Thomas Tuchel vergraben unter seinem Schlauchschal beim Auswärtsspiel in Bochum.

FC Bayern München und Thomas Tuchel: Wie geht es weiter?

Justin Trenner 19.02.2024

Ist Thomas Tuchel noch Trainer des FC Bayern München? Hunderte Menschen googelten diese Frage in der Nacht vom 18. auf den 19. Februar. Zuvor hatten die Münchner ihr Spiel in der Bundesliga beim VfL Bochum mit 2:3 verloren.

Wiederum davor hagelte es Niederlagen bei Bayer 04 Leverkusen und in der Champions League bei Lazio Rom. Thomas Tuchel steht so sehr in der Kritik, wie er nur in der Kritik stehen kann. An sich keine neue Situation für den FCB-Coach. Seit er im März 2023 übernahm, scheint die Beziehung mit dem Umfeld des FC Bayern und vielleicht auch mit dem Club selbst zu fremdeln.

„Ich halte nichts von diesen monströsen Trainer-Unterstützungsbekundungen“, sagte Jan-Christian Dreesen nach der Bochum-Pleite: „Ich weiß ja, was sie hören wollen, aber diese Treueschwüre sind ja nach einer Woche schon wieder vorbei.“ Aktuell sei ein Trainerwechsel aber noch kein Thema. Tuchel werde im Heimspiel gegen RB Leipzig auf der Bank sitzen.

Doch was passiert, wenn der FC Bayern unter Tuchel nicht mehr die Kurve bekommt? Welche Szenarien und welche Handlungsmöglichkeiten gibt es? Und vor allem: Wie viel Schuld trägt Tuchel an der aktuellen Situation? Eine Analyse.

FC Bayern München: Warum wird es eng für Thomas Tuchel?

Ein Bayern-Trainer, der nach drei Niederlagen in Serie nicht in der Kritik steht? Gibt es nicht. Allerdings gab es auch bisher kaum einen FCB-Coach, der trotz einer überragenden Ergebnisserie in der Hinrunde derart kritisiert wurde wie Tuchel.

Die wesentlichen Aspekte im Schnelldurchlauf: Langweiliger Fußball, keine Weiterentwicklung, Spielglück, Dünnhäutigkeit, falsche oder fragwürdige Personalentscheidungen, Ratlosigkeit über schlechte Auftritte in Interviews. Sicher gab es noch einige Punkte mehr, doch das dürfte einen großen Teil dessen abdecken, mit dem sich Tuchel konfrontiert sah – wenn er denn überhaupt mal „online“ war. Jüngst erklärte er, dass er sich bewusst von dem abkapseln würde, was medial passiert.

Nicht immer war die Kritik an Tuchel fair. Klar ist auch, dass es in der Analyse des FC Bayern nicht den einen Schuldigen gibt. Dafür sind die Probleme auf vielen Ebenen zu komplex. Beginnend bei einer Führungsetage, die dem Club seit geraumer Zeit keine Stabilität verleihen kann. Zunächst mit Hasan Salihamidzic und Oliver Kahn als Gesichter der Achterbahnfahrten, die der FCB sportlich durchlebte.

Dann mit einem fast schon zusammengewürfelten Transferteam, das nach dem Transfer von Harry Kane so etwas wie die bayerischen Avengers darstellte – nach dem gescheiterten Wechsel von João Palhinha und den späten Abgängen von Josip Stanišić sowie Benjamin Pavard aber eher wie eine Parodie eben jener daherkam.

Thomas Tuchel: Wie groß ist sein Anteil an der Bayern-Krise wirklich?

Tuchel wurde mitten in die Umstrukturierung der Führungsetage verpflichtet. Auch wenn zum Zeitpunkt seiner Verpflichtung noch nicht klar war, dass Salihamidzic und Kahn am Saisonende gehen würden, so standen beide bereits massiv unter Druck. Darüber hinaus übernahm der Champions-League-Sieger von 2021 eine Mannschaft, die aus mehreren Gründen verunsichert war.

Intern war die Verwunderung über die Entlassung von Julian Nagelsmann groß. Viele Spieler, so wurde es damals berichtet, konnten sich nicht sofort mit Tuchel als neuem Trainer anfreunden. Auch der ehemalige PSG-Coach selbst sprach regelmäßig nach Spielen darüber, dass es nicht einfach sei, mitten in der Saison ein Team zu übernehmen, das den Rhythmus komplett verloren hatte.

