Nagelsmann: die sportlichen Gründe

Georg Trenner 24.03.2023

Am Freitagnachmittag stellte der FC Bayern Julian Nagelsmann und seine Assistenten frei. Thomas Tuchel übernimmt die Nachfolge. Eine Analyse der sportlichen Entwicklung unter Nagelsmann. 

Rückblick auf Nagelsmanns Start beim FC Bayern

Von Hoffenheim über Leipzig nach München

Julian Nagelsmann hatte einst mit nur 29 Jahren überraschend das Amt des Cheftrainers bei der TSG Hoffenheim übernommen – und die Sinsheimer noch überraschender in der Klasse gehalten. Ein Jahr später schaffte er es bis in die Qualifikation für die Champions League, wo er am späteren Finalisten aus Liverpool scheiterte. Auf seiner nächsten Station in Leipzig führte er die roten Bullen bis ins Halbfinale der Champions League, wo Paris Saint-Germain ein zu starker Gegner war. 

Dann der Sprung zum Branchenprimus, wo er das Erbe Hansi Flicks antrat. Jener Flick gewann ein Jahr vorher das Sextupel, hatte in der Saison 2020/21 aber immer mehr Probleme und verließ den Rekordmeister letztlich in Richtung DFB. Nagelsmann konnte anfangs im Wesentlichen auf den Kern der Sextupel-Mannschaft setzen. Thiago und Alaba hatten den FC Bayern in der Zwischenzeit verlassen, dafür stießen mit Leroy Sané sowie Marcel Sabitzer und Dayot Upamecano unter anderem zwei Nagelsmann-Bekannte neu dazu. 

Hohe Erwartungen…

Der FC Bayern zahlte für Nagelsmann eine hohe Ablöse und stattete den Trainer mit einem Fünfjahresvertrag aus: klare Zeichen für ein langfristiges Projekt. Die Erwartungshaltung an den Trainer war ebenso klar wie hoch: das Meisterschaften-Abo verlängern, in der Champions League vorne mitspielen, und, bitte, auch spielerische Feuerwerke. Das Ganze am besten mit vielen Spielern aus der eigenen Jugend.

…und mäßiges Debütsaison

Julian Nagelsmanns erstes Jahr lief nicht gut. Zwar steht auf der Habenseite der zehnte Titel in Serie in der Bundesliga. So einfach dem FC Bayern die Titel zufallen zu scheinen, so wenig sind sie in dieser Konstanz selbstverständlich. Hierfür reicht der Blick nach Frankreich, wo PSG in der gleichen Zeit zwei Titel abgab, oder nach Italien, wo der einstige Primus Juventus zuletzt bitter abstürzte.   

Dennoch ist der Ligatitel Pflicht in München. Pünktlich zum Training kommen. Spiele nicht verschlafen. Meister werden. Für Pluspunkte braucht es mehr. Doch beide Pokalwettbewerbe endeten mit herben Enttäuschungen. Das 0:5 in der zweiten Runde des DFB-Pokals gegen Borussia Mönchengladbach war die höchste Pokalniederlage aller Zeiten. Das Aus im Viertelfinale der Champions League gegen Villarreal war gemessen am Favoritenstatus der vielleicht größte Patzer auf internationalem Parkett seit dem Aus gegen B 1903 Kopenhagen im UEFA-Cup 1991. 

So auszuscheiden hinterlässt Spuren beim erfolgsverwöhnten FC Bayern. Als Kirsche auf der sauren Sahne von Nagelsmanns Debütsaison steht eine insgesamt schwache Rückrunde. 

Aber der FC Bayern war geduldig. Man vertraute dem jungen Trainer. Und immerhin, das Minimalziel Meisterschaft war eingefahren. Ein Jahr Eingewöhnung hatte man Nagelsmann gegönnt. Aber im zweiten Jahr würde er liefern müssen. Außerdem könnte man den Kader im nächsten Jahr stärker auf seinen Stil ausrichten. 

Gründe fürs Scheitern im zweiten Jahr

Lewandowski-Abgang als Fluch und Segen 

Sein zweites Jahr startete unter gemischten Vorzeichen. Der Verein investierte einerseits fast 140 Millionen Euro in fünf Neuzugängen, von denen Sadio Mané und Matthijs de Ligt als Verstärkung für die Spitze und Ryan Gravenberch, Noussair Mazraoui und Mathys Tel als Verstärkung für die Kaderbreite gesehen werden können. 

Gleichzeitig verließ mit Robert Lewandowski ein Spieler den FC Bayern, dessen individuelle Klasse nicht 1-zu-1 ersetzt werden konnte. Doch mit Lewandowski verließ auch ein Spieler den Verein, der nie hundert Prozent warm wurde mit der Spielidee von Nagelsmann, der sich über zu viele Spieler in der Box, in seinem Habitat, beklagte. Ein System ohne Lewandowski könnte zusätzlichen kreativen Freiraum für Nagelsmann bedeuten, so die Erwartung. Mit Spielern wie Mané, Gnabry, Müller oder Coman könnte man mit “falschen” Stürmern im Sturm spielen. Der FC Bayern wäre nicht der erste Verein, der ohne klassische Neun erfolgreich ist. 

Doch klar ist, auch ohne den polnischen Superstürmer müsste der FC Bayern in der Lage sein, dominanteren, souveräneren, stabilen Fußball zu spielen, als er es in weiten Strecken der Saison 2022/23 – und damit insgesamt in der Ära Nagelsmann tat. 

