Der Enttäuschende

Daniel Trenner 22.04.2022

Man mag es mir nicht glauben, doch diese Kolumne stand schon vor Wochen fest. Schon da zeigte ich mich enttäuscht ob Julian Nagelsmanns Trainerleistung in dessen ersten Saison. Bevor Villarreal Bayern in letzter Minute ausknockte, bevor sie Bayern gar daheim an die Wand spielten. Schon da musste ich feststellen, dass Nagelsmann meine Erwartungen nicht erfüllte. Er enttäuschte.

Doch zum Fluch der späten Kolumne gehört, dass Ereignisse eine Kolumne überholen, dass andere Debattentreiber schneller zu ähnlichen Schlüssen kommen. Und so geschah es, dass Julian Nagelsmann nach dem Aus gegen Villarreal scheinbar über Nacht vom perfekten Bayern-Trainer zum Buh-Mann abgekanzelt wurde. Die Kritik an ihm ist mannigfaltig. Von Systemfragen zu Trainingsinhalten bis hin zum klassischen Hinterfragen von Wechseln. Alles ist auf dem Prüfstand, alles wird hinterfragt.

Bizarrerweise hat diese Debatte -ganz internettypisch- in den letzten Tagen gar eine Art Backlash zum Backlash erhalten. Kritik sei überzogen und eigentlich sei die Kaderplanung ja die Wurzel allen Übels.

Die Sehnsucht nach mehr Pep

Damit Julian Nagelsmann einen enttäuschen kann, müssen ja die zu enttäuschenden Erwartungen erst einmal irgendwoher kommen. Und da ist die Gallionsfigur Pep Guardiola natürlich nicht weit weg. Über Bayern-Fans wird oft durchaus zurecht gewitzelt, dass sie Guardiolas Ausscheiden nie verkraftet haben.

Pep Guardiola übernahm eine perfekt funktionierende Mannschaft und formte sie mit der Zeit zu einer Maschine an Flexibilität. Guardiolas Bayern konnte alles spielen. Ob Dreier- oder Viererkette, Spielaufbau von den Innenverteidigern oder den Mittelfeldspielern, einrückende Außenverteidiger oder Flügelstürmer als Wing-Backs (Robben!). Durchbrüche zentral oder über Außen. Nie konnte man sich sicher sein, welchen FC Bayern man bekam. Mal spielte Jérôme Boateng plötzlich auf der Sechs, dann wechselte Guardiola nach 5:0-Führung in der 70. Minute noch drei mal das System.

Der FC Bayern unter Guardiola war eine Quelle nie endender taktischer Kreativität. Mögen seine Barcelona- oder ManCity-Teams im Vergleich auch besser sein, die Flexibilität Guardiolas Bayern-Mannschaft besaßen und besitzen sie nicht.

Jeder weiß, was nach Guardiola kam. Ancelotti, der erfolgreich alle Pepschen Tugenden aus der Mannschaft heraustrainierte, das Zwischenhoch unter Jupp Heynckes, sowie eine merkwürdige Phase unter Niko Kovač, wo Mannschaft unter Trainer einfach nicht zusammenpassen wollten. Mit Hansi Flick gab es nach jahrelanger Suche endlich wieder eine Symbiose zwischen Trainerbank und Mannschaft, doch war er so ganz anders als Pep Guardiola.

Der Katalane war eine Art verrückter Wissenschaftler beim FC Bayern, der seine Mannschaft dafür begeisterte, auch jede noch so durchgeknallte Taktik auszuprobieren. Hansi Flick wiederum nahm sich seine Mannschaft zur Brust, fand ein passendes System und zog dieses ohne Rücksicht auf Verluste kompromisslos durch. Beide Typen haben Vorteile. Man sollte hier auch nicht den Fehler begehen und Flick mangelnde Kreativität vorwerfen, denn wer muss schon beim Aufstellungsbogen flexibel sein, wenn er diese Flexibilität ganz natürlich schon auf dem Feld hat? Gerade im Triple-Jahr formte Flick ein Team, das von überall her zuschlagen konnte. Ob nun der rasende Linksverteidiger, der Dynamo im Mittelfeld oder doch der durchstürmende Rechtsaußen, die Gegner wussten gar nicht, was sie zuerst verteidigen sollten.

