Die Bayern zwischen Atlético und Frankfurt

Justin Trenner 22.10.2020

„Wir haben unser Aufbauspiel ein bisschen verändert, um bestimmte Räume zu bespielen“, sagte Leon Goretzka nach dem 4:0-Erfolg über Atlético Madrid. Einblicke in die taktische Ausrichtung einer Mannschaft gibt es in der Regel nur selten. Oftmals liegt das an doch eher simpel aufgebauten Fragen, die sich mit wenigen Silben beantworten lassen.

Seit Hansi Flick Trainer beim FC Bayern ist, fallen taktische Stichworte aber immer häufiger – teilweise sogar von selbst. Vor allem aber fällt auf, dass die Analyse verschiedener Spieler direkt nach den Spielen sehr einheitlich ist.

Der FC Bayern ist eine Einheit

So schlug Flick in dieselbe Kerbe wie Goretzka: „Wir haben versucht, die Räume, die wir vorgegeben haben, zu bespielen.“ Jetzt darf man süffisant fragen, ob das nicht völlig normal ist. Immerhin stehen da Profis auf dem Platz und daneben sehen gleich mehrere Trainer zu, die das Team auf ihre Aufgabe vorbereiten sollen.

Es gab aber durchaus Zeiten, in denen dieser gemeinsame Weg bereits in simplen Interviews nicht erkennbar war. Wo die Analyse vom individuellen Befinden des Spielers abhängig zu sein schien. Nicht unter Flick. Gemeinsame Räume, gemeinsame Laufwege, gemeinsame Ausrichtung, gemeinsame Ziele – der FC Bayern ist auf und neben dem Platz eine Einheit.

Und aus der Perspektive eines Blogs, der sich gern mit taktischen Aspekten auseinandersetzt, sind solche Aussagen ein Ohrenschmaus. Man darf sich das wie beim Pressing der Münchner vorstellen: Es gibt einen Trigger und eine daraus entstehende Aktion. Der Trigger ist in diesem Fall Goretzkas Aussage, dass man das Aufbauspiel ein Stück weit angepasst habe, um gegen den tief stehenden Gegner bestimmte Räume bespielen zu können. Und die Aktion? Nun. Aggressive Einschläge und absoluter Druck auf die Tastatur und (hoffentlich) zarte und präzise Pinselstriche auf der Taktiktafel. Denn wir wollen nun mal schauen, was Goretzka und Flick gemeint haben könnten.

Analyse: Bayern mit Detailanpassungen gegen Atlético

Typischerweise spielen die Bayern unter Flick mit einrückenden Flügelstürmern und recht hoch agierenden Außenverteidigern. Im Zentrum wird das Spiel dadurch mit viel Bewegung und guter Organisation verengt, um sich dann über die Halbräume Chancen zu erarbeiten – vereinfacht ausgedrückt.

Gegen Atlético hat sich der Fokus oftmals auf die rechte Seite verschoben. Die durchschnittlichen Positionen sehen laut der App „SofaScore“ in etwa so aus:

Ungefähre Durchschnittspositionen des FC Bayern gegen Atlético.
(Nachgestellt, Quelle: SofaScore)

Die Erkenntnis: Goretzka, Kimmich und Tolisso haben viel rotiert, weshalb ein sehr enges „Knäuel“ im Zentrum zu sehen ist. Ihr Fokus lag aber eher auf der rechten Seite des Spielfelds. Auch Alaba, Süle und Lewandowski sind im Vergleich zu ihrer Standardposition leicht nach rechts verschoben. Müller hingegen agierte erwartungsgemäß stark eingerückt, während Pavard im Schnitt höher positioniert war als Hernández. Comans Durchschnittsposition ist wiederum erheblich breiter als jene von Müller – und sie wäre wohl noch breiter, wenn er nicht in einigen Spielphasen auf die rechte Seite gewechselt wäre.

Hieran lässt sich schon in etwa erkennen, was die Bayern anders gemacht haben als in den Wochen zuvor. Nachdem es die Münchner geschafft hatten, Atléticos Pressing durch lange Ballbesitzphasen nach hinten zu drücken, sah die Grundausrichtung in etwa so aus:

Pavard schob hoch und Hernández war Teil des Aufbaus in erster Linie, seltener war es andersherum. Dadurch hatten die Münchner bei Ballverlusten mindestens drei Spieler in der Konterabsicherung. Müller orientierte sich wiederum in Richtung Mitte. Interessanterweise spielten die Bayern dann mit einem starken Rechtsfokus. 37 % aller Angriffe liefen über diese Seite, nur 31 % über links – in der Bundesliga sind es im Schnitt 34 % über rechts und 42 % über links.