Die sportliche Bilanz: in A- und B-Note zu wenig

Vor Nagelsmanns Amtsantritt war der FC Bayern:

  • in der Bundesliga von 2012/13-2020/21 neunmal in Folge Meister,
  • in der Champions League von 2011/12 bis 2020/21 in sieben von zehn Jahren im Halbfinale oder besser (zwei Titel),
  • im Pokal von 2009/10 bis 2019/20 elfmal in Folge im Halbfinale (sechs Titel). 

Das sind die harten Fakten. Das ist eine Form der Dominanz, wie es sie im Weltfußball vielleicht noch nie gab. Das war die Messlatte, an der Nagelsmann gemessen wurde. Das war unfair. Und trotzdem richtig, denn diese Erwartungshaltung macht den FC Bayern aus. 

Abschneiden in der Bundesliga

Im Vergleich dazu war die Leistung unter Nagelsmann in der Bundesliga unterdurchschnittlich. Seine beiden Saisons sind die punktemäßig schwächsten der letzten zehn Jahre, mit absteigender Tendenz. Nach 25 Spieltagen in der Saison 2022/23 steht der FC Bayern auf dem zweiten Tabellenplatz. Das gab es zuletzt 2012. 

Punkteschnitt des FC Bayern in der Bundesliga seit 2012/13

Abschneiden in der Champions League

Jene Konstanz, die sein Team in der Bundesliga vermissen ließ, zeigte es über weite Strecken in der Champions League. Sowohl 2021 als auch 2022 schloss man die Vorrunde mit der perfekten Bilanz von sechs Siegen aus sechs Spielen ab. Paradoxerweise ist Konstanz in der Vorrunde der Champions League ein Muster mit bescheidenem Wert. Anders als in einem kompletten Liga-System wird in der Champions League am Ende nicht jenes Team belohnt, das über zehn Monate konstant am besten spielt, sondern jenes, das in den Highlight-Spielen im Frühjahr punktuell die Nase vorn hat. 

Titel sind die ganz harte Währung in der Champions League. Halbe Pluspunkte kann man mit Final- und Halbfinalteilnahmen sammeln. Hieran scheiterte Nagelsmann im ersten Jahr. Im zweiten wurde ihm die Chance darauf genommen. 

Das Besondere fehlte

Nagelsmann ist kein Zidane oder Ancelotti. Er wurde nicht geholt, um als CEO-Trainertyp die Mannschaft zu führen, zu motivieren und mit einem kaiserlichen „geht’s raus und spielt‘s Fußball“ auf den Rasen zu schicken. Er wurde auch geholt, weil er einer jener modernen Trainer mit Ideen und Konzepten ist, die für Wow-Momente sorgen. Dass er darüberhinaus Führungskompetenz mitbringt, sollte ihn zum Rund-um-Paket machen. 

Nagelsmanns Fußball war nicht langweilig oder uninspiriert, au contraire. Er hat sich taktisch einiges einfallen lassen. Das Pressing und Gegenpressing funktionierte teils hervorragend. Einrückende Außenverteidiger, die asymmetrische Dreier-/Viererkette und generell sein Zentrumsfokus, all das war taktisch relevant. Aber der große Wow-Effekt? Der blieb aus. 

Wo war die Innovation, die Tobi Escher in seinem nächsten Buch erläutert? Warum gibt es keine Podcasts dazu, „wie Nagelsmann Kimmich als falschen Sechser (oder Achter? Zehner?) neu erfunden hat und dieser so unter die Top-3 beim Ballon d’Or kam, aber eigentlich hätte gewinnen müssen“? Wo war das fluide stürmerlose System, mit dem man im Kollektiv erfolgreich Lewandowski ersetzt (das sich zu Beginn der Saison 2022/23 kurz angedeutet hatte)? 

Vermutlich hätte Nagelsmann auch hier Ideen gehabt. Eine der Erkenntnisse rund um den FC Bayern nach Nagelsmanns mäßiger erster Saison war es paradoxerweise, dass er zu viel experimentierte. Ein Rat, den er in seiner zweiten Saison annahm. Ein Rat, den er beim nächsten Mal vielleicht nicht mehr annehmen würde. 

Fazit

Gescheitert ist Julian Nagelsmann letztlich nicht an der Niederlage gegen Leverkusen. Sondern weil er es in 21 Monaten als Trainer des FC Bayern nicht geschafft hat, die Bundesliga zu dominieren, wie der FC Bayern es zu einem großen Teil des letzten Jahrzehnts tat. Weil die Pokalblamagen aus der ersten Saison eine zu großer Hypothek waren. 

Es war ein Scheitern an einer brutalen Messlatte. An einer fast unverschämten Messlatte. Deshalb ist sein Scheitern auch kein Problem, weder für ihn noch für den FC Bayern. Nagelsmann wird seinen Weg weitergehen. Er hat sich für weitere Aufgaben an Europas Spitze qualifiziert.

Auch die Entscheidung des FC Bayern für ihn wird durch seine vorzeitige Freistellung im Nachhinein nicht falsch. Falsch wäre es gewesen, hätte der FC Bayern aus Prinzip und wegen der Ablöse und langen Vertragslaufzeit an Nagelsmann festgehalten. Doch zu einem Fünfjahresplan gehört es auch, den Plan permanent zu evaluieren und notfalls rechtzeitig einzugreifen, bevor die Ziele außer Reichweite geraten. Der FC Bayern sah seine Ziele in Gefahr, der FC Bayern handelte.



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