Deshalb bekam Tuchel auch zu Recht eine Schonfrist. Nur kamen im Sommer weitere Probleme hinzu. Zwar saß der Übungsleiter mit im Transferkomitee und hatte offenbar so viel Macht bei Transfers wie kaum ein anderer Trainer vor ihm, doch seine Wunschspieler bekam er dennoch nicht. So gut die Verpflichtung von Kane war, so eklatant war die Planung auf anderen Positionen, die Tuchel das Leben bis heute erschweren.

Dass er sich schon damals so offensiv zum dünnen Kader äußerte, hatte Gründe. Vermutlich ahnte er, dass es nicht leicht sein würde, damit durch die Saison zu kommen. Umso beeindruckender waren die Ergebnisse, die der FC Bayern lieferte. Zumal Verletzungen die Situation zusätzlich erschwerten. Mitunter musste Tuchel Kompromisse finden, die es einfach nicht gab. Nun aber ist die Zeit vorbei, in der die Ergebnisse all die Probleme überdecken, die sich angehäuft haben.

FC Bayern: Tuchel muss Verantwortung übernehmen

Vakuum in der Führungsetage, ein unausgewogener und bisweilen dünner Kader, Verletzungen – Tuchel allein für die aktuelle Situation verantwortlich zu machen, wäre falsch. Im Gegenteil hat er beachtliche Erfolge erzielt. Obwohl nahezu alles dagegen sprach, schaffte er es, die Defensive des Rekordmeisters über einen langen Zeitraum zu stabilisieren.

Und doch muss Tuchel einen Teil der Verantwortung für diese Krise übernehmen. Vielleicht sogar einen sehr großen. Die Ansprüche des FC Bayern sind groß. Tuchel traf Personalentscheidungen, die nicht immer nachvollziehbar waren und argumentierte anschließend öffentlich mit dem Zustand der Spieler. Ein gutes Beispiel dafür ist Mathys Tel. Der Franzose hatte einen überragenden Saisonstart, traf nahezu nach Belieben. Einen Startelfeinsatz bekam er von Tuchel aber nicht.

Als seine Form dann nach unten tendierte, argumentierte der Trainer mit jener Formkurve. Doch eine Frage muss erlaubt sein: Hat Tuchel nicht selbst großen Anteil daran, dass Tel seine Form nicht halten konnte? Letztendlich verwundert es wenig, dass ein junger Spieler, wenn er für seine Leistungen nicht belohnt wird, verunsichert ist oder zu viel von sich selbst verlangt.

Tuchel hat seine eigenen Spieler geschwächt

Auch bei Matthijs de Ligt muss sich Tuchel hinterfragen. Der Niederländer war unter Julian Nagelsmann ein absoluter Schlüsselspieler, lieferte Woche für Woche Leistungen auf hohem Niveau ab. In dieser Saison hatte er Verletzungspech, bekam aber auch kaum Gelegenheiten, sich wirklich über einen längeren Zeitpunkt zu präsentieren. Selbst dann nicht, wenn andere Innenverteidiger nicht performt haben. Bei de Ligt argumentierte Tuchel öffentlich ebenso schwammig wie bei Tel.

Und dann ist da noch das aktuelle Lieblingsthema vieler Bayern-Fans: Joshua Kimmich. Prädestiniert als einer der Führungsspieler des Kaders hatte man von Beginn an nicht das Gefühl, dass er und Tuchel an einem Strang ziehen. Solche Probleme sind immer beidseitig zu betrachten, aber als Trainer hat man die Verantwortung, derartige Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen und jene zu stärken, die auf dem Platz mit am wichtigsten sind.

Stattdessen aber gab Tuchel vor den Kameras der übertragenden Sender Woche für Woche zu verstehen, dass er gar keine Ahnung habe, was dort auf dem Feld passiert. Er wisse es schlicht nicht, wie es sein könne, dass Trainings super ablaufen, Spiele jedoch nicht. Er könne nicht erklären, warum man nach 20 Minuten nicht mehr in der Lage ist, guten Fußball zu spielen. Was für eine Wirkung erzielt er damit bei den Spielern? Tuchel entzieht sich der Verantwortung zu oft, als dass er sich ihr stellen würde.

Es wäre trotzdem zu einfach, nur ihn oder nur den Kader für die Krise verantwortlich zu machen. Aber es wird offensichtlich, dass beides nicht so richtig zusammenpasst. Derzeit gibt es viele Umfragen, die die Schuldfrage klären wollen: Trainer, Spieler oder Führungsetage? Die Antwort ist so simpel wie komplex: Alle drei Lösungen stimmen.

