Vorschau: FC Bayern München – Bayer 04 Leverkusen

Justin Trenner 29.11.2019

Will man den Fußball von Peter Bosz verstehen, muss man ihm eigentlich nur sehr genau zuhören. Der 56-Jährige redet gern und viel. Zumindest über Fußball und auch über seine Vorstellungen davon. Fußball sei für ihn „ein bisschen wie Schach“, sagte er noch im März. Gegner würden versuchen, für seine Spielweise Lösungen zu finden, woraufhin es für ihn wieder darauf ankäme, für diese Lösungen Gegenlösungen zu entwickeln.

Für Bosz sind die Lösungen beim Fußballschach manchmal derart offensiver Natur, dass seine Figuren den Gegner geradezu mit dem Messer zwischen den Zähnen attackieren. Fragt man ihn danach, warum er sich bei seinen Schachzügen immer wieder genau für diesen Stil entscheidet, obwohl der ganz große Erfolg bisher ausblieb, kann ein faszinierendes Gespräch entstehen. Eines, in dem sich der Trainer auf Augenhöhe mit seinem Gegenüber begibt. Bosz zeigt dann, dass er deutlich flexibler und offener ist, als es sein Ruf nach der Zeit in Dortmund nahelegt.

Ein gutes Beispiel für seine sympathische und aufgeschlossene Art gab Bosz, als 11Freunde im August ein ausführliches Interview mit ihm führte. Seine Argumentation, warum er trotz des verlorenen Europa-League-Finals 2017 und der Achterbahnfahrt in Dortmund weiterhin an seinem nahezu verrückt-offensiven Spielstil festhält, lässt sich dabei auf eine simple These zuspitzen: Fußball ist für die Fans und die wollen Spektakel sehen.

Bayer 04 Leverkusen: Spektakel in der Achterbahn

Im Idealfall, so sieht es auch Bosz, sollte dieses Spektakel aber zu Erfolg führen. Warum dieser zuletzt häufiger mal ausblieb, erklärt er selbst besser als jeder andere es könnte: „Natürlich weiß ich, dass mein Weg grundsätzlich ein sehr schwieriger ist, denn wenn bei offensivem Spiel Fehler passieren, ist das Team hinten sofort anfällig.“

Und das ist im wesentlichen auch schon der Kern dessen, woran Bosz seit seiner Ankunft in Deutschland sehr akribisch arbeitet. Eine ausgewogene Balance zwischen Offensive und Defensive zu finden, ohne gleichzeitig auf sein Offensivspektakel verzichten zu müssen, ist die Aufgabe, die er sich auf seinem Weg in der Bundesliga gestellt hat. Er könnte es gewiss auch auf andere Arten versuchen, doch der Glaube an seine Philosophie ist ungebrochen groß:

Offensivfußball bedeutet nicht zwangsläufig ein höheres Risiko, er bedarf nur einer noch detaillierteren Planung. Wenn wir hinten und vorne kompakt stehen, werden die Abstände so kurz, dass wir selbst bei einem Ballverlust sehr schnell reagieren können. Und wenn ich als Trainer das Spiel richtig analysiere, ist es auch möglich, dass meine Mannschaft mit der Zeit immer seltener Gegentore bekommt und gleichzeitig mehr Tore erzielt. Aber es setzt einen klaren Plan und harte, analytische Arbeit voraus. Und sehr aufmerksame Spieler.Peter Bosz, Ende August in der 11Freunde

Peter Bosz: Flexibler als sein Ruf

Immerhin: Mit aktuell 1,72 Punkten pro Spiel (39 Spiele) steht er in der ewigen Trainertabelle (mindestens 10 Spiele) bei Bayer 04 Leverkusen auf Platz 4 hinter Sascha Lewandowski (1,88 PPS), Jupp Heynckes (1,87 PPS) und Christoph Daum (1,77 PPS). Aber: Auch Heiko Herrlich, der eine sehr durchwachsene Zeit in Leverkusen hatte, steht mit 1,72 Punkten an dieser Position.

