Nagelsmann: Entlassung kam zu früh
Der FC Bayern hat schon etliche Trainer entlassen. Meist mit Pauken und Trompeten und Sondersendungen im Boulevard. Doch die Entlassung Julian Nagelsmanns ist anders. Sie kam aus dem gar Nichts.
Argumente gibt es immer
Freilich gibt es Argumente für eine Trennung. Georg hatte sie bei uns schon genannt. Doch die gibt es bei jedem Trainer, zu fast jeder Phase. Max-Jacob “Rasenfunk” Ost pflegt hier richtigerweise zu sagen: Es gab noch keine Trainerentlassung, die man nicht hätte begründen können.
Hasan Salihamidžić und Oliver Kahn skizzierten auf der Pressekonferenz am Samstag ein düsteres Bild der Alternativlosigkeit, ohne dieses Wort benutzen zu wollen. Zuhörern wurden eine erschreckende wochenlange sportliche Talfahrt und Uneinigkeit zwischen Mannschaft und Trainer geschildert.
Kahn und Salihamidžić wiederholen diese Sprachbilder derart stoisch oft, dass man fast geneigt ist, die Realität zu verleugnen. Die Realität, dass man eine absolut perfekte Saison in der Champions League gegen die aller schwerst möglichen Gegner spielt und derzeit nur ein einziges, winziges Pünktchen von der Tabellenführung entfernt ist.
Historische Vergleiche…
Carlo Ancelottis Bayern waren am Ende verunsichert, hatten keine Spielidee, wie man gewinnen wollte. Als dann noch die Einheit im Team endgültig vor und während seines letzten Spiels in Paris wegbrach, war es um ihn geschehen. Verständlich also, dass Jupp Heynckes bei seiner Antritts-Pressekonferenz damals noch sehr tief stapelte (“Es wird schwer, Dortmund noch einzuholen.”).
Bei Niko Kovačs Ende war alles noch sehr viel schlimmer. Zwischen Mannschaftsteilen klafften mitunter Dekameter an Lücken, ein Spiel-, geschweige denn Pressingsystem war nicht zu finden, in der Mannschaft stimmte auch wenig. Einzig Robert Lewandowski setzte in vorderster Front noch die ein oder andere Duftmarke.
Die Entbindung der Trainer von ihren damaligen Posten war unstrittig, von jedem Beobachter so erwartet und tatsächlich – alternativlos. Geht man die Bayern-Historie alleine in diesem Jahrtausend zurück, findet man lauter solcher Fälle. Jürgen Klinsmanns letzte Tage nach der Blamage im Camp Nou, Louis van Gaal in der Rückrunde 2011. “Der Krug geht zum Brunnen, bis er zerbricht. Heute ist er zerbrochen.”
… hinken
Julian Nagelsmanns Entbindung war nicht so erwartet worden. Das macht die Entscheidung an sich nicht automatisch falsch, zeigt jedoch, dass hier der Fall anders liegt. Zeigt, dass die Münchener Chef-Etage es sich zu einfach macht, indem sie indirekt die Entlassung Nagelsmanns in eine Reihe mit Ancelotti und Kovač setzt.
Nagelsmanns letztes Spiel als Bayern-Trainer war kein 0:3 in Paris oder 1:5 in Frankfurt. Freilich war es eine Niederlage, doch war es auch nicht direkt der (vorläufige) Endpunkt einer abwärts gerichteten Spirale. Bayerns Form war nicht einmal wirklich eine Sinus-Kurve. Nach drei 1:1-Unentschieden zum Rückrundenstart, gewann Bayern alle Spiele souverän (die Partie in Wolfsburg war glücklich, aber siegreich), bis auf die Niederlage in Gladbach, bei der man 80 Minuten lang in Unterzahl war und nun, Leverkusen.
Dabei sah man gegen Leverkusen auch alles andere als eine tote Mannschaft. Verdient war die Niederlage sicherlich und die Angriffsunwucht und fast schon -unlust war in der Tat frappierend, doch Vergleiche mit den Abschieds-Spielen anderer Trainer verbitten sich.
Die Defensive war keinesfalls meilenweit auseinander, es spielte nicht jeder für sich selbst. Leverkusen kam bis zum 1:2 aus dem Spiel heraus auf keinen gefährlichen Abschluss. Kippen tat das Spiel durch tölpelhaft verursachte Elfmeter. Mehr noch, mit einer schlechteren Schiedsrichter oder VAR-Leistung, wäre Nagelsmann wohl noch Trainer.
