen gilt.
Doch nicht nur auf dem Platz schien nun alles wie gewünscht zu laufen, auch sein Profil neben dem Platz konnte er durch intelligente Aussagen zum System Fußball und darüber hinaus schärfen. Das Narrativ des reflektierten Führungsspielers, der damit auch eine Gegenthese zu den Alphas der Nullerjahre bildete, war geboren. Als die sportliche Gesamtsituation es rechtfertigte, war dieser Prototyp auch gerne gesehen. Etwas, das Goretzka aber später noch einholen sollte.
Das Profil von Goretzka
Den Spielertyp Goretzka zu fassen, fällt schwer, da er nicht in einem Satz zu beschreiben ist. Der Mittelfeldspieler kann fast alles gut, aber wenig herausragend. Dies zeigt sich auch an seiner Flexibilität. Vom Aushilfsinnenverteidiger bis zur hängenden Spitze konnte er schon den gesamten Raum des Feldes bespielen. Genau diese Räumlichkeit zeichnet auch sein Spiel aus. Goretzka hat eine zielgenaue Übersicht für sein Stellungsspiel, sowohl im Gegenpressing als auch bei seinen markanten offensiven Laufwegen.
Allerdings verkörpert er – im Gegensatz zu den Erwartungen – nicht den Spieler, der im klassischen Defensivverhalten, die Bälle im Stile eines Javi Martínez vor der Abwehrreihe aufsaugt. Damit spielt er häufig in ähnlichen Räumen wie Joshua Kimmich, womit im Zentrum der Münchner die defensive Balance verloren geht. Unter Hansi Flick fiel das seltener auf, weil das System außergewöhnlich offensiv war.
Ideal wären die Fähigkeiten von Leon Goretzka in einem Dreiermittelfeld aufgehoben, in dem er den freieren offensiven Achter spielen kann. So könnte er auch seine Stärken im Offensivdrittel und insbesondere beim letzten Pass vor einem Torabschluss ausspielen.
Diese Position gibt es allerdings momentan im Bayernmittelfeld nicht. So scheint es, dass Goretzka auf dem Platz sichtbar seine Rolle sucht. Zu Beginn der aktuellen Saison schien es fast so, als ob er verzweifelt versuchte dem Anforderungsprofil Tuchels, also einer „Holding Six“ zu entsprechen. So hielt er sich häufig in den tieferen Zonen des Mittelfelds auf, verzichtete damit aber auf seine Stärken in der Offensive und offenbarte gleichzeitig Schwächen im strategischen Passspiel.
Leon Goretzka: Der (zu) Vielseitige
Die Vielseitigkeit des 29-Jährigen ist hierbei auch teilweise ein Nachteil für ihn, da er die meisten Positionen zwar befriedigend ausfüllen kann, die Erwartungshaltung an Ihn jedoch über den gehobenen Durchschnitt hinausgeht. Das scheinbare Vakuum an sogenannten Führungsspielern in der Nationalmannschaft und im Verein können momentan weder Kimmich noch Goretzka ausfüllen, was allerdings weniger an Führungsschwäche als an mangelnden sportlichen Leistungen liegt.
Die Diskussion um diesen Mangel an potenziell mitreißenden Spielern, ist eine müßige, die häufig mit sportlichen und taktischen Missständen vermischt wird. Dies musste Goretzka spätestens bei der WM in Katar erleben. Dort trat er im Vorfeld meinungsstark gegen die Missachtung der Menschenrechte im Gastgeberland auf.
Was zuerst noch flächendeckend als positives Statement aufgefasst wurde, änderte sich mit dem negativen sportlichen Verlauf im Turnier schnell. Nun machten viele die politische Diskussion mit Goretzka als Wortführer als Grund für die fußballerische Misere aus. Eine Argumentation, die nur sehr bedingt nachvollziehbar ist und auch über viele andere Problemzonen des deutschen Fußballs hinwegtäuschte.
Wenngleich es unfair ist, Goretzkas gesellschaftliches und politisches Engagement mit seinen Leistungen aufzuwiegen, so kann es jedoch Einfluss auf den Spieler haben. Zumal das mit Sicherheit auch intern thematisiert wird – wie allein die Aussagen zum Amtsantritt von Rudi Völler als Nachfolger von Oliver Bierhoff zeigten. Der ehemalige Bundestrainer erklärte, dass es mit der Politik auch mal gut sein müsse.
Die „Generation 1995“
In die sportliche Talfahrt mischten sich auch immer häufiger Stimmen, die ein komplettes Versagen der Nachfolger der deutschen Weltmeistermannschaft von 2014 attestierten. Die sogenannte „Generation 1995“ rund um Spieler wie Joshua Kimmich, Serge Gnabry, Niklas Süle, Julian Brandt, Leroy Sané und Timo Werner seien nicht in der Lage gewesen, die Fußstapfen von Philipp Lahm und Bastian Schweinsteiger auszufüllen.
Der einst als zukünftige goldene Generation gefeierten Riege an Spielern mangelt es gewiss nicht an individuellen Fähigkeiten. Die Konstanz, Weltklasseleistungen regelmäßig bestätigen zu können, ist hier eher die Problemstellung.
Allerdings war dies auch eine Herausforderung, die Spieler wie Schweinsteiger erst zum Höhepunkt ihrer Karriere meistern konnten. Lahm war dahingehend mit beeindruckender Konstanz eher die Ausnahme als die Regel. Der nominelle Zenit der Endzwanziger um Goretzka wäre die Europameisterschaft 2024.
Ob dort eine entscheidende Rolle für sie vorgesehen ist, oder ob die nächste Generation um Musiala und Wirtz deren Platz einnimmt, entscheidet letztendlich Bundestrainer Julian Nagelsmann – aber vor allem die Spieler selbst.
Wie geht es weiter?
Einen hochmotivierten und vor allem effektiv spielenden Leon Goretzka konnte man zuletzt im Achtelfinalrückspiel der Champions League gegen Lazio Rom bewundern. Hier war auch zu erkennen, dass die Motivation nicht das Problem Goretzkas darstellt. Vielmehr war in diesem Spiel gegen offensiv harmlose Römer mehr sein Fähigkeitenprofil gefragt als sonst.
„Es kann gut sein, dass später alle einmal schreiben werden: In Sotschi fing es an.“ Peter Ahrens und Rafael Buschmann; Spiegel Online 20.06.2017
Auch scheint Aleksandar Pavlović ein passenderer Partner im Mittelfeld zu sein als Joshua Kimmich. Ob die Dynamik und Spielintelligenz des Bochumers auch über den Sommer 2024 weiterhin im roten Bayerndress zu sehen sein wird, hängt maßgeblich vom neuen Trainer und seinen Vorstellungen für das Mittelfeld ab.
Sicher ist, es werden entscheidende Monate für Leon Goretzka und die „Generation 1995“ werden. Und vielleicht wissen wir dann bald, was genau in Sotschi anfing.