FC Bayern: Wie geht es jetzt weiter?

Wie soll es nun also weitergehen? Gefragt ist vor allem die Führungsetage des FC Bayern. Denn die Mutter aller jüngeren Bayern-Krisen liegt in einer ungeklärten Problemfrage: Wofür will der FC Bayern München stehen? Ein Blick auf die Transfers und Trainerentscheidungen der letzten knapp zehn Jahre verrät: Keine Ahnung.

Während man durch die Verpflichtungen von Louis van Gaal, Jupp Heynckes und Pep Guardiola noch in eine Phase rutschte, die fast wie ein roter Faden aussah, ging es ab der Entscheidung für Carlo Ancelotti bergab. Nicht, weil Ancelotti ein schlechter Trainer wäre. Der Italiener zeigt aktuell bei Real Madrid, dass er es immer noch drauf hat.

Doch Transferentscheidungen wirkten von da an immer ideenloser. Ancelotti sollte verwalten, was mit alternden Schlüsselspielern und teils dürftigen Neuzugängen nicht mehr zu verwalten war. Und so ging es in der Folge weiter. Trainer mit ganz unterschiedlichen Spielideen probierten sich an einem Kader, der seine Handschrift von Jahr zu Jahr mehr verlor.

Hier muss der FC Bayern eher früher als später ansetzen. Hier liegt die größte Chance der aktuellen Krise. Endlich klar zu definieren, wofür man stehen möchte. Erst wenn diese Frage beantwortet ist, kann eine Entscheidung für oder gegen Tuchel fallen.

Szenario 1: Mit Thomas Tuchel in die Zukunft

Auch wenn es aktuell kaum Indizien dafür gibt, dass der FC Bayern mit Tuchel in die Zukunft geht, so ist dieses Szenario nach wie vor möglich. Wenn Trainer und Kader nicht zusammenpassen, ist es zwar oft der Trainer, der allein schon aus Kostengründen entlassen wird. Doch vielleicht ist man in München derart überzeugt davon, dass Tuchels Weg der richtige ist, dass man anders handelt.

Dann braucht es einen radikalen Umbruch des Kaders im Sommer. Spieler, die zur Grundidee von Tuchel passen und die die Disziplin mitbringen, die es für seinen oft pragmatischen und eher statischen Ansatz braucht. Spieler, die ihre Positionen halten und auch gegen den Ball geduldig spielen können. Aktuell ist der Kader voll mit Spielern, denen ein dynamischeres, offensiveres und aggressiveres Spiel mehr liegt.

Ein großes Risiko, das man eingehen würde. Denn finanziell würde ein derartiger Umbruch viel Geld binden – zumal mit einem Trainer, der berechtigterweise für einige sportliche Fehlentscheidungen kritisiert wird. Es wäre ein ungewöhnliches Vorgehen.

Szenario 2: Der FCB trennt sich sofort von Tuchel

Ein sehr gewöhnliches Vorgehen wäre die sofortige Trennung. Sollten die Bayern auch das Heimspiel gegen RB Leipzig in der Bundesliga verlieren, wird die Luft sehr dünn für Tuchel. Selbst ein wenig überzeugender Sieg könnte den Prozess schon weiter anstoßen. Das Problem: Wer soll übernehmen?

Anders als bei der Entlassung von Nagelsmann gibt es diesmal keinen Trainer mit der Strahlkraft von Tuchel auf dem Markt. Hansi Flick ist bereits die schillerndste Sofortlösung, die aktuell realistisch erscheint. Für den 58-Jährigen spricht, dass er beim FC Bayern mit einer Art und Weise erfolgreich war, die einige der aktuellen Probleme adressieren könnte.

Im Moment wirken die Bayern verunsichert, nahezu ängstlich. Es gab in der Geschichte kaum ein FCB-Team, das mit weniger Angst und Verunsicherung spielte als die Flick-Bayern. Das lag auch an seinem fast schon harakiri-artigen Ansatz. Doch hier liegt auch das Risiko. Gegen Flick spricht, dass schon relativ schnell absehbar war, dass er keine nachhaltige Lösung für den FC Bayern ist.

Schon nach wenigen Monaten zeigte die Formkurve des FCB nach unten. Defensiv war das Team so anfällig wie schon lange nicht mehr, offensiv schwand das unerschütterliche Selbstvertrauen zunehmend. Flick fand gegen die Probleme keine taktischen Lösungen. Und wer die Amazon-Dokumentation über das DFB-Team bei der WM in Katar sah, der bekam einen Eindruck davon, wie oberflächlich Flick im taktischen Bereich arbeitet. Bei den Bayern war das ähnlich. Nur, dass er einen einzigartigen Lauf in einer besonderen Zeit erwischte.

