»Wir haben viel zu wenig das gespielt, was unser Trainer eigentlich will«
Im Rückblick wissen wir, wie recht Philipp Lahm mit dieser Forderung hatte und noch immer hat. Unter van Gaal begann die Etablierung der Ballstafetten, des Positionsspiels und der Ballkontrolle. Die Mannschaft konnte dieses anspruchsvolle System aber nie zur vollständigen Entfaltung bringen. Jupp Heynckes erkannte nach der bitteren Saison 2011/12 Schwachstellen und wollte dafür unbedingt den 40-Millionen-Mann Javi Martínez an die Isar holen. Seine Fähigkeiten der Balleroberung, Pressingresistenz und Anspielbarkeit in fast allen Situationen – auch bzw. besonders unter Druck – waren der entscheidende Baustein für Stabilität auf der Sechserposition bzw. im Mittelfeld an sich. Martínez entlastete Schweinsteiger und machte ihn noch besser. Man hatte das Gefühl, dass die Transferperiode vor der Triple-Saison die erste richtige Phase war, in welcher der FC Bayern ausschließlich unter Betrachtung des Spielsystems Neuverpflichtungen tätigte. Ja, auch ein Mario Mandzukic war entscheidend für diese Philosophie, weil er mit Vehemenz Defensivarbeit verrichtete, Lücken im Angriffsdrittel besetzte und neben einer Flachpass- auch eine Variante mit hohen Bällen, ihrer Behauptung und Spielverzögerung in die Partien brachte.
Pep Guardiola sieht sich seit dem verlorenen Heimspiel gegen Real Madrid und dem Aus in der diesjährigen Champions League Saison sowohl von der Presse als auch Bayernfans deftiger Kritik gegenüber. Die Vorwürfe drehen sich um zwei Dinge: 1) Guardiola beharre zu sehr auf seiner Philosophie des Ballbesitzfußballs und der damit angeblich vorhandenen Einschränkungen. 2) Guardiola kann nicht richtig mit Spielern umgehen, die nicht zu 100% in sein System passen. Wir haben bereits zur Pressekonferenz nach der Niederlage versucht eine Einordnung der Aussagen unseres Trainers vorzunehmen, weil diese oftmals zu losgelöst betrachtet wurden.
Kommen wir aber zum aktuellen Interview mit Philipp Lahm, welches schon zu Beginn dieses Artikels erwähnt wurde und Einblick in die Probleme nach der frühesten Meisterschaft und Guardiolas Denkweise gibt.
Das Einzige, was mir wirklich auffiel, ist, dass jeder – und da schließe ich mich ein – direkt nach der Meisterschaft ein bisschen runtergefahren hat […] dann haben wir halt den Punkt verpasst, um die Spannung wie- der zu hundert Prozent aufzubauen […] wenn es alle betrifft, sum- miert es sich. Und am Ende sieht das Spiel halt so aus, wie es ausgesehen hat.
Süddeutsche Zeitung Nr. 112, 16.05.2014, Seite 35
Es bestätigt sich, was die Fans und Beobachter in den Partien nach der Meisterfeier Spiel um Spiel gesehen haben. Die viel zitierte Spannung war weg, die letzten Prozentpunkte haben gefehlt und aus diesem Trott kam man bis heute nicht mehr richtig heraus. Normalerweise ist es logisch, dass einzelne Spieler im Verlauf einer Saison in Schwächephasen kommen und ihr »Leistungseinbruch« dann vom Kollektiv abgefedert werden kann. Nach der frühesten Meisterschaft aller Zeiten haben sich anscheinend, so sind die internen Eindrücke von Lahm, alle zu stark zurückgenommen. An dieser Stelle hat definitiv auch der »Die Bundesliga ist vorbei« Vorwurf an Guardiola Gültigkeit. Wichtiger und interessanter sind aber die Aussagen des Kapitäns zur Form und ihrer Auswirkungen auf das Spielsystem.
Beim Ballbesitz-Fußball müssen alle Spieler, alle Mannschaftsteile im vorderen Drittel hundert Prozent ihrer Leistung abrufen […] Es kommt auf die Geschwindigkeit von Ballannahme und Pass an […] Das ist das An- spruchsvolle an diesem System. Es ist ein traumhaftes System, ich liebe es sehr, aber man muss es zu hundert Prozent spielen.
Süddeutsche Zeitung Nr. 112, 16.05.2014, Seite 35
Lahm verdeutlicht, was in der öffentlichen Betrachtung der letzten Zeit und beim plötzlichen Umschwung von »Hurra, Pep« zu «Was spielt der denn?« viel zu kurz kam. Die schwierigen Spiele und herben Niederlagen am Ende dieser Saison sind nicht ausschließlich auf die Beschränktheit von Guardiolas Spielsystem zurückzuführen, sondern definitiv im größten Maß ein Produkt der fehlenden Form, welche in einem derart schwierigen Fußball eben noch deutlicher wirkt als in einem defensiven 4-4-2. Es ist auch absolut nicht erkennbar, dass die Mannschaft überfordert oder unzufrieden mit Peps Idee ist. Lahm spricht nicht umsonst vom »traumhaft[em] System« und verweist auf die Partien gegen Manchester City, Leverkusen und Hertha. Man sollte davon wegkommen Kritik nur einfach auf die Spielphilosophie zu kanalisieren. Die Hintergründe sind wesentlich komplexer und werden leider in der öffentlichen Debatten selten ausreichend beleuchtet. Entweder aus Unverständnis oder weil Draufhauen einfacher als Verstehen ist.
Der Blick in die Zukunft ist geprägt von der Begeisterung für Guardiolas Fußball und die Arbeit an Details. Philipp Lahm verdeutlicht noch einmal, dass man im Spiel gegen Real Madrid die Anforderungen des Trainers nicht umgesetzt hat. Erinnert man sich an Peps mitunter verzweifelte Ausbrüche in der Coaching Zone versteht man nun wieso er so reagierte. Die Mannschaft hat »viel zu wenig das gespielt, was unser Trainer eigentlich will« und sich dadurch so schwer getan.
Wenn wir uns hinten reinstellen und auf Konter spielen wollen, wäre Guardiola nicht der richtige Trainer. Aber ich finde, dass seine Spielidee super zur Mannschaft und zu einem Verein wie Bayern passt.
Süddeutsche Zeitung Nr. 112, 16.05.2014, Seite 35
Wir dürfen uns auf die Zukunft mit Guardiola freuen. In den letzten Spielzeiten hat der FC Bayern an kleinen Stellschrauben gedreht, um die Mannschaft auf die seit van Gaal konsequent weiterentwickelte Philosophie anzupassen und so wird es auch in der nächsten Transferperiode weitergehen. Weniger Stareinkäufe, mehr Verstärkung auf kritischen Positionen. Die Mannschaft zeigt sich begeistert und da muss man den Kritikern, speziell im Lager der Fans, widersprechen, denn man liest nichts von Zwist oder Streitigkeiten, die einige wohl gern in die Mannschaft hineininterpretieren würden. Der FC Bayern spielt begeisternden, taktisch spannenden Fußball – seit Jahren auf hohem Niveau. Guardiola muss den Verein weiterentwickeln und derzeit spricht alles dafür, dass er das tun und schaffen wird.