Gerade die drei zentralen Mittelfeldspieler bewegten sich häufig in den rechten Halbraum. Sowohl Kimmich und der ohnehin halbrechts aufgestellte Goretzka als auch Tolisso, der eigentlich halblinks aufgestellt war, positionierten sich oft in der rechten Spielfeldhälfte. Manchmal war es Hernández, der Tolissos Position halblinks durch einen diagonalen Lauf zumindest ansatzweise oder absichernd abdeckte.

Durch das starke Verschieben hatten die Bayern nun mehrere Möglichkeiten: Beispielsweise Durchbrüche aufgrund von Überzahlsituationen im rechten Halbraum, oder das Freispielen des aufgerückten Pavards oder eines anderen Spielers, der gerade die Position auf der rechten Außenbahn besetzte. Allerdings waren solche Spielzüge eher ein Nebeneffekt.

Das eigentliche Ziel dieser Überladung war es, den eher breiter stehenden Coman freizuspielen. Durch den Rechtsfokus verengte sich auch die Defensivformation von Atlético stark. Vor allem über Kimmich, der immer wieder von Müller, Tolisso und Goretzka freigelaufen wurde, erfolgten dann einige Verlagerungen. Das gab Coman die entscheidenden Meter Platz, um bei Verlagerungen sofort Tempo aufzunehmen und in den Strafraum einzudringen. Sein Gegenspieler Trippier war meist überfordert, sein Gegenspieler gewann insgesamt vier Dribblings.

Zurück in den Bundesliga-Alltag

Flick zeigt damit abermals, dass er anpassungsfähig ist und welch vielerorts unterschätzte Qualitäten er im konzeptionellen Bereich hat. Siege wie auf dem Reißbrett geplant und trotz aller vorherigen Zweifel eine Leistung, die mental und physisch auf allerhöchstem Niveau einzuordnen ist.

Die Bayern machen damit in der Champions League da weiter, wo sie zuvor aufhörten. Es ist saisonübergreifend der 12. Sieg im 12. Spiel bei 47 zu 8 Toren – also im Schnitt 3,9 zu 0,6 pro Partie. Es gibt keine Superlative mehr für diese Mannschaft.

Und genau das dürfte den Bundesligaalltag in dieser Saison noch komplizierter machen. Im Prinzip geht es gegen Frankfurt am Samstag primär nicht darum, wie gegen Atlético Madrid auf taktischer Detailebene den Unterschied zu machen. Es wird darum gehen, mental und physisch erneut an die Grenze oder sogar darüber hinaus zu gehen. Woche für Woche für Woche …

Präzision, Effizienz und Geduld – auch gegen die Eintracht?

Fehlen nur wenige Prozentpunkte Konzentration, Laufbereitschaft oder Intensität, drohen Partien wie gegen Hoffenheim oder Hertha. Frankfurt ist gut in die Saison gestartet, hat noch kein Spiel verloren. Allerdings hießen die Gegner bisher auch nur Bielefeld (1:1), Hertha (3:1), Hoffenheim (2:1) und Köln (1:1). Immerhin, so könnte man die Situation zuspitzen, gelangen der SGE mehr oder weniger souveräne Siege gegen zwei Teams, die es den Bayern schwer machten. Auf der anderen Seite holte der amtierende Meister einen deutlichen Sieg gegen Bielefeld.

Klar ist, dass Frankfurt mit der aggressiven und gegen den Ball meist gut organisierten Ausrichtung unter Hütter immer eine Gefahr darstellt. Spielen die Bayern aber mit der Präzision, Effizienz und Geduld vom Mittwochabend, wird die SGE leer ausgehen. Auf dem Papier ist diese Rechnung leider so einfach. In der Bundesliga braucht selbst Borussia Dortmund viel Glück, um der Mannschaft von Flick an einem guten Tag den Bein zu stellen.

Dementsprechend wird Hütter auf die Hoffenheim-Bayern hoffen. Und womöglich wird er sich taktisch sogar an der Hoeneß-Ausrichtung orientieren. Zumindest hat er die Spielertypen dafür.

Es ist relativ unwahrscheinlich, dass Leon Goretzka nach dem Spiel wieder darüber sprechen wird, dass das Team im Spielaufbau einiges verändert hat. Womöglich wird der Fokus dann je nach Ausgang eher darauf liegen, wie die Mannschaft die komplizierten Gegebenheiten angenommen hat. In jedem Fall aber darf davon ausgegangen werden, dass wieder alle Spieler dieselbe Linie fahren werden wie ihr Trainer. Und darauf lässt sich der Erfolg dann auch ganz gut reduzieren – auf jeder Ebene.