Vorschau: Bayern gegen Stuttgart – Flick, Schnack, Schnuck

Justin Trenner 19.03.2021

Wenn über die positiven Entwicklungen der Saison gesprochen wird, fallen die Namen Union Berlin und VfB Stuttgart gern in einem Atemzug. Einerseits ein Neuling aus der letzten und andererseits ein Neuling aus der diesjährigen Saison. Wobei das Wort Neuling auf den VfB nicht so ganz zutrifft. Es ist die 58. Bundesliga-Saison seit der Einführung im Jahr 1963. Der VfB spielt aktuell seine 54. Saison im Oberhaus. Nach den Abstiegen 1975 und 2016 war jener im Jahr 2019 der dritte in der Vereinsgeschichte.

In der Historie des Klubs überstrahlen sonst die einstelligen Tabellenplätze sowie drei Meisterschaften die Misserfolge. Auch wenn es im letzten Jahrzehnt alles andere als gut lief, so ist der VfB deshalb nicht als klassischer Aufsteiger zu bewerten.

Gerade weil die letzten Jahre aber durch Personalwechsel, Machtkämpfe und schlechte Ergebnisse geprägt waren, wird der VfB in dieser Saison als Überraschung gesehen. Und als Positivbeispiel dafür, wie ein Traditionsklub aus Zeiten der Krise wieder nach oben geführt werden kann.

Europa wird wieder nach Stuttgart schauen

9 Siege, 9 Unentschieden, 7 Niederlagen – das liest sich für einen Aufsteiger schon nicht schlecht. Mit 36 Punkten ist der Klassenerhalt so gut wie sicher und ein bisschen Schielen nach Europa ist auch möglich. Gerade weil die Leistungen von Dortmund, Frankfurt und Leverkusen nicht durch Konstanz geprägt sind, ist noch ein kleines Türchen offen.

Unabhängig davon, ob der VfB sich in dieser Saison noch für Europa qualifiziert, kann man aber sicher sein, dass in Europa wieder nach Stuttgart geschaut wird. Ein großes Erfolgsrezept des Klubs war in den letzten Jahren die Kader- beziehungsweise Teamplanung.

Thomas Hitzlsperger hat daran einen großen Anteil. Einer seiner Königstransfers: Sven Mislintat. Der ehemalige Chefscout des BVB (2006 – 2017) landete nach einer recht kurzen Beschäftigung beim Arsenal FC im Mai 2019 beim VfB – als Sportdirektor.

Viel Qualität für relativ wenig Geld

Schon im Transfersommer darauf wurden sehr kluge Transfers getätigt. Einerseits dünnte man den Kader stark aus. Teure Profis, die ihr Versprechen nicht wirklich einlösen konnten, gingen für viel Geld. Darunter beispielsweise Ozan Kabak für 15 Millionen Euro zum FC Schalke. Knapp 80 Millionen Euro konnten eingenommen werden – auch dank des 35-Millionen-Euro-Transfers von Benjamin Pavard nach München.

Auf der anderen Seite fanden viele junge, teils noch unbekannte Spieler ihren Weg nach Stuttgart, die heute eine zentrale Rolle in der Startelf oder im erweiterten Kreis spielen. Silas Wamangituka (8 Millionen Euro), Philipp Förster (3 Millionen Euro), Saša Kalajdžić (2,5 Millionen Euro) oder der zunächst nur ausgeliehene Wataru Endo (Leihgebühr und Ablöse im Jahr darauf ergeben zusammen ca. 2 Millionen Euro) waren retrospektiv betrachtet absolute Top-Transfers.

Mislintat hatte bereits in Dortmund unter Beweis gestellt, dass er über die Kompetenzen sowie das notwendige Netzwerk verfügt, um talentierte Fußballer mit großem Potential frühzeitig auf den Radar seines Klubs zu bringen. Selbiges gelang ihm in Stuttgart auch.

Stuttgart trifft den Zeitgeist

Der Kader ist allein von der Zusammensetzung der Spielertypen her hochmodern aufgestellt. Auf nahezu jeder Position gibt es mindestens einen Spielertypen, den man als beispielhaft für die Entwicklung des europäischen Fußballs hinsichtlich taktischer Trends benennen könnte.

Endo ist beispielsweise ein nahezu kompletter Mittelfeldspieler, der den Ball unter Druck behaupten und verteilen kann, gleichzeitig aber die Physis und Dynamik mitbringt, um im Gegenpressing seinen Beitrag zu leisten. Mit Kalajdžić setzte der VfB auf eine klassische Nummer 9 mit modernen Fähigkeiten: Robust, groß gewachsen, stark im Abschluss und bei Kopfbällen, aber eben auch technisch stark sowie im Rahmen seiner Körperstatur beweglich. Er ist gut mit dem Rücken zum Tor, findet aber auch immer wieder gute Abschlusspositionen im Strafraum. Ein insgesamt nur schwer zu verteidigender Spieler.