Auf der Haben-Seite der Rückrunde ist jedenfalls die Überwindung des Anfangs-Tiefs. Mainz und Bochum wurden souverän besiegt, Union Berlin im Top-Spiel bereits zur Halbzeit in die Schranken gewiesen.
Und dann gab es natürlich noch die Highlight-Duelle mit Paris, wo ein überragend gecoachtes Bayern-Kollektiv das teuerste Sportprojekt der Welt der Lächerlichkeit preisgab. Null Tore schossen Mbappé, Messi und Neymar. Nur in den letzten Viertelstunden der zweiten und dritten Halbzeit geriet man ins Schwanken. Nach dem Sieg in München war man im Auge internationaler Beobachter eines der besten Teams der Welt, ein Topfavorit auf den Gesamtsieg.
Die Hypothek der WM
Weil es sich um eine völlige Kurzschluss- und Überreaktion handelt. Kahns und Salihamidžićs Stammeln beim Versichern der Wohlüberlegtheit dieser Demission, zeigt nur, wie wenig sie wirklich von ihr überzeugt sind.
Frappierend an dieser vielsagendsten Bayern-PK seit der berüchtigten Grundgesetz-Predigt war, wie oft das Wort “WM” fiel. Null mal. Kein einziges Mal erwähnten die Chefs das Trauma des praktisch ganzen Kaders. Noch vor dreieinhalb Monaten wurde rauf- und runter gebetet, wie katastrophal die Weltmeisterschaft -die wahre Königsdisziplin im Fußball- für den FC Bayern war. Von enttäuschenden Deutschen, Elfmeter verschießenden Kanadiern und Franzosen, Reservisten bei Les Bleus und Oranje, verletzten Marokkanern und Senegalesen, bis hin zu einem wenig überzeugenden Kameruner, war alles dabei. Sogar der eine Portugiese, den man im Winter holte, wurde sogleich traumatisch aus dem Turnier geschossen, als das ganze Land anfing vom großen Titel-Wurf zu träumen.
K.O.-Siege gegen Schwergewichte sind selten
Julian Nagelsmann wurde vor eine beispiellose Aufgabe gestellt, all diese Spieler wieder aufzurichten. Im Großen und Ganzen gelang ihm dies sogar, dass er es schaffte vor den PSG-Duellen die Zeichen umzudrehen und mit seinen Bayern-Losern die WM-Helden von Paris zu schlagen, ist eine Monumentalleistung.
Überhaupt wird zu wenig gewürdigt, wie selten so ein Triumph der Bayern in der Champions League über ein absolutes Schwergewicht mit Hin- und Rückspiel ist. Flick, Kovač, Heynckes, Ancelotti und sogar Guardiola, sie alle scheiterten stets sogleich am ersten Großkaliber. Einzig Guardiolas Sieg über Juventus 2016 könnte man hier ausklammern, doch trotz ihres Status als amtierender Champions-League-Finalist, war Juventus anno 2016 so groß nicht. Bayern ging als klarer Favorit in die Duelle.
Vor Nagelsmann hieß der letzte siegreiche Trainer solcher 50/50-Spiele Jupp Heynckes im Jahr 2013. Und trotz dieser Vorzeichen und der schweren WM-Hypothek, entwarf Nagelsmann zwei fast perfekte Pläne, um PSG zu schlagen. Die Mannschaft folgte ihm blind, insbesondere der ganz atypische tiefere Ansatz, vor immer noch kaum 20 Tagen, wusste zu beeindrucken. So spielte keine Fußballmannschaft, die kein Vertrauen in den Trainer besaß.
Die Mär der verlorenen Kabine
Insbesondere Salihamidžić unterstellt Nagelsmann zwar durch die Blume, aber bewusst, er hätte die Kabine verloren. Eine Unterstellung, die sich alleine in den vergangenen Tagen immer stärker als Unwahrheit entpuppt. Kimmich und Goretzka verneinten energisch. Insbesondere letzterer kämpfte dabei sichtlich damit, seinem Sportvorstand nicht vor laufender Kamera der direkten Lüge zu bezichtigen.
Die Innenverteidigung konnte der Trainer unmöglich verloren haben, Pavard und Upamecano hauchte er neues Leben ein, als ihre Bayern-Karrieren am Scheideweg standen. De Ligt reagierte auf diese Theorie mit spöttischem Gelächter. Davies stärkte Nagelsmann den Rücken, als ihn viele auf die Bank schrieben. Sané und Gnabry sind so derartig wechselhaft in ihren Leistungen, dass ihnen kaum das Recht zugesprochen werden kann, über den Trainer die richtenden Daumen zu erheben. Sadio Mané hat als bislang kompletter Fehlkauf ebenfalls kaum das Standing zu beanspruchen, den Trainer zu bewerten.
