Arturo Vidal: der Krieger zieht weiter

Justin Trenner 04.08.2018

Es war Halbzeit in München. Die ersten 45 Minuten hatten bei den Fans in der Allianz Arena und vor den Fernsehgeräten für Schockstarre gesorgt. Ausgerechnet im letzten Jahr von Pep Guardiola zeigte die Mannschaft eine der schlechtesten Halbzeiten seit Jahren.

Sie ließ sich überrumpeln, zeigte kaum Leidenschaft und wirkte insgesamt einfach leblos. Im Hinspiel des Achtelfinals hatte es bei Juventus Turin noch eine der besten Saisonleistungen zu bestaunen gegeben, zumindest 60 Minuten lang. Dann hatte Juventus noch spät das 2:0 der Bayern ausgeglichen.

Im Rückspiel führten die Italiener zur Pause mit 2:0. Die Hoffnungen, dass sich das Spiel noch drehen ließ, waren gering, zu schwach war die erste Hälfte gewesen, zu fahrig wirkten die Münchner.

Doch dann schlug die Stunde des Arturo Vidal. Er machte genau dann den Schritt nach vorn, wenn die Mannschaft ihn am meisten brauchte. Als Antreiber und Zweikämpfer, als Führungsspieler und Krieger. Für keine Arbeit war sich der Chilene zu schade.

Aber er ist mehr als das. Gerade in dieser zweiten Halbzeit gegen Juventus stellte er unter Beweis, welch hohes Spielverständnis er in einer gegen den Ball insgesamt gut organisierten Mannschaft hat.

Vidal sorgte plötzlich für die notwendige Stabilität, aber er entwickelte mit seinen klugen Vorstößen auch Dynamik in der Offensive. Immer wieder überlud er die Zentrale und gewährte Müller und Lewandowski damit mehr Freiräume. So auch beim 1:2, als Lewandowski völlig frei zum Kopfball kam. Weil er sich gut bewegte, aber weil Vidal eben andererseits für Verwirrung in der Juve-Abwehr sorgte.

Kurz vor Schluss kam dann der große Moment des Chilenen. Als die Zeit knapp wurde, eroberte er direkt am Strafraum des Gegners einen Ball zurück, verteilte diesen weiter, und sah dabei zu, wie Müller die Verlängerung mit einem Kopfball klarmachte.

In ebenjener Verlängerung war es wieder Vidal, der am Kontertor Comans mit einer Balleroberung – diesmal am eigenen Strafraum – beteiligt war. Der heute 31-Jährige war für den FC Bayern stets ein Mann für die wichtigen Spiele.

Fluch und Segen

Doch war das nur eine Seite der Medaille. In vielen „normalen“ Bundesliga-Spielen war Vidal ein Laster. Als Bremsklotz im eigenen Aufbauspiel, der nicht selten einfache Fehlpässe spielte, verlangsamte er die Angriffe enorm.

Auch gegen den Ball verlor er zunehmend an Konstanz. In der vergangenen Saison gewann er nicht mal die Hälfte seiner Zweikämpfe. Das lag zum Teil an der eigenen Fitness. Seit Oktober 2016 fiel er zehnmal aus, immer wieder durch kleinere Blessuren und Rückschläge. Die Knieverletzung aus der vergangenen Saison war die erste große Verletzung seit einigen Jahren.

Trotzdem war es für ihn schwer, seinen Rhythmus zu finden. Zumal das Spiel des „Kriegers“ sehr intensiv ist. Sobald er nicht an seine Leistungsgrenze gehen kann, fällt das deutlicher auf als bei anderen Spielern.

Vidal zeigte gerade unter Guardiola, dass er für den FC Bayern extrem wertvoll sein konnte. Damals brachte er mit seiner Dynamik und seiner für ein Positionsspiel unorthodoxen Spielweise ein neues Element in das Team. Er war ein gut eingesetzter Fremdkörper in einem organisierten System.