Sich darauf zu verlassen, dass das wieder klappt, könnte nach hinten losgehen. Zumal Flick wohl kaum bereit wäre, einen Interimsjob bis zum Sommer zu übernehmen, sodass die Bayern sich dann um einen echten Wunschkandidaten bemühen können. Für eine sofortige Trennung Tuchels mit anschließendem Wunschkandidaten im Sommer bräuchte es eine echte Übergangslösung.

Szenario 3: Trennung von Tuchel im Sommer

Und solange der FC Bayern daran glaubt, dass keine Übergangslösung es besser machen könnte als Tuchel selbst, bleibt noch das komplizierteste aller Szenarien: Mit Tuchel bis zum kommenden Sommer weitermachen und dann einen Wunschkandidaten installieren. Die Probleme liegen auf der Hand: Eine solche Entscheidung kann unmöglich intern kommuniziert werden.

Würde Tuchel jetzt davon erfahren, dass er es nur noch bis Sommer richten soll, würde er vermutlich sofort hinschmeißen oder schlimmstenfalls den Job nur noch halbherzig zu Ende bringen. Auch die Spieler würden mental noch mehr in der Luft hängen. Womöglich würde die restliche Saison endgültig zum gemeinsamen Auslaufen verkommen. Es gibt zwar auch Positivbeispiele wie Jürgen Klopp (BVB) oder Jupp Heynckes (2013), aber die waren anders gelagert. Ihr Standing innerhalb des Teams und des Clubs war ein komplett anderes. Mit Tuchel erscheint ein solches Szenario kaum vorstellbar.

Das Arbeiten an der Zukunft hinter dem Rücken des Trainers ist ebenfalls kaum möglich, kommt doch heutzutage jede noch so kleine und große Nachricht sehr früh an die Öffentlichkeit – und es wäre einfach schlechter Stil. Ist man schon jetzt davon überzeugt, dass Tuchel für die kommende Saison nicht der richtige Mann ist, sollte eine sofortige Trennung erfolgen. Unabhängig von der Qualität der Interimslösungen.

Sicherlich hängt das alles auch mit den im Sommer verfügbaren Kandidaten zusammen. Jemand wie Xabi Alonso steht nachvollziehbar recht weit oben auf der Liste. Nur wie groß die Chancen bei ihm wirklich sind, ist fraglich.

Max Eberl und die neue sportliche Führung: Von oben beginnen

Welches Szenario für den FC Bayern richtig ist, muss die neu aufgestellte sportliche Führung entscheiden. Christoph Freund und Max Eberl, der Anfang März übernehmen soll, müssen die wichtigsten Fragen zuerst beantworten. Wann gab es beim FC Bayern zuletzt eine Konstellation, in der sportliche Entscheidungen mit Tragweite von oben nach unten konsequent durchgezogen wurden?

Gerade weil der Profifußball so dynamisch ist, ist die Vorstellung davon leichter geäußert als umgesetzt. Es wird immer Spielerverpflichtungen geben, die nicht mit einem zukünftigen Trainer abgesprochen werden konnten. Es gibt jetzt Personal im Trainerteam, das nicht von der neuen sportlichen Führung aufgestellt wurde.

Umso wichtiger ist es aber, dass diese nun gerade zu Beginn möglichst viele richtungsweisende Fragen klärt. Idealerweise in dieser Reihenfolge:

  1. Für welche Art Fußball soll der FC Bayern stehen?
  2. Welcher Trainer kann diese Art Fußball umsetzen?
  3. Welche Veränderungen braucht es im Kader dafür?

Ist dieses Vorgehen eine Garantie für Erfolg? Sicher nicht. Aber wenn dem FC Bayern in der Vergangenheit eines gefehlt hat, dann ist es ein strategisches Vorgehen mit Wiedererkennungswert. Am ehesten war ein solches noch unter Julian Nagelsmann nachzuvollziehen. Doch den hat man recht früh dafür beurlaubt, dass man ihn als langfristige Lösung präsentiert hat – und ist dann wieder in eine ganz andere Richtung abgedriftet.

Solche Prozesse lassen sich nicht innerhalb einer oder zwei Spielzeiten abschließen. Vielleicht muss der FC Bayern realisieren und vor allem akzeptieren, dass der Weg nach ganz oben mehr Geduld erfordert. Und einen echten Neuanfang.



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