Beckenbauer-Momente, die in Erinnerung bleiben

Georg Trenner 19.01.2024

Ein Nachruf ist zu wenig, schreibt Tobi Escher zum Tod von Franz Beckenbauer. Der FC Bayern verabschiedet sich mit einer Gedenkfeier. Royale Staatsbegräbnisse sind selten geworden in Deutschland. Dieses ist angebracht.

Wir gedenken dem Kaiser auf unsere Art mit Anekdoten und persönlichen Schilderungen, wie Beckenbauer unseren Autor:innen und Gästen in Erinnerung bleiben wird.

Katrin: Beckie in Indonesien

Franz Beckenbauers Strahlkraft reichte in den 1970er Jahren bis nach Indonesien – und faszinierte dort meine Mutter, die fortan ein Fan dieses Ausnahmefußballers und somit auch des FC Bayern wurde („und gutaussehend war er auch noch!“). Es war nicht einfach, so sagt sie, dem deutschen Fußball in Indonesien zu folgen. Umso besser also, dass sie meinen Vater kennenlernte, ihn 1974 heiratete (obwohl sein Herz, zumindest den Fußball betreffend, für Mönchengladbach schlug) und mit ihm nach Hamburg zog.

Kurz nach dem Tod meines Vaters fand ich in der Wohnung meiner Eltern in einem verstaubten Aktenordner eine ganze Flut von Briefen. Briefe, die meine Eltern sich früher geschrieben hatten, und in denen meine Mutter sehr oft und sehr ausführlich über den Fußball und über „Beckie“ schrieb (ja, so hat sie Franz Beckenbauer genannt). Meist war es eine Zusammenfassung der Fußballspiele und eine längere Abhandlung darüber, wie „Beckie“ sich geschlagen hatte: War es ein gutes oder nur mittelmäßiges Spiel von ihm? Konnte er sich auszeichnen? Zeigte seine Formkurve nach oben oder nach unten?

In einem Brief erzählte sie meinem Vater davon, dass sie am Wochenende bei einer Bekannten zum Kaffee eingeladen worden sei, sie aber dankend abgelehnt hätte, denn „die Einladung war für 15 Uhr am Samstag, aber ich hatte Angst, dass ich es dann nicht rechtzeitig zur Sportschau nach Hause schaffe, und ich muss doch wissen, wie Beckie gespielt hat.“

Als ich diese Briefe in den Händen hielt und (natürlich mit dem Einverständnis meiner Mutter) las, wurden mir mehrere Dinge klar: Das Groupie-Gen, das habe ich ganz offensichtlich von meiner Mama geerbt. Und die Liebe, die leidenschaftliche Hingabe und Treue zum FC Bayern, die hat sie ihren beiden Töchtern in die Wiege gelegt (sorry, Papa). Und über allem, da schwebt der Kaiser.

Christian: die Erfindung der arroganten Bayern

1980 war ich mit gerade mal acht Jahren zu jung, um Beckenbauers Zeit beim FC Bayern bewusst erlebt zu haben. Ehrlich gesagt, hatte ich damals nicht einmal gewusst, wer Franz Beckenbauer überhaupt war. Mein Held war Karl-Heinz Rummenigge. Mein Opa, Schalke-Fan seit den 30er Jahren und somit nicht begeistert von der Vereinswahl des Enkels, klärte mich auf: „Mit dem Beckenbauer fing das an mit den arroganten Bayern. Der hat sich ja nicht mal das Trikot schmutzig gemacht, so überheblich wie der gespielt hat.“ 

Ich war verwirrt, denn nicht nur erfuhr ich erstmals von diesem Beckenbauer, sondern lernte auch das Wort „arrogant“ kennen. Franz Beckenbauer selbst stimmte meinem Opa im Jahr 2013 ein Stück weit zu, als er in einem Interview sagte: „Ich galt als arroganter Pinsel mit einer arroganten Spielweise.“

Der Kaiser war also indirekt entscheidend für meine Fußballsozialisation. Wegen Franz war ich nicht Fan eines „Arbeitervereins“ wie Schalke, nicht Fan eines „Kultclubs“ wie St. Pauli, sondern Fan der „arroganten Bayern“. 

Dass der Kaiser tatsächlich überhaupt nicht arrogant, sondern ein sehr volksnaher Regent war, schilderte mir Jahre später Karl-Heinz Rummenigge: „Ich konnte im Wesentlichen von drei Leuten lernen. Der erste in meiner Zeit als Spieler war Franz Beckenbauer. Null arrogant, hat mich 18-Jährigen oft nach dem Training mit seinem Auto nach Hause gefahren. Uneitel, jedem Menschen gegenüber freundlich. Diese Art und Weise habe ich mir zum Vorbild genommen.“

