Thomas Müller 710: Der Raumdeuter
„Mich hat Thomas als Sturmpartner in vielerlei Hinsicht fasziniert“, wird Robert Lewandowski vom FC Bayern zitiert: „Am meisten: Er ist der perfekte Multitasker.“ Wohl kaum jemand hat in der Karriere von Thomas Müller mehr von dessen Fähigkeiten profitiert, als der Pole.
Hier geht’s zur Übersichtsseite der Serie
Mit dem Begriff „Multitasker“ trifft er es aber auf den Punkt. Auch wenn sich Lewandowski auf die Fähigkeit bezieht, Ansagen zu machen und selbst noch richtig zu handeln, ist Müller gleich in mehrfacher Hinsicht ein perfekter Multitasker.
KEINEN ARTIKEL MEHR VERPASSEN – JETZT UNSEREN WHATSAPP-KANAL ABONNIEREN!
Einer, der in seiner Karriere oft sehr seltsam bewertet und beobachtet wurde. Unter dem Sammelbegriff „typisch Müller“ sammelten sich über die Jahre Einschätzungen zu Aktionen, in denen der gebürtige Oberbayer Tore erzielte oder vorbereitete, die nahezu zufällig aussahen oder daherkamen. Unter anderem wurde Müller daher häufig als „unorthodox“ bezeichnet.
„Ich bin eigentlich kein Fan davon, Müllers Laufwege als ‚unorthodox‘ zu bezeichnen, weil das am Kern der Sache völlig vorbeigeht“, schrieb Trainer und Autor Martin Rafelt 2021 in einem Blogbeitrag für Spielverlagerung: „Es suggeriert, Müllers Stärke wäre ein Überraschungseffekt und eine Seltsamkeit, die in irgendeiner Weise sogar unlogisch wäre. Es schwingt sogar ein bisschen mit, Müllers Erfolg wäre glücklich und seine Spielweise ‚eigentlich‘ falsch.“
Müller aber bewege sich hochgradig logisch.
Thomas Müller: Meister der Laufwege
Das hat er auch im Alter von 34 Jahren bei seinem Rekordspiel gegen den SC Freiburg nochmal unter Beweis stellen können. Vor seinem Treffer zum 2:0 deutete er einen Laufweg in die Tiefe an, um sich dann im Rücken seines Gegenspielers Platz zu verschaffen, indem er die Richtung änderte. Er habe „einen Lauf gemacht, den hat mein früherer Förderer den ‚Van-Basten-Lauf‘ genannt“, sagte Müller hinterher bei DAZN.
Sein früherer Förderer, das war in dem Fall Louis van Gaal. Der Niederländer war der erste Trainer im Profibereich, der die Qualitäten von Müller erkannte. Der „Raumdeuter“, wie er später getauft wurde, ist der Meister der Laufwege. Er ist in der Lage, vor allen anderen zu erkennen, wie sich eine Spielsituation entwickeln wird.
Dementsprechend bewegt er sich auf dem Platz auch, um sich selbst oder seine Mitspieler in die entsprechenden Räume zu bekommen. Eine Fähigkeit, die im Weltfußball in der Konstanz einzigartig ist. Meister der Laufwege.
Thomas Müller: Meister der Anlaufwege
Einzigartig ist auch die Qualität, die er im Anlaufverhalten hat. Hier kommt die Multitasking-Aussage von Lewandowski ins Spiel. Müller ist unglaublich talentiert darin, den Rhythmus des Pressings in der Offensive zu bestimmen. Das gelingt ihm einerseits dadurch, dass er Mitspieler dirigiert und sie in die entsprechenden Positionen bringt. Andererseits bewegt er sich selbst sehr klug.
Müller weiß genau, wann man einen gegnerischen Spielaufbau nur zustellen muss und wann es an der Zeit ist, druckvoll nach vorn zu attackieren. Müller war so ein absoluter Schlüsselspieler unter Hansi Flick, der auf ein zeitweise absurd hohes Pressing setzte. Aber auch unter anderen Trainern war der Stürmer stets derjenige, der das Spiel gegen den Ball kontrollierte.
Erst in den letzten Jahren wussten viele dieses Spielverständnis und die Antizipation richtig einzuordnen. Geht es darum, die besten Spieler der Welt zu nennen, assoziieren viele damit zunächst jene, die wahlweise die meisten Tore schießen oder die besonders gut im Umgang mit dem Ball sind.
