Es ist Zeit für die Zukunft

Justin Trenner 27.03.2018

Seit 2009 veränderte sich viel beim FC Bayern. Durch die Einflüsse von Louis van Gaal, Uli Hoeneß, Karl-Heinz Rummenigge, Philipp Lahm, Matthias Sammer, Michael Reschke, Jupp Heynckes, Pep Guardiola und einigen anderen Protagonisten stieg der Rekordmeister wieder in die Spitzengruppe Europas auf. Warum ich eine derart lange Liste an Namen durchspule? Weil allein diese Auswahl verdeutlicht, dass der Klub am erfolgreichsten war, als die internen Kompetenzen von äußeren Einflüssen ergänzt wurden.

Die von außen hereingetragenen Veränderungen brachten dem FC Bayern etwas, was er in der Form vielleicht noch nie zuvor hatte: eine übergeordnete Strategie für die Zukunft. Van Gaal brachte beispielsweise das Positionsspiel nach München, auf dem die folgenden Jahre fußten. Sammer wiederum revolutionierte gleich die ganze Position des Sportdirektors, indem er quasi omnipräsent war.

Es ist müßig zu diskutieren, ob die Bausteine dieser Strategie tatsächlich von Anfang an durchgeplant waren, oder ob sie durch eine Verkettung von Zufällen entstanden ist. Allerdings lässt sich nicht wegdiskutieren, was diese Zeit mit dem FC Bayern gemacht hat. Dominanz, Kontrolle, Positionsspiel und ein durchorganisiertes Passspiel wurden zu Prinzipien, die zusammen das bildeten, was hier als Strategie bezeichnet wird.

Stark vereinfacht gesagt: es gab plötzlich eine klare Idee davon, wie die 11 Spieler auf dem Platz etwas mit oder ohne Ball machen wollen, um ihn schließlich häufiger im Tor unterzubringen als der Gegner. Diese Idee bildete fortan eine Basis, die die Stärken aller Spieler so in Szene setzen sollte, dass ihre Schwächen kaschiert werden.

Weiß der FC Bayern um seine eigene Komplexität?

Die Trainerentscheidungen passten jeweils dazu, und auch bei Spielertransfers war der Klub regelmäßig bemüht, ein Profil zu erstellen, in das der jeweilige Spieler passen musste. Es gab zwar Ausnahmen wie Vidal oder den Verkauf von Kroos, doch im Großen und Ganzen war man bemüht, die Prinzipien zu befolgen.

Am Sonntag veröffentlichten wir für unsere Patreon-Unterstützer eine Kolumne, in der nun aber die Zukunft des FC Bayern thematisiert wurde. Darin machten wir drei Ebenen fest, auf denen der Klub in den nächsten Jahren nahezu perfekt arbeiten muss, um sich an Europas Spitze zu halten: Kaderplanung, Strategie und eine modernisierte Führungsetage.

Alle drei bauen aufeinander auf. Die Kaderplanung funktioniert nur ideal, wenn es eine Strategie gibt, die wiederum von der Führungsetage ausformuliert werden muss. Nun war dieser Artikel aber eher eine Analyse dessen, was sein müsste. Viel Konjunktiv und wenig Indikativ.

Fußballunternehmen sind heute so komplex wie nie. Gerade die europäischen Spitzenteams müssen in so vielen Bereichen perfekt arbeiten, um die Chancen auf Erfolg zu maximieren. Tobias Escher vergleicht sie in seinem Buch „Die Zeit der Strategen“ mit einem Zahnradgetriebe. Ein Zahnrad muss in das andere greifen, sonst stockt das ganze System.

Beim FC Bayern darf man dieser Tage zu Recht hinterfragen, ob der Klub sich dieser Komplexität überhaupt bewusst ist. Seit Monaten steht im Prinzip fest, dass Jupp Heynckes den Trainerjob am Ende der Saison beenden wird.