Justin: Beckenbauer-Videos fürs Prokrastinieren

Zwischen 2012, als ich mein Abitur abgeschlossen hatte und 2016, als ich in Potsdam mein Lehramtsstudium begann, hatte ich viel Zeit. Zwar habe ich zwischendrin immer mal wieder Dinge angefangen und beendet, doch so richtig kam nichts bei rum. Meine Zeit habe ich unter anderem damit gefüllt, historischen Fußball zu schauen. Franz Beckenbauer wurde schnell zu dem Spieler, dem ich am liebsten zugeschaut habe. Auf mich wirkte es, als wäre er seiner Zeit voraus. Oder als wäre er ein Fußballer aus der Zukunft, der eine Maschine entdeckt hat, mit der er in die Vergangenheit reisen kann. Jede Bewegung, jeder Lauf, jeder Zweikampf – immer war er dem Gegenspieler gedanklich und physisch einen Schritt voraus. Und alles wirkte bei ihm so leicht. Als müsste er sich nicht mal anstrengen. Stellvertretend dafür sind für mich die Torjubel. Beckenbauer schoss viele schöne Tore. Ein Freistoß mit dem Außenrist, ein langes Dribbling bis in den Strafraum, ein Distanzschuss – es gab nichts, das er nicht konnte. Heute denken sich Spieler durchchoreografierte Jubel aus, mit denen sie ihre Marke stärken. Beckenbauer hatte eine ganz eigene Körpersprache nach Toren. Als wolle er seinen Mitspielern sagen: So schwer war das jetzt auch nicht. Ich kann nur erahnen, wie oft ihm zur damaligen Zeit Arroganz vorgeworfen worden sein muss. Allein weil er nahezu über den Platz schwebte. Keiner konnte ihm das Wasser reichen. Meine Generation kennt diese Leichtigkeit allenfalls von Lionel Messi, wenngleich der ein ganz anderer Spielertyp war und ist. Beckenbauer hat weit vor den Boatengs und Hummels’ das Spiel der Verteidiger auf ein neues Level gehoben. Vergleiche zwischen Generationen ergeben oft keinen Sinn. Doch wenn ich mir bei einem Fußballer sicher bin, dass man ihn aus der Vergangenheit in die Zukunft teleportieren könnte und er immer noch zu den Größten des Sports zählen würde, dann bei Beckenbauer. Es ist etwas paradox: Während meines Lebens hat der Kaiser viel polarisiert. Allein die Geschichte rund um die WM 2006 ist da zu nennen. Ich hatte mit dem späten Beckenbauer kaum emotionale Berührungspunkte und als Spieler und Trainer erlebte ich ihn nie live. Und doch fühlt sein Tod sich für mich an, als hätte man dem Fußball, so wie ich ihn kenne, die Luft abgelassen. Beckenbauer hat alles in sich vereint, was diesen Sport so besonders macht. Von seinen dunkelsten Tagen bis zu den großartigen Momenten, die ich vor allem zwischen 2012 und 2016 rauf und runter geschaut habe.

Maurice: Die Weißbier-Torwand

Eine Szene, die in einer Zeit vor Social Media viral ging, und fast einem biblischen Wunder gleicht, ereignete sich 1994. Der FC Bayern war gerade Deutscher Meister geworden, erstmals seit vier Jahren. Zur Winterpause hatte Franz Beckenbauer, der Weltmeister-Spieler und -Trainer, seinem Kumpel Uli Hoeneß einen Gefallen getan und den erfolglosen Erich Ribbeck auf der Trainerbank des FC Bayern abgelöst. Vom dritten Platz führte der Kaiser die Münchner zur Meisterschaft mit einem Punkt Vorsprung auf den 1. FC Kaiserslautern. Es war wie immer: Dem Kaiser gelang einfach alles. 

Das „Aktuelle Sportstudio“ im ZDF wird von der Meisterfeier des Teams übertragen und im allgemeinen Freudentaumel wird Beckenbauer überredet, den Ball von einem Weißbierglas auf die Torwand zu schießen. Sein Kapitän Lothar Matthäus platziert und fixiert das Glas, Beckenbauer lupft das Bein seiner Anzughose und schießt. Dann geschieht das Unmögliche, das uns gewöhnliche Sterbliche vom Kaiser trennt: Der Ball hoppelt tatsächlich ins rechte untere Runde. Die anwesende Menge, darunter die gesamte Meistermannschaft im Anzug, verfällt in Ekstase. Dem Kaiser gelingt alles, immer und jederzeit. Amen.

Florian: Der König geht, der Kaiser kommt.

Franz Beckenbauer strebte stets nach dem ganz Großen. Sein Anspruch: ein erfolgreicher FC Bayern. Und wo Beckenbauer war, war der Erfolg. Diese Aura machte ihm vermutlich auch den Umgang als Trainer mit den zahlreichen Stars etwas leichter, einer Lichtgestalt glaubt man eben.

Der König geht, der Kaiser kommt.