Der Katalane selbst wurde pragmatischer, um die Stärken Vidals hervorzuheben. Dafür wurde er in der Champions League im letzten Jahr belohnt. Die Bayern spielten mit Vidal die beste Champions-League-Kampagne seit der Triple-Saison. Leider reichte es am Ende nicht für den großen Wurf. Gegen Atlético entschieden Nuancen trotz zweier großartiger Leistungen über das Ausscheiden.

Für Vidal wurde es danach immer schwieriger. Seine Schwächen im Ballbesitzspiel kamen deshalb immer mehr zum Tragen, weil mit Alonso ein ballsicherer Aufbauspieler im defensiven Zentrum die Sachen packte. Ebenso ging Lahm, der von rechts häufig in die Mitte zog, und die Ballzirkulation unterstützte. Vidal konnte sich dann zurücknehmen oder weiter nach vorn schieben.

In höheren Zonen ist der Chilene ohnehin viel wertvoller. Legendär bleiben die Momente, in denen er unerwartet im gegnerischen Strafraum auftauchte, um eine Flanke präzise mit dem Kopf zurückzulegen. Dieses Mittel wird den Münchnern fehlen. Tolisso wäre eventuell jemand, der mit viel Arbeit ähnliche Qualitäten einbringen könnte.

Da den Bayern aber bis heute ein Spielgestalter fehlte oder Thiago zu selten auf dieser Position spielte, musste Vidal immer mehr Aufgaben in tieferen Zonen übernehmen. Das war schlicht nicht sein Spiel.

Waren die Münchner und ihr Krieger zu Beginn noch eine perfekte Ergänzung, so führte die Gegensätzlichkeit aufgrund vieler Umstände zu immer mehr Problemen.

Gegen seinen Ex-Klub Juventus Turin zeigte Vidal eine der besten Leistungen im Bayern-Trikot.
(Foto: Christof Stache / AFP / Getty Images)

Vidal-Wechsel als Chance

Der Transfer ist deshalb für beide Parteien die richtige Entscheidung. Vidal darf in Barcelona auf ein besser organisiertes Aufbauspiel hoffen, das ihm die nötigen Freiheiten gewährt. Dann kann er zeigen, ob er immer noch dazu in der Lage ist, in höheren Zonen für Überzahl und Gegenpressing-Glanzmomente zu sorgen.

Für den FC Bayern hingegen ergibt sich eine große Chance. Sanches, Tolisso und Goretzka sind nicht so erfahren wie Vidal, haben aber ähnliche Fähigkeiten. Gerade Tolisso war in der vergangenen Saison der bessere Vidal, weil er sich strategisch klüger verhalten hat.

Während der Chilene immer wieder Lücken durch unkontrolliertes Vorstoßen öffnete, brachte Tolisso Stabilität in Ballbesitz. Vidal war im Mittelfeld der Spieler, auf den die Bayern am ehesten verzichten können. Seine Stärken gegen den Ball konnte er kaum noch zeigen.

Mit Blick auf die Zukunft war er es, der den Platz für jüngere Spieler machen musste. Aus spielerisch-strategischer Sicht ist er am leichtesten zu ersetzen. Allein deshalb ist der Verkauf konsequent und richtig.

Gerade in großen Spielen werden die Münchner nun aber jemanden brauchen, der so wie Vidal 1900% in die Waagschale wirft. Jemand, der einer strauchelnden Mannschaft Stabilität geben kann. Der dann den richtigen Schritt nach vorne macht, wenn seine Kollegen ihn am meisten brauchen.

Vielleicht müssen die anderen Spieler dort erst reinwachsen. Doch so ist das eben, wenn man sich in der Übergangsphase in eine neue Ära befindet. Es ist ohne Frage eine große Herausforderung für Niko Kovač, die Lücke zu stopfen. Aber er hat Spieler, denen das zuzutrauen ist.