Will Bosz bei der Werkself eine Ära prägen, wird er sein System stabilisieren müssen. Zu Beginn sah die Umsetzung seiner Idee noch mehr als ordentlich aus. Spätestens mit dem Verlust von Julian Brandt schlichen sich aber Unregelmäßigkeiten und Fehler ein, die es nun zu korrigieren gilt.

Dabei ist vor allem die Schaltzentrale im Mittelfeld ein entscheidender Faktor. Entgegen der Vorurteile, die sich um Bosz etabliert haben, ist der Trainer sehr experimentierfreudig, was die Anordnung seiner Spieler auf dem Platz angeht. Es geht darum, die bestmögliche Kompaktheit für seinen strategisch extremen Offensivfußball zu finden.

Auf der Suche nach Mittelfeldkontrolle

Das heißt vereinfacht, dass Bosz das Positionsspiel seiner Mannschaft im Detail solange anpasst, bis er mit den Abständen zwischen den Spielern zufrieden ist. In der letzten Rückrunde war das im 4-3-3 mit Brandt und Kai Havertz auf den Halbpositionen der Fall. Mit dem Wechsel von Brandt musste Bosz wieder neue Experimente eingehen.

Eines seiner Experimente war die Umstellung auf eine Dreierkette. Mit dieser zeigten sich jedoch schnell größere Probleme. Die Idee, Brandt mit nominell einem Spieler mehr im Mittelfeldzentrum zu ersetzen, ging nie so richtig auf, weil unter den vier Mittelfeldspielern keine gute Aufteilung entstand. Entweder nahmen sie sich gegenseitig Räume weg, oder sie konnten keine Überzahlsituationen herausspielen.

Zuletzt schien sich eine flexible 4-2-3-1-Aufteilung zu etablieren, die dem 4-3-3 der letzten Saison recht ähnlich ist. Mit Kerem Demirbay, Charles Aránguiz und Havertz kommt zudem eine recht spielstarke Besetzung der zentralen Positionen hinzu. Nun fiel Havertz zuletzt aber aus. Bosz wird also auch hier wieder Lösungen finden müssen. Die Raumaufteilung ist dennoch etwas besser als noch im vorherigen Saisonverlauf, weil die Mannschaft aus dem Sechserraum flexibel nach vorn schiebt. In Ballbesitz wechselt Bayer also zwischen einer 2-1 und einer 1-2-Staffelung im Mittelfeld.

Die Balance stimmt noch nicht

Auch das Gegenpressing profitiert davon. In Moskau kam Leverkusen auf 69 Balleroberungen, gegen Freiburg auf 53 (bei 7% mehr Ballbesitz) und in Wolfsburg waren es sogar 74. Leverkusen steht dadurch etwas stabiler, kassierte in diesen drei Partien nur ein Gegentor. Zwar ließen sie mit rund einem Expected Goal Against1 pro Spiel immer noch relativ viel zu, doch der Fortschritt ist nicht von der Hand zu weisen. Wie viel dieser wert ist, werden aber erst die nächsten Wochen zeigen.

Gegen die Bayern dürfte es für Bosz entscheidend sein, dass er Wege findet, um den wiedererstarkten Rekordmeister früh, aber auch effizient zu stören. Dafür spielt die Doppelsechs eine gewichtige Rolle, weil sie für die Balance der gesamten Mannschaft große Verantwortung trägt. Und die passt eben trotz der zuletzt besseren Leistungen immer noch nicht.

Die etwas bessere Defensivleistung geht nämlich bislang zu Lasten der Offensive. Mit Ausnahme des Freiburg-Spiels, wo Bayer außerordentlich viele Chancen herausspielte und liegen ließ, war das zuletzt mehr Krampf als Spektakel. Und nichts ist wichtiger, als eine gute Balance zwischen offensivem Mut und defensiver Stabilität zu finden.

FC Bayern: Was ist der Blitzstart unter Flick wert?