Auf den Außenbahnen ging die Suche ebenfalls weit über die gängigen Attribute „Tempo“, „Beweglichkeit“ und „Flanken“ hinaus. Wamangituka ist ein extrem flexibler Spielertyp, der links wie rechts spielen kann und ein großes Repertoire an Lösungsmöglichkeiten für verschiedene Spielsituationen mitbringt.

Folgt auf das Hoch ein schnelles Ab?

Man könnte so weiter durch den Kader gehen, dann wäre dieser Text aber wohl schnell ein kleines Buch. Beim VfB haben sie alle einen richtig guten Job gemacht – nicht nur Mislintat, aber er mit großem Anteil. Kein Wunder also, dass man Begehrlichkeiten geweckt hat. Dortmund soll großes Interesse daran haben, Mislintat zurückzuholen. Der wiederum ist dem Klub nach wie vor sehr verbunden und ging damals nur wegen einer Auseinandersetzung mit Thomas Tuchel. Hitzlsperger zeigte sich optimistisch, verwies aber auch darauf, dass er um diese Verbundenheit wisse.

Bei allem Lob, das der VfB im Moment zurecht erhält, wird der kommende Sommer ein richtungsweisender sein. Einerseits ist die große Frage, wie sie den Kader zusammenhalten und weiter verstärken können. Auf der anderen Seite ist die Latte dann bereits ziemlich hoch gelegt. Es wird für die Stuttgarter demnach darum gehen, nicht übermütig zu werden und den aktuellen Erfolg zu stabilisieren.

Bricht die Achse aus wichtigen Spielern und Entscheidungsträgern weg, könnte es schnell wieder bergab gehen. Die letzten Monate deuten darauf hin, dass man beim VfB dazugelernt hat. Doch der Moment könnte flüchtig sein.

Ein Trainerklub?

Ein weiteres Indiz für die zuletzt gute Arbeit ist, dass man beim VfB genau wusste, dass moderne Spielertypen ohne einen modernen Trainer wenig wert sind. Also holte Hitzlsperger gemeinsam mit Mislintat damals Tim Walter.

Der ehemalige Trainer der Bayern Amateure steht beispielhaft für eine junge Trainergeneration, die neben taktischer Experimentierfreudigkeit für Offensivfußball und Unterhaltung steht. In Stuttgart sollte Walter aus verschiedenen Gründen aber keine Erfolgsgeschichte schreiben. Noch im Dezember 2019 wurde er entlassen.

Es folgte mit Pellegrino Matarazzo dann der erhoffte Aufwärtstrend. Der 43-Jährige weiß seine Spieler gut einzubinden und fand eine gute Balance. Zwar entwickelte sich die Mannschaft unter ihm ebenfalls nur schleppend und der Aufstieg in die Bundesliga war alles andere als souverän, doch spätestens in dieser Saison geht es für den VfB steil bergauf.

Stuttgarts Spiel unter Matarazzo

Matarazzo selbst hatte das eingeplant, sprach vor der Saison bereits sehr offen darüber, dass er glaube, dass die Bundesliga seiner Mannschaft besser liege als die 2. Liga. Er sollte recht behalten. Der große Unterschied: In dieser Saison hat sein Team seltener den Ball. Mit 60,3 % Ballbesitz war der VfB klar die Nummer 1 in der letzten Saison. Nach dem Aufstieg sind es nur noch 50,5 % – ein durchschnittlicher Wert.

Das liegt dem VfB deshalb, weil der Spielstil von Matarazzo stark auf Risiko und Vertikalität ausgerichtet ist. Sie sind gut im Anlaufen des Gegners und in Gegenpressingmomenten, aus denen sie im offensiven Umschaltmoment viel Kapital schlagen können. Durch die hohe Dynamik im Bewegungsspiel und die vielen Positionswechsel erlaufen sie sich zudem in kurzer Zeit viele Räume, die meist sofort bespielt werden. Dabei sind sie sehr flexibel: mal kurz, mal lang, mal hoch, mal flach, mal direkt über die Außen, mal per Eröffnung durch das Zentrum. Stuttgart ist nur schwer zu berechnen. Das zeigt auch die Antwort auf die Frage, welche Grundformation Matarazzo eigentlich präferiert: Alle und keine. Stuttgart wechselt ständig die Positionen und Ausrichtungen, passt sich dabei immer wieder stark auf die jeweilige Situation an, ohne wirklich aus dem Rhythmus zu kommen.

Es ist durchaus möglich, dass sich der Trainer für die Partie gegen Bayern ein bisschen was von Eintracht Frankfurt abschaut, was das Pressing anbelangt und Stuttgart so eher in einer Art 5-2-3 antritt. Matarazzo könnte den Fokus dadurch auf eine hohe Präsenz im Mittelfeld legen. Nimmt man seiner Mannschaft nämlich durch clevere Raumbesetzung die Anspielstationen im Zentrum, – vornehmlich Endo und Mangala (wird gegen Bayern verletzt ausfallen) – ist viel gewonnen. Hier werden für Bayern die Pressingläufe von Kimmich, Goretzka und Müller von großer Bedeutung sein. Stuttgart neigt zu überhasteten Entscheidungen unter Druck und das können sich die erfahrenen Münchner zunutze machen.