Bekanntermaßen stieß diese gewollte taktische Sturheit aber auch an ihre Grenzen im zweiten Jahr. Als Hansi Flick den FC Bayern wieder verließ, waren eigentlich alle ganz froh, auch ungeachtet irgendwelcher Querelen mit dem Sportvorstand. Man hatte den Eindruck, Flick hätte das Maximum aus dieser Bayern-Mannschaft herausgepresst und der Typ Fußball-Lehrer käme gerade Recht.

Des Meisters eifrigster Schüler

Auch wenn es in der Bundesliga nie zum Duell Nagelsmann-Guardiola kam, so schien es doch als sei der junge Ur-Bayer dessen eifrigster Schüler gewesen. Augenscheinlich wirre Aufstellungen, Formationswechsel nach einer Viertelstunde und die faszinierende Doktrin, seine Spieler im Training bewusst überfordern zu wollen, machten aus Julian Nagelsmann Jahr für Jahr den interessantesten Trainer der Bundesliga. Seine TSG machte er so gut, dass seine Ex-Spieler mittlerweile durch halb Europa pendeln und einer mehr enttäuscht als der andere. Das Geheimnis ihrer Qualität liegt eben im Trainer, nicht ihrem eigenen Talent. RaBa Leipzig, jahrelang eine biedere Kontertruppe, streifte er binnen Wochen ein rigoros funktionierendes Passspiel auf, sodass sie auch mit Ball am Fuß zu den besten des Landes gehörten.

Ähnliches erwartete man nun auch in München. Die Zeit der Verwalter und Rausquetscher war vorbei, die Zeit des detailverliebten Entwicklers war wieder gekommen. Zurück zum Training von Spielaufbau und Passstafetten. Von Passwinkeln und all den Details, die man kaum im Fernsehen wahrnimmt, aber im großen Ganzen einer funktionierenden Mannschaft einen unnachahmlichen Spielfluss entfesselt. Zurück zum in-game-Coaching, in dem der Trainer auf einen überraschenden Kniff des Gegners gerne auch mal nach 20 Minuten reagiert.

Der Absturz in der Rückrunde

War diese Erwartungshaltung überzogen? Gewiss, wenn man gleich Perfektion erwartete. Guardiola hatte hier bessere Vorraussetzungen, was eigene Aura und die fertige Mannschaft anging. Doch in unfertiger Form? Mit allen möglichen Abstrichen? Ich meine nein, da waren die hohen Erwartungen durchaus angebracht. In der Hinrunde bis zur merkwürdigen Phase rund um Kimmichs selbsterzwungener Pause schien ja auch noch alles gut. Zumeist zeigte man dominanten, gut strukturierten Fußball. Die Mängel im Kader wurden zwar schon dort deutlich, insbesondere was die fußballerischen Unzulängigkeiten in der Verteidigung anging, doch insgesamt war Pep im Spiel und alles schien seinen logischen Gang zu gehen.

In der Rückrunde jedoch brach das Spiel des FC Bayerns auseinander. Die Abwehr schien die Kugel nicht mehr gut ins zweite Drittel zu transportieren, weshalb das Mittelfeld sich von seiner angestammten Position wegbewegte und dann Lücken anderswo riss. Konkret beachte man hierfür, wo Kimmich überall in den Duellen mit Villarreal herumturnte. Ständig war er zwischen der Abwehrkette, dann auf einmal weit vorne bei den Stürmern. Seinen eigenen Raum ließ er so schleifen.

In dem berühmtem Raum 14, die Zone im offensiven Mittelfeld zentral vor dem Strafraum, kamen die Bälle nicht an, weshalb man auf Außen spielte und dann war der Weg auch nicht mehr fern zur blinden Flanke. Schlussendlich reihte sich eine kreativlose Flankenorgie an die nächste. 30 Stück davon schlug man allein, um das eisern verteidigende gelbe U-Boot doch noch irgendwie zu versenken.

Am Ende sprach man gegen die Spanier wieder vom berüchtigten “Pech”, doch wie viele Abschlüsse hatte man sich wirklich erarbeitet? Lewandowskis Tor, zwei Müller Chancen und ein Upamecano-Schuss, da können schon zwei Tore herausfallen, doch zwingend sieht anders aus. Davon zeugt auch der Expected-Goals-Wert von nur 1,58.