Gerade in München dürfte das besonders wichtig werden. Hansi hat nämlich das Positionsspiel der Bayern geflickt. Kürzere Abstände, mehr Kompaktheit, offensive Durchschlagskraft und gleichzeitig defensive Stabilität. Das, woran Bosz bei Leverkusen arbeitet, scheint Flick nach nur wenigen Wochen gelungen zu sein – mit besseren Einzelspielern natürlich.

Ein entscheidendes taktisches Element ist dabei jedoch die nun bessere Einbindung der Spielfeldmitte. Besonders die Achter sind in Flicks System sehr flexibel. Aus einer Grundordnung, die ein bisschen an das erinnert, was Niko Kovač am Anfang der Saison umsetzen wollte, kommen nun auch die passenden Laufwege.

Die Achter arbeiten den eigenen Sechser frei.

Die Grafik deutet die Verbesserungen an: An erster Stelle steht, dass der Sechser (grüner Raum) jetzt deutlich häufiger seine Position hält. Im bisherigen 4-4-2-Pressing der vier Gegner führte das zu einer 3-gegen-2-Überzahl für die Bayern und einem dementsprechend unkomplizierten Spielaufbau. Das liegt aber auch daran, dass die Achter sich jetzt so bewegen, dass im Sechserraum weniger Druck für den ballführenden Spieler entsteht.

Sie schafften es entweder durch Sprints aus tieferen Positionen in eine höhere oder andersherum, die gegnerischen Sechser an sich zu binden und ihnen immer das Gefühl zu geben, dass sie nicht auf Bayerns Sechser schieben dürften. Denn sie könnten dadurch ja eine Passmöglichkeit zwischen die Linien eröffnen. Als Resultat stand Joshua Kimmich (am Dienstag Thiago) regelmäßig frei und konnte sogar aufdrehen, ohne sich direkt mit einem Gegenspieler konfrontiert zu sehen.

Ändert Flick einige Details?

Viel Taktiererei auf dem Fußballschachbrett, das sich letztendlich auf eine wichtige Erkenntnis verkürzen lässt: Unter Flick reißen die Bayern Löcher zwischen der Defensiv- und Offensivreihe des Gegners, die sie dann mit ihrem spielstarken Sechser nutzen. Allerdings waren die bisherigen vier Gegner auch sehr homogen in ihrer Ausrichtung. Sie alle pressten in einem 4-4-2 und sie alle gingen dabei eher absichernd als aggressiv vor. Boszs Leverkusen wird anders als diese vier Mannschaften hoch und aggressiv anlaufen.

Erstmals wird Flicks Mannschaft also im Spielaufbau unter Druck Entscheidungen treffen müssen. Womöglich wird es auch den Achtern weniger gelingen, die Sechser der Werkself zu binden, weil diese insgesamt etwas sorgloser nach vorn schieben. Umso spannender werden zwei Aspekte aus der Perspektive von Flick sein. Erstens: Wer spielt im Mittelfeldzentrum? Wird der Fokus wieder darauf liegen, den Gegner über Gegenpressingsituationen zu überrumpeln?

Thiago zeigte in der Champions League, dass er auch gegen den Ball sehr wertvoll sein kann. Vielleicht hat seine Leistung ausgereicht, um den Startelfplatz zu behalten. Dann bleibt die Frage, ob Kimmich zurück auf die rechte Seite rotiert, oder ob beide zusammen im Mittelfeld starten. Der andere entscheidende Aspekt liegt im gruppentaktischen Bereich, geht aber mit dem ersten einher: Passt Flick die Abläufe insbesondere im Spielaufbau an, um dem erwarteten Druck etwas entgegenzusetzen? Kimmich auf der Sechs und Thiago als pendelnder Achter auf der halblinken Seite könnte eine Option sein, die es Flicks Mannschaft erlaubt, das Angriffspressing des Gegners durchs Zentrum zu überspielen. Aber auch Goretzka hat bewiesen, dass er technisch zumindest nicht abfällt und zudem eine große Waffe im Gegenpressing ist.

Wer setzt wen Schachmatt?