Verlierer auf allen Seiten
Am Ende kommt die Wahrheit immer heraus, egal wie sehr man sie verbergen möchte. Die Trennung von Julian Nagelsmann ist kaum eine Woche alt und schon jetzt wird immer deutlicher, dass die Anschuldigung der verlorenen Bayern-Kabine kaum zu halten sein wird. Vielmehr scheint sie ein einfaches Mittel zu sein, um eine plötzliche, unpopuläre Entscheidung öffentlich zu rechtfertigen.
Die Chefetage
Wie immer bei falschen Anschuldigungen fällt es am Ende auf die Ankläger zurück. Kahn, Salihamidžić und Hainer haben mit der Entlassung Nagelsmanns jedoch auch jetzt schon einen riesigen öffentlichen Autoritätsverlust erlitten, von dem sie sich auf Jahre hin nicht mehr erholen werden.
Die Posse um die Unverkäuflichkeit Robert Lewandowskis hat dem Ruf Bayerns Chefetage schon geschadet, konnte aber noch mit Verhandlungstaktik aufgefangen werden. Nun jedoch, nachdem man Julian Nagelsmann so vehement und lautstark monatelang den Rücken stärkte, nachdem man jüngst gar raunte, es hätte nie eine Trainerdiskussion gegeben, diese urplötzliche Demission. Bei nur einem Punkt Rückstand in der Tabelle. Niemals wird irgendjemand diesen Menschen irgendetwas noch glauben. Sprechen Salihamidžić, Kahn oder Hainer in die Kameras, kann man getrost auch einfach abschalten, ganz offensichtlich ist es ja nie Ehrlichkeit, das ihre Münder verlässt.
Dieser Umstand stimmte schon am Donnerstag-Abend, als die Meldung, wie ein Leuchtfeuer verbreitet wurde und umso mehr nach der gemeinsamen Pressekonferenz, als man mit kargen, spärlichen Worten wie indoktrinierte Zombies immer und immer wieder dieselben Satzbausteine in verschiedener Kombination wiedergab. Die Fragen der Presse konnten so verschieden auch sein, wie sie mochten, die Antworten blieben stets im Kern gleich. Wenn es heißt, die aktuelle Spielergeneration und die meisten Funktionäre wären Könige im Nichtbeantworten von Fragen, ist Bayerns Chef-Etage deren Kaiser. So wenig auf Fragen eingehen, tut nicht einmal der dafür berüchtigte Bundeskanzler.
Thomas Tuchel und zukünftige Trainer
Schaden nehmen tut aber auch der (zweifellos exzellente) neue Trainer Thomas Tuchel, sowie jeder andere zukünftige Bayern-Trainer unter dieser Führung. Wenn man schon die teuer freigekaufte Langzeitlösung rausschmeißen kann, trotz einer makellosen Bilanz in den Pokal-Wettbewerben, trotz nur eines Punktes Rückstandes in der Liga, trotz eines zur DNA des Vereins passenden Fußballs und trotz schwieriger externer Faktoren wie WM oder dem Fehlen eines Mittelstürmers von Format: Was bedeutet das dann für seine Nachfolger?
Es bedeutet, nur der Sieg zählt. Es bedeutet, alles ist den drei Punkten unterzuordnen. Es bedeutet, die Entwicklung von Spielern ist den drei Punkten stets unterzuordnen.
Im Boulevard hieß es, Nagelsmann sei intern das fehlende Schleifen der Talente vorgeworfen worden. Dabei zeigt seine urplötzliche Entlassung doch, dass er völlig richtig priorisiert hatte! Wozu sollte man einen Paul Wanner formen, wenn man bei der aller kleinsten Schwächephase gefeuert wird? Wozu sollte Thomas Tuchel jetzt auf Tarek Buchmann vertrauen, wenn Daley Blind die sicherere Lösung ist? Oder Ryan Gravenberch mehr Spielminuten geben, wenn Leon Goretzka mehr Garantien für Siege -der offenbar einzig zählenden Währung- darstellt?
Wozu sollte überhaupt noch irgendein Trainer Talente fördern, wenn diese für ihre Schwankungen berüchtigt sind und man bei nur einem einzigen Punkt Rückstand fliegen kann?
Die Fans
Abgesehen vom Entlassenen selbst, ist das aller größte Opfer hier allerdings womöglich der und die Bayernunterstützer*innen selbst. Fans sind sensible Kreaturen, sie verschreiben sich irrational einem Verein und gehen mit diesem durch dick und dünn. Trotzdem darf man sie nie für selbstverständlich halten, sondern muss sie immer wieder mitnehmen.