„Lionel Messi ist der König des Dribblings, Kevin De Bruyne der des Passes“, schrieb Rafelt für den Spiegel: „Und Müller der ohne Ball. Er ist die Messlatte dafür, für Dribblings Raum zu öffnen und für Pässe Anspielmöglichkeiten zu bieten.“ Außerdem ist er die Messlatte dafür, das gegnerische Spiel im Ansatz zu zerstören.
Der Meister der Anlaufwege.
Thomas Müller: Meister des Coachings
All das ist eng damit verknüpft, dass Müller ständig auf Fortbildung ist, wie er es jüngst selbst bezeichnete. Sein Spiel ist oft intuitiv, wie sollte es im Fußball auch anders sein? Aber es ist ebenfalls sehr oft kalkuliert.
Allein Müllers Interviews zeigen häufig, wie analytisch er denkt. Viele seiner Mitstreiter sehen ihn deshalb in Zukunft auch als Trainer. Schon jetzt zeigt er auf dem Platz regelmäßig, wie gut er darin ist, andere zu coachen.
Müller versteht das Spiel, er kann es beliebig lesen und darauf reagieren. Er ist der Meister des Coachings.
Thomas Müller: Meister der Überraschung
All die genannten Fähigkeiten machen Müller schon zu einem Weltklassespieler. Doch da ist noch ein weiterer Bereich, der bei ihm häufig unterschätzt wird: Technik. Müllers Aktionen sehen nicht selten etwas eigenartig aus. Vielleicht liegt es daran, dass er recht schlaksig daherkommt.
Doch nimmt man allein das 2:0 gegen Freiburg am Sonntag als Beispiel, dann war das technisch herausragend. Wie Müller den Ball aus der Luft heraus kontrolliert und dann im Tor unterbringt, verdient höchste Anerkennung. Ein Weltklasse-Tor.
Auch längst keine Ausnahme. Trotzdem wird ihm nicht selten unterstellt, er sei fußballerisch nicht auf höchstem Niveau. In jedem Spielsystem und unter jedem Trainer hat er bisher das Gegenteil beweisen können. Müller ist kein Ribéry, aber er kann überdurchschnittlich gut mit dem Ball umgehen. Damit ist er irgendwie auch der Meister der Überraschung, weil nicht alle auf dem Schirm haben, wie gut er eigentlich technisch ist.
Thomas Müller: Meister der Antizipation – und der Double-Doubles
An der einen oder anderen Stelle wurde es bereits erwähnt, doch einfach um es auch nochmal auszuformulieren: Müller hat eine unglaubliche Antizipation. In der Dokumentation „Wir Weltmeister. Abenteuer Fußball-WM 2014“ hat er über ein sehr besonderes Tor gesprochen. Gegen Portugal flog der Ball hoch in den Strafraum. Verteidiger Bruno Alves will klären, schießt dabei Müller an und der trifft.
Zufall? Sicher nicht. „Eines meiner Lieblingstore in meiner Karriere“, so die FCB-Legende: „Weil es eine meiner großen Stärken zeigt, die mir auch immer wieder veranschaulichen, wieso ich im Weltfußball gut funktioniere.“
Die Erklärung: „Normalerweise willst du als Stürmer bei einer Flanke natürlich zuerst am Ball sein. Ich habe aber sofort erkannt, dass ich nicht zuerst an den Ball komme und habe handlungsschnell sofort entschieden, ich gehe nicht auf den Ballkontakt, sondern ich sehe, der andere kommt dran und ich gehe auf den Block. Das heißt, ich habe bewusst den Klärungsversuch des Portugiesen geblockt.“ Ein bisschen Glück gehörte dazu, doch Müller wurde belohnt.
Es ist dieser Riecher, diese Qualität, diese Antizipation, die ihn zu einem der erfolgreichsten Scorer in der Geschichte des FC Bayern machen. In den 710 Pflichtspielen sind es bereits 245 Tore und 269 Assists. Wer den Miasanrot-Podcast aufmerksam verfolgt, kennt die obere und untere Weltklasse. Ist Müller die unterschätzte Weltklasse? Er war es zumindest sehr lange.
Tatsächlich zählt er aber zum Besten, was der Weltfußball zu bieten hatte und hat. Müller kam in den letzten beiden Spielzeiten auf 19 und 20 Torbeteiligungen. Sonst kam er immer auf mindestens 25, in elf Spielzeiten auf mindestens 30, in vier auf 40 oder mehr. In 15 Saisons gelang ihm auf alle Wettbewerbe gesehen elfmal das Double-Double – also mindestens zehn Assists und mindestens zehn Tore.
Müller ist der Meister.
Hier weiterlesen