Als König Otto (Rehhagel) den FC Bayern im April 1996 verlassen musste, erinnerten sich die Verantwortlichen an die erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Beckenbauer und der Mannschaft. Erneut sollte Beckenbauer die Saison retten, wie es schon 1994 der Fall war. In der Bundesliga gelang dies jedoch nicht. Die Bayern holten in Beckenbauers zweiter Amtszeit aus vier Spielen lediglich vier Punkte. Die Meisterschaft war verspielt, der BVB triumphierte erneut. Im UEFA-Cup, der damals in Hin- und Rückspiel ausgetragen wurde, spielten die Bayern Girondins Bordeaux mit Zinedine Zidane und Bixente Lizarazu aber an die Wand (2:0 und 3:1). Beckenbauer hatte die Mannschaft auf das Saison-Highlight hin zum Laufen gebracht. Der viel gescholtene Emil Kostadinov bekam das Vertrauen und zahlte es mit fünf Toren zurück. Mein Lieblingsspieler Mehmet Scholl brillierte in beiden Spielen und Jürgen Klinsmann wurde verdientermaßen Torschützenkönig der UEFA-Cup-Saison. Und Beckenbauer? Der hatte den FC Bayern nach 20 Jahren wieder zu einem internationalen Titel geführt. 1976 als Spieler, 1996 als Trainer: Wo Beckenbauer war, war der Erfolg.

Elischa: Die Straßenfußballer der Nachkriegszeit

In Sönke Wortmanns Film „Das Wunder von Bern“ spielt Louis Klamroth den Jungen Mattes, der im Umfeld der Weltmeisterschaft 1954 die Geschicke der deutschen Mannschaft verfolgt und selbst mit seinen Freunden auf der Straße Fußball spielt. Besonders im Gedächtnis ist mir geblieben, wie mit einem improvisierten Fußball aus altem Stoff die entscheidenden Szenen der WM nachgespielt werden. Im Film werden teilweise sehr klischeehaft und überspitzt die Zustände in der deutschen Nachkriegsgesellschaft dargestellt.

Doch genau in dieser Zeit lernte der 1945 geborene Franz Beckenbauer das Fußballspielen. In einer Epoche, als organisierte Jugendförderung oder gar Nachwuchsleistungszentren nicht einmal im Entferntesten denkbar waren, war Fußball für viele Kinder eine kostenlose und überall umsetzbare Freizeitbeschäftigung. Beckenbauer selbst beschreibt, wie er und seine Freunde genauso einen Ball improvisierten, um auf den Straßen in München Giesing die Grundlage für seine Weltkarriere zu legen. Wenn ich heute auf die eleganten und fast schon intuitiven Bewegungen Beckenbauers zurückblicke, dann denke ich häufig an die Forderung Mehmet Scholls nach mehr Fokus auf individuelle und technische Stärken und das von ihm prognostizierte Aussterben der sogenannten Straßenfußballer.

Beckenbauer war auch in seiner Generation eine Ausnahmeerscheinung. Seine Art, mit dem Ball umzugehen, war für viele Zuschauer fast schon provozierend lässig. Gerade in der frühen Zeit seiner Karriere, als er häufig auf den Außen eingesetzt wurde, kommt es mir noch so vor, als ob der Kaiser nicht vor tausenden Zuschauern mit einem Lederball, sondern in den zerstörten Straßen Giesings mit einem Stoffknäuel an den Gegenspielern vorbei tänzelte.

Georg: Elfmeterschießen nachts um drei 

Vor der Weltmeisterschaft 1990 erinnere ich mich nur ganz verschwommen an Lothar Matthäus’ Wechsel nach Mailand und an Uwe Rahn und Klaus Augenthaler in der „Sportschau“. Mit Matthäus‘ Toren gegen Jugoslawien setzt mein Bewusstsein als Fußballfan ein. Noch mehr als der Titel, noch mehr als Beckenbauers ikonischer Spaziergang alleine auf dem Rasen hat sich ein Interview von ihm bei mir eingebrannt. Es stammt aus einer im Nachgang ausgestrahlten Dokumentation zum Titelgewinn. Mein Bruder hatte sie auf Video. Wie oft wir uns die Doku angeschaut haben? Ich weiß es nicht mehr. 

Aber einzelne Passagen könnte ich mitsprechen. Wie jene über das Elfmeterschießen gegen England. Andreas Brehme und Matthäus trafen ihre Elfmeter. Als dann an dritter Position auch Karl-Heinz Riedle, Beckenbauers Risikoschütze, traf, war für den Kaiser klar, dass es reichen würde, denn als viertes kam Olaf Thon: “Der Olaf is einer, den kannst mitten in der Nacht aufwecken und sagst, du pass auf, Elfmeterschießen, der entscheidende Elfmeter, sagt der ‘kein Problem’.” Später präzisierte Beckenbauer die Zeitangabe zu drei Uhr nachts.

„Den kannst du nachts um drei aufwecken und der…“ habe ich seitdem fest in meinen Wortschatz übernommen. „Wir brauchen noch einen vierten Mann für die Auswärtsfahrt nach Hamburg! – Ruf Dennis an, den kannst nachts um drei aufwecken, der ist dabei.“ Und alle verstehen die kaiserliche Referenz. 



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