Jetzt deckt die Süddeutsche Zeitung Ende März auf, dass die Münchner tatsächlich keinen wirklichen Plan haben, wie sie ab Sommer mit der Situation umgehen wollen. Übereinstimmende und voneinander unabhängige Quellen berichten von einer Frist von sechs Wochen, die sich die Bosse gesetzt haben, um einen neuen Trainer zu präsentieren. Im Haifischbecken der größten Unternehmen dieser Branche wirkt der FC Bayern wie ein mittelständischer Betrieb, der nicht nur im Ist-Zustand schwimmt und die Sonne genießt, sondern zusätzlich gar nicht merkt, dass sich die Dinge speziell in den letzten vier Jahren extrem verändert haben.

Escher beschreibt den Trainerberuf als „das kleine Rädchen im Zahnradgetriebe Fußball, um das sich alle anderen Rädchen drehen“. Früher war die Rolle des Trainers auch schon relativ zentral, doch heute ist sie wichtiger denn je. Sie sind nicht nur das Werkzeug, mit dem eine vorgegebene Strategie umgesetzt wird, sondern sie geben sie häufig auch selbst vor. Eine kluge Trainerentscheidung kann dazu führen, dass ein ganzer Klub plötzlich erfolgreich ist.

Als van Gaal nach München kam, war der FC Bayern ein großer Haufen mit Individualisten. Nach van Gaals Entlassung fand Heynckes etwas vor, das weit über gute Einzelspieler hinaus ging: eine Philosophie auf der er aufbauen konnte.

Der Klub bremst sich selbst aus

Auch in England hat man mittlerweile begriffen, dass Geld zwar wichtig ist, doch ohne Konzept und Strategie nicht viel geht. Die besten Trainer der Welt wurden verpflichtet, um den Klubs fußballerische Ideen zu vermitteln, und siehe da: ein englischer Klub wird mindestens im Halbfinale der UEFA Champions League stehen. Wenn Liverpool und Manchester City nicht direkt aufeinander treffen würden, wäre die Chance auf mehr gar nicht so gering.

Auch woanders ist lange nicht alles Gold, was glänzt. Im Viertelfinale der Champions League gibt es bis auf Barcelona und Manchester City kein Team, das signifikant überzeugender spielt als die Bayern. Und doch wird gerade an diesen beiden Mannschaften deutlich, was eine moderne Strategie ausmacht: taktische Vorgaben, Automatismen, aber auch Flexibilität und die Möglichkeit, auf mehrere Szenarien eine passende Antwort zu finden. Sie wollen selbst bestimmen, wie ein Spiel und die gesamte Entwicklung laufen.

Die Bayern hingegen sind seit 2016 auf allen Ebenen nur noch damit beschäftigt, zu reagieren. Wurde zwischen 2009 und 2016 hauptsächlich agiert, verrennen die Bosse sich derzeit darin, ihre eigenen Unzulänglichkeiten ständig korrigieren zu müssen.

Zur kompletten Geschichte zählt immer auch, dass es Hoeneß höchstpersönlich war, der den enormen Standortvorteil einer übergeordneten Strategie 2009 (mit van Gaal) und 2012 (mit Guardiola) mehr oder weniger bewusst einleitete. Und doch ist es jetzt ebenfalls Hoeneß, der wie kein Zweiter im Verein für eine ausbleibende Modernisierung steht.

Seit seiner Rückkehr verließen nicht nur Reschke und Sammer den Verein. Eberl, Kahn, Lahm und jetzt auch Tuchel sagten den Münchnern aus verschiedensten Gründen ab. Alles, was von innen nach außen drängt, deutet darauf hin, dass Hoeneß‘ Rückkehr ins operative Geschäft den Verein zunehmend spaltet, verlangsamt und tatsächlich so auch behindert. Eine Modernisierung rückt damit in weite Ferne.