Auch wenn Julian Nagelsmann nie der wärmste aller Bayern-Trainer war, verstanden die Supporter das Projekt. Man verstand, nach den Fehlbesetzungen Ancelotti und Kovač und dem Scheitern des Projekts Flick auf zwischenmenschlicher Ebene, brauchte es einen passenden Fußballlehrer. Womöglich erwartete der Verein eine größere Nähe zwischen der Anhängerschaft und Nagelsmann, bei dessen Bayern-naher Vergangenheit. So richtig zünden wollte die Story des zum Bayern-Trainer aufgestiegenen bayerischen Bayern-Fans nie.
Dennoch waren die Fans offen für diesen Trainer und seinen Fußball. Offen für eine echte Ära Nagelsmann. Offen endlich wieder einen Trainer so lange wie Hitzfeld zu haben. Manch einer träumte verfrüht gar von Ferguson-ähnlichen Dimensionen. Sie fieberten mit der Mannschaft mit in dieser Saison. Zu einer echten Bayern-Ära gehört auch der Titel in der Königsklasse, sollte es nun im zweiten Jahr bereits soweit sein? Gegen PSG kochte die Arena wie nur selten in den vergangenen Jahren.
All diese Erwartungen, all diese Hoffnungen, all diese Narrative, all diese emotionale Bindung ist ihnen nun geraubt worden. Die Fans waren in dieser Saison mit dieser Mannschaft unter diesem Trainer drin. Der elfte Meistertitel in Folge hätte nicht irgendein Titel sein können, er wäre der Titel gewesen, bei dem man kurzzeitig Ende März Zweiter war. Der Titel, den sich die Nagelsmänner wirklich erkämpft hätten. Endlich mal wieder ein Meistertitel, den man wirklich hätte bejubeln können. In der Champions League war alles drin. Und wenn es doch nicht gereicht hätte, hätte man sich an den großen Spielen gegen PSG und womöglich City aufgerafft mit dem Wissen: Diese Spieler mit diesem Trainer sind zu Großem fähig!
Nagelsmann war noch nicht gescheitert
Womöglich hätte er es auch vergeigt. Womöglich wäre Julian Nagelsmann der erste Bayern-Trainer der letzten 10 Jahre geworden, der die Meisterschaft an die nervtötenden Rivalen aus Dortmund verlor und den Guardiolas City nach allen Regeln der Kunst auseinandergenommen hätte. Doch das weiß niemand. Wenn Julian Nagelsmann als Bayern-Trainer insgesamt mit seiner frühen Entlassung auch gescheitert sein mag, ist er es nicht speziell in dieser zweiten Saison. Denn hier, in dieser zweiten Nagelsmann-Saison, wurde ihm die Möglichkeit des Scheiterns genommen.
Sport ist ein saisonales Unterfangen, da tun die Probleme der ersten Nagelsmann-Rückrunde nichts zur Sache. Man war jetzt am Scheidepunkt der Saison angekommen. Wären die Nagelsmänner zurück in die Spur gekommen, man hätte im Nachklang von den Januar-Problemen als WM-Blues gesprochen und wohltuend die Niederlage in Gladbach mit der roten Karte erklärt und Leverkusen als letzten Ausrutscher bezeichnet.
So allerdings folgte der vorzeitige Abbruch und wo Fans mit dieser Mannschaft und Trainer neugierig gespannt auf die entscheidenden Wochen gegen Dortmund und City blickten, werden sie nun mit völlig neuen Fragen vor den Kopf gestoßen. Auf einmal müssen sie mit ganz neuen Gesichtern auf der Trainer-Bank warm werden, auf einmal müssen sie inmitten der entscheidenden Saison-Phase über das Bayern-Triumvirat sprechen.
Ein Triumvirat, welches der Meinung ist, nur mit diesem plötzlichen Trainer-Tausch die Saison retten zu können. Doch die Saison befindet sich in ihrer turbulenten Entscheidungsphase, nicht im Scheitern.
Stattdessen haben sie vorzeitig unzählige Fässer aufgemacht, die sie nie wieder verschließen werden können. Thomas Tuchel ist ein exzellenter Fußballtrainer und wenn man sich von Julian Nagelsmann schon trennt, gibt es in der Tat keinen besseren Nachfolger.
Doch selbst wenn Tuchel dann vom Markt wäre, hätte man unbedingt an Nagelsmann festhalten müssen, um zu schauen, was aus dieser Saison noch geworden wäre. Man hätte ihm die Möglichkeit einräumen müssen, zu scheitern.