Drei Knackpunkte für den FC Bayern

Zugleich ist das Herausschieben der Bayern der Moment, in dem die Stuttgarter ihre Qualitäten einbringen wollen. Im Mittelfeldzentrum verfügen sie über extrem wendige und technisch begabte Spieler, die Bayerns Pressing klug umspielen können.

Dafür bieten sich aus den Erfahrungen der letzten Spiele vor allem Seitenverlagerungen auf die schnellen Flügelspieler an. Gerade Wamangituka dürfte ein häufiges Ziel dieser Bälle sein. An Anschlussaktionen sollte es dem VfB dann nicht mangeln, wenn sie erstmal den Raum haben. Flanken sowie Pässe auf Kalajdžić sind im Moment aber das Mittel der Wahl, hat der 23-Jährige doch im Moment eine beeindruckende Form. In den letzten sieben Bundesliga-Partien traf er achtmal. Ein Stürmer wie gemacht für die Abwehrprobleme des FC Bayern.

Für die Münchner kommt es vor allem auf drei Kernaspekte an: Erstens wird es vor allem darum gehen, gegen Stuttgarts aggressives und hohes Pressing von Anfang an Lösungen zu entwickeln. Je souveräner die Bayern den Ball laufen lassen, desto wahrscheinlicher ist es, dass Stuttgart einige Meter tiefer anläuft oder Räume für die Offensive des Tabellenführers öffnet. Bringen die Bayern diese Qualität auf den Platz, sind alle anderen Punkte fast schon sekundär.

Die alte Leier: Tiefen- und Breitenabsicherung

Zweitens ist es dennoch wichtig, die Absicherung im Blick zu haben. Bayerns Viererkette tendiert zu oft dazu, aggressiv nach vorn zu verteidigen, statt Tempo aus dem Angriff des Gegners herauszunehmen, indem kollektiv verzögert wird. Das Gegentor in Bremen entstand abermals aus einer Situation der Uneinigkeit: Erst stürmt Jérôme Boateng unnötigerweise ins Mittelfeld vor, dann steht Bouna Sarr vollkommen ungünstig – weder für einen Sprint nach hinten, noch für eine Abseitsfalle hat er eine gute Position.

Auch Lucas Hernández ist aber nicht schuldfrei. Der Franzose stürmt ebenfalls heraus, obwohl er sich mit Sarr klar in einer Unterzahlsituation befindet. Gerade bei Unterzahl sollte es die Aufgabe der Restverteidigung sein, die Mitte möglichst kompakt zu halten und durch verzögerndes Rückwärtslaufen Tempo aus dem Angriff zu nehmen. Bremen aber reichen wenige Pässe, um die schlecht abgestimmte Viererkette auseinanderzuspielen. Das Problem tritt auch mit den eingespielten Spielern zu häufig auf, als dass es einfach ignoriert werden könnte.

Drittens wird gegen Stuttgart die Breitenverteidigung wieder in den Fokus rücken. Hier ist vor allem das zweite Gegentor gegen Borussia Dortmund beispielhaft (siehe hier).

Wichtiges Spiel für die Gesamtkonstellation

Der VfB wird mit viel Selbstbewusstsein, einer mutig eingestellten Mannschaft und einem aggressiven Zweikampfverhalten den Platz in der Allianz Arena betreten. Sie bringen vieles von dem mit, was Mannschaften wie Gladbach, Kiel, Bielefeld und Frankfurt im Duell mit den Bayern hatten.

Schon im Hinspiel stellten die Stuttgarter das unter Beweis. Nach Expected Goals besiegten sie die Bayern mit 1,8 zu 1,0. Die real erzielten Treffer hingegen fielen vornehmlich durch den Rekordmeister. Dennoch spiegelt das 3:1 der Münchner nicht den Spielverlauf wider. Stuttgart war mutig, offensivstark und hätte mindestens einen Punkt verdient gehabt.

Die Vorzeichen sind diesmal sogar recht ähnlich. Bayern hatte damals ohne Kimmich eine recht schwache Form. Und auch diesmal droht der Taktgeber wegen muskulärer Probleme auszufallen. Eine Pause scheint wahrscheinlich, so deuten es Medienberichte.

Es wäre ein herber Rückschlag für die wichtige Aufgabe. Sie können am Samstag einen großen Schritt in Richtung Meisterschaft machen. Schon am heutigen Freitagabend entscheidet sich, wie groß dieser wäre: Löst Leipzig die Pflichtaufgabe in Bielefeld, ist der Druck wieder da. Mit nur zwei oder gar einem Punkt Vorsprung in das direkte Duell mit RaBa zu gehen, wäre ungünstig. Gewinnen die Bayern allerdings gegen Stuttgart, sind es mindestens vier Punkte und man hätte unabhängig vom Ausgang des Top-Spiels in Leipzig alles in der eigenen Hand. Ein Sieg gegen den VfB wäre also wichtig für die Gesamtkonstellation.