Hoeneß ist intern längst nicht mehr unumstritten. Zwar ist die Rückendeckung immer noch riesig, doch schon Anfang 2018 ließ sich nicht mehr verstecken, dass auch das Verhältnis zu Rummenigge extrem gelitten hat. Der wiederum hatte seine vielleicht beste Zeit, als Hoeneß nicht da war.

Selten funktionierte der FC Bayern so ruhig, gelassen und doch effektiv. Davon ist jetzt nicht mehr viel zu sehen. Das Beispiel Tuchel ist stellvertretend dafür. Schon Ende des letzten Jahres hieß es, dass die Bosse Gespräche mit dem Trainer führten. Spätestens seit Januar wäre genügend Zeit gewesen, eine Entscheidung pro oder contra Tuchel zu treffen. Dass sie nun aus der Hektik eine Absage auf eine Anfrage erhielten, spricht nicht dafür, dass dem Klub die Wichtigkeit einer strategischen Ausrichtung bewusst ist.

Es geht auch gar nicht darum, Tuchel jetzt als bestmögliche Lösung zu verkaufen. Das wirklich beängstigende an der Causa ist der Ablauf dahinter. Während der eine Teil des Vereins von Anfang an dafür war, hing man auf der anderen Seite beim Gedanken einer erneuten Heynckes-Verlängerung fest. Schnell wurde deutlich, dass es kein Stück darum ging, ob Tuchel in ein erstelltes Profil passen würde, sondern nur darum, wessen Bauchgefühl gerade richtig ist.

Auch die Personalie Heynckes sorgte für interne Differenzen.
(Foto: Sebastian Widmann / Bongarts / Getty Images)

Nicht absehbare Entwicklung

Auch über die Verhandlungen mit beispielsweise Lahm wurde von verschiedenen Quellen berichtet, dass sich die Bosse uneinig waren. Es drang durch, dass Rummenigge den Klub damals gern gemeinsam mit dem ehemaligen Kapitän neu ausgerichtet hätte. Schon 2009 war es Lahm, der eine fehlende Philosophie kritisierte.

Der FC Bayern beschränkt sich bei seiner Suche lieber auf Sprache, Sympathien und Erfahrung, als nach der strategisch kompetentesten Lösung zu suchen. Es ist ein Jammer, dass ausgerechnet der Klub, der 2016 eine so herausragende Ausgangslage hatte, scheinbar keine Idee hat, wohin es mittel- und langfristig gehen soll.

Dass ausgerechnet Hasan Salihamidžić aktuell derjenige ist, der einen klaren Plan verfolgt, ist fast schon ironisch. Der von Anfang an viel kritisierte Sportdirektor verhält sich nicht nur am souveränsten, sondern arbeitet bereits akribisch an seinen Vorstellungen, die den FC Bayern für die Zukunft ausrichten sollen. Eine Neuorganisation des Scoutingbereichs rund um Chefscout Neppe stellt den Anfang dar.

Dass er gleichzeitig aber damit zu tun hat, zwischen Rummenigge und Hoeneß als Bindeglied zu dienen, bremst auch ihn aus. Ajax Amsterdam ist ein prominentes Beispiel, wie ein Topklub an internen Konflikten und Machtspielchen für lange Zeit von Europas großer Bühne verschwand. Ganz so dramatisch ist es beim FC Bayern im Moment zwar nicht, doch die ungewisse Zukunft in allen Bereichen bereitet Sorgenfalten.

Und genau dahin muss der Blick jetzt gerichtet werden. Es nützt nichts, in der Vergangenheit zu versinken, und noch weniger sinnvoll ist es, die Gegenwart weiter durchzuanalysieren. Trotz allem ist die Ausgangslage des Klubs noch keine dramatische.

Der Kader bietet eine gute Grundlage, die Verträge der Schlüsselspieler sind noch lange gültig und die Chancen sind in allen Wettbewerben da, Großes zu erreichen. In den nächsten Wochen und Monaten ist es an der Zeit, ein letztes mal zu reagieren und dann wieder zu agieren. Die nächste Trainerentscheidung ist mit die Wichtigste seit van Gaal.