Schaffen die Bayern es durch ihre Läufe auch gegen Leverkusen, dass der Gegner sie nicht kompakt anlaufen kann, sind die Grundlagen für eine dominante Leistung bereits gelegt. Auf der anderen Seite wird Bosz genau das verhindern wollen. Findet er Wege, den Sechserraum der Bayern zu stören, ohne die Halbräume für deren Achter zu öffnen, ist das wiederum ein großer Schritt für Leverkusen.

Das Mittelfeld entscheidet Spiele. In diesem Duell dürfte dieses durch die Cruyff-Schule geprägte Motto besonders gelten. Zumal mit Peter Bosz ein Trainer an der Seitenlinie steht, der Johan Cruyff sehr nahe stand – menschlich, vor allem aber auch fußballphilosophisch.

Für beide Trainer wird das Duell eine wichtige Standortbestimmung darstellen. Sowohl Leverkusen als auch die Bayern waren zuletzt gut in Form. Doch wie viel solche Erfolge wert sind, zeigt sich oftmals erst, wenn eine Mannschaft auf sehr hohem Niveau gefordert wird. Und genau das wird am Samstagabend passieren, wenn Peter Bosz und Hansi Flick sich gegenseitig zum Duell am Taktik-Schachbrett herausfordern.

1 Expected Goals ist eine Metrik, die versucht Qualität von Torabschlüssen zu messen, indem sie jedem Abschluss eine Wahrscheinlichkeit zuordnet. Die Modelle funktionieren jeweils unterschiedlich, weshalb es zu starken Abweichungen zwischen ihnen kommen kann. Im Verbund mit anderen Statistiken und dem subjektiven Eindruck können sie aber eine Annäherung an Objektivität ermöglichen. Hier wurde ein Annäherungswert aus den Modellen von understat.com, FBref.com und @Caley_Graphics (Twitter) formuliert.

Vorschau-Tippspiel

Im Vorschau-Tippspiel tippe ich den gesamten Bundesliga-Spieltag. In unserer Kicktipp-Gruppe könnt ihr euch mit mir und allen anderen messen. Der oder die GewinnerIn der Kicktipp-Runde bekommt von mir ein signiertes Exemplar Generation Lahmsteiger.

Hier geht es zur Kicktipp-Runde!

Spieltagssieger

Den 12. Spieltag gewinnt ania mit 15 Punkten. Mit 10 Punkten komme ich immerhin auf einen mit vielen geteilten 20. Platz. Hier die Top 5 in der Gesamtwertung:

  1. Edlan – 162 Punkte (0 Spieltagssiege)
  2. Dominik – 157 Punkte (0,33 Spieltagssiege)
  3. Isarläufer – 156 Punkte (0 Spieltagssiege)
  4. Jona_Brauni – 155 Punkte (1 Spieltagssieg)
  5. Beltiboy – 155 Punkte (0 Spieltagssiege)

Lahmsteiger: Platz 66 – 132 Punkte (0 Spieltagssiege)

So läuft es gegen Leverkusen …

Ich erwarte hohen Druck von Leverkusen. Gerade in der Anfangsphase wird die Bosz-Elf wieder ein hohes Tempo vorgeben. Wie die Bayern damit klarkommen, wird über den weiteren Spielverlauf entscheiden. Flick wird seine Mannschaft gut einstellen, trotzdem wird man erstmals ein paar kleinere Probleme sehen können. Es reicht aber zu einem tollen und sehenswerten 3:1-Sieg.

So könnte Bayern spielen …

4-3-3: Neuer – Pavard, Martínez, Alaba, Davies – Kimmich – Goretzka, Müller – Gnabry, Lewandowski, Coman

Es fehlen: Hernández, Süle, Arp

So läuft der Spieltag …

Schalke 2:1 Union
Hoffenheim 2:0 Düsseldorf
Köln 2:1 Augsburg
Paderborn 1:4 Leipzig
Hertha 1:1 Dortmund
Bayern 3:1 Leverkusen
Gladbach 2:1 Freiburg
Wolfsburg 2:1 Bremen
Mainz 2:1 Frankfurt