Fragen über Fragen

  • Wo ist der gepflegte Spielaufbau in der gesamten Rückrunde geblieben? Wo doch Nagelsmann diesen noch überall binnen Wochen mit schlechteren Spielern installieren konnte?
  • Wieso kennt die Mannschaft auf einmal doch keine andere Option als die Flanke um ihr Glück zu finden?
  • Wo ist Bayerns Pressingsystem hin? Kein Zufall, dass die eine kurze Phase mit gutem Pressing Anfang der zweiten Hälfte die mit Abstand beste in den beiden Spielen gegen Villarreal war.
  • Wieso versucht der Trainer nach der erfolgreichen Demontage Salzburgs mit Dreierkette, dann doch eine stets dysfunktionale Viererkette durchzuboxen? Ist es wirklich nur die Schuld eines tatsächlich unausgegorenen Kaders, dass diese Mannschaft es verlernt hat, in einer Viererkette zu verteidigen?
  • Wieso ist pünktlich zur Crunch-Time der Saison die halbe Stammelf außer Form, inklusive Konstanz-Monster wie Kimmich, Müller und Lewandowski?
  • Wieso ist das Team zu den großen Spielen in der Königsklasse regelmäßig so schlecht eingestellt?
  • Und wo ist eigentlich Nagelsmanns berühmtes in-game-Coaching geblieben? Hat er etwa verlernt, wie man Mannschaften während des Spiels oder wenigstens in der Kabine umstellt?

Jegliche Diskussionen um seinen Job erübrigen sich im Keim, und sei es schon alleine aus vereinspolitischer Sicht. Bei einer Entlassung müsste Salihamidžić nämlich unweigerlich mitgehen. Diese Fragen sollen auch nicht dazu führen, dass man den Trainer grundsätzlich hinterfragt. Anderswo hat er ja bewiesen, dass er all diese Probleme lösen kann. Es soll nur genuine Ratlosigkeit widerspiegeln. Einen solchen Absturz in der Rückrunde zu wirklich stockbiederem, ideenarmen Fußball hatte niemand prophezeit.

Über Guardiola wurde noch geraunt, er sei nur der beste Herbst-Trainer der Welt und tatsächlich waren alle Rückrunden im Vergleich schwächer als die Hinrunden, doch so groß wie in dieser Saison waren seine Abstiege nie.

In der Rückrundentabelle ist Bayern nur punktgleich zweiter, drei Zähler hinter Leipzig. Dabei haben die noch den Pokal und beinharte Europa-League-Duelle extra. Bayern hingegen hatte in beiden Europapokal-Runden den jeweils einfachsten Gegner erwischt und schied trotzdem frühzeitig aus. So arrogant es auch klingen mag, aber es gibt eine Liste an Teams gegen die man als FC Bayern ausscheiden darf und Villarreal steht dort leider nicht drauf.

Diese Saison war nicht erfolgreich. Gar nicht wegen der Titelausbeute, sondern weil diese Rückrunde so viele ganz grundsätzliche Fragen aufwirft:

  • Ist jetzt wirklich der Zeitpunkt gekommen, um den Kader nur punktuell und nicht grundsätzlich zu verstärken?
  • Wie gut ist Bayerns Gegner-Scouting?
  • Sind Nagelsmanns Trainingsmethoden wirklich so gut? Wieso greifen sie offenbar nicht?
  • Ist er im Verein womöglich beschädigt?
  • Was passiert, falls die nächste Saison genauso mittelprächtig anfängt, wie diese aufhört?
  • Nachdem der Sportvorstand die Notwendigkeit des Trainerwechsels selbst erst erzwang und diesen dann teuer freikaufte, ist man im Verein überhaupt auf die eigentlich unvorstellbare Situation vorbereitet, den Trainer im Zweifelsfall freizustellen?

All diese Dinge sind Fragen mit denen sich der Verein nun über die nächsten Wochen beschäftigen muss. Doch sind es alles Dinge, mit denen der Verein sicher überhaupt nicht rechnete. Sie sind die Früchte eines enttäuschenden Kaders, einer enttäuschenden Saison, eines enttäuschenden Trainers.