Wer auch immer dann an der Seitenlinie steht, wird das Erbe des dominanten Ballbesitzfußballs weiterführen, ergänzen, oder umkrempeln müssen. Er sollte nicht nur einen personellen Umbruch gestalten, sondern für etwas stehen. Im Idealfall für etwas, was den Klub wieder prägen kann. Der FC Bayern sucht am Ende einer Ära quasi den neuen van Gaal.

Stand März 2018 sieht der FC Bayern die Notwendigkeit für eine Ausarbeitung und Organisation der sportlichen Zukunft aber einfach nicht. Vieles läuft wieder mal auf den Zufall hinaus.

Das zeigt sich auch am Jugendbereich, der gleich mit zwei großen Problemen zu kämpfen hat: zunächst die Tatsache, dass mit Tim Walter und Holger Seitz zwei sehr erfolgreiche Trainer noch keinen neuen Vertrag erhalten haben, und im Sommer damit arbeitslos wären. Und dann ist es so, dass die verschiedenen Verantwortlichen im Campus unterschiedliche Vorstellungen von Fußball haben.

Es ist sicher nicht kontraproduktiv, wenn die Spieler verschiedene Systeme lernen. Der Fußball wird ohnehin immer flexibler. Dennoch gibt es auch da keinen wirklich einheitlichen Plan, wie man den Talenten den besten Weg nach oben ermöglicht.

Die Zukunft ist jetzt

Dieses Problem zieht sich durch den ganzen Klub. Für welchen Fußball will der FC Bayern stehen? Welche Trainer sind dafür verfügbar? Welche Spieler benötigen sie dafür? All das scheint keine Rolle (mehr) zu spielen.

Der einst größte Vorteil im europäischen Konkurrenzkampf ist bis auf weiteres weg. Es mag eine These sein, die kontrovers diskutiert werden kann, doch schafft der FC Bayern es nicht bald, dem gesamten Klub eine Wegbeschreibung an die Hand zu geben, wird es von Saison zu Saison immer utopischer, den hohen Ansprüchen gerecht zu werden.

Es ist nach wie vor nicht damit zu rechnen, dass einer der beiden Bosse auch nur ein Stück seiner Macht abgeben wird. Umso wichtiger wäre es, dass sie selbst verstehen, dass dem FC Bayern eine Modernisierung gut zu Gesicht stünde – in allen Bereichen. Das Bewusstsein darüber, dass es nicht mehr reicht, von einen auf den nächsten Tag zu denken, muss wieder wachsen. Leider ist die Wahrscheinlichkeit nicht allzu groß, dass dieser Sprung über den eigenen Schatten gelingt.

Zwar gibt es immer noch viele Fans, die den Medien eine Agenda unterstellen wollen, doch die Indizien, die von so vielen unabhängigen Quellen in den letzten Jahren aufgezeigt wurden, lassen darauf schließen, dass der Klub sich in einer gefährlichen Situation befindet. Diese betrifft vor allem die internationalen Ansprüche und Zielsetzungen.

Um es abschließend noch einmal klar zu formulieren: Spricht man in der Vergangenheit und Aktualität vom FC Bayern, wirkt ein solcher Artikel vielleicht etwas voreilig und übertrieben. Erst recht für Außenstehende. Doch bedenkt man, was nach 2016 möglich war, und welche Aufgaben dem Klub in den nächsten Jahren bevorstehen, wird erstmal deutlich, dass bis heute sehr viel Potential verschenkt wurde.

Und dann wird zumindest mir klar, dass beim FC Bayern im Moment nur an der Oberfläche alles gut ist. Noch ist ein Turnaround möglich, doch die Zukunft beginnt jetzt, und die Arbeit daran startet viel zu spät. Wenn sie denn überhaupt startet.