Spiel des Lebens #04: Gelb gegen Rot in gelb und rot

Christian Trenner 29.12.2019

Die Situation vor dem Spiel

Nach 27 Spieltagen der Saison 2000/01 herrschte Hochspannung in der Bundesliga. Platz eins bis sechs waren gerade einmal drei Punkte auseinander. Einen Punkt hinter Tabellenführer FC Bayern lauerte Borussia Dortmund. Auf den Plätzen danach Schalke, Leverkusen, Hertha BSC und Kaiserslautern – alle mit 46 Zählern.

Bayern hatte zuvor das Heimspiel gegen Werder Bremen verdient mit 2:3 verloren. Dabei rotierte Trainer Hitzfeld, um Kräfte für das wichtige Viertelfinal-Hinspiel der Champions League zu schonen. Beim Finalgegner 1999, Manchester United, standen dann auch Andersson, Lizarazu, Salihamidžić, Scholl und Jancker wieder in der Startelf. Mit einer starken Defensivleistung und gelegentlichen offensiven Nadelstichen hatten die Bayern um den überragenden Abräumer Jens Jeremies an der Seite von Stefan Effenberg einen großen Schritt in Richtung Halbfinale gemacht. Ein erneutes Champions-League-Finale nach dem Trauma 1999 war möglich.

Mit breiter Brust reisten die Bayern zum nächsten Top-Gegner Borussia Dortmund. Für beide Mannschaften ging es am 7. April 2001 um die Titelchance. Schiedsrichter Hartmut Strampe ahnte Ungemach, da er von „vornherein gespürt hat, dass irgendetwas mit diesem Spiel nicht stimmte. Man sieht Spieler wie Oliver Kahn, Stefan Effenberg oder Jens Jeremies und merkt ihre Anspannung und Aggressivität.“

Falls Ihr es verpasst habt

Die Aufstellungen

Beim BVB konnte Trainer Sammer bis auf den angeschlagenen Jürgen Kohler eine eingespielte Top-Elf bringen. Vor Jens Lehmann verteidigten Wörns, Metzelder und Oliseh in einer Dreierkette, die situativ über Außen von Evanilson und Dede verstärkt werden konnte. Das Herzstück des BVB bildeten Lars Ricken und Tomas Rosicky, unterstützt von Jörg Heinrich. Im Sturm sollte Otto Addo Räume aufreißen für Stoßstürmer Fredi Bobic.

Bayern-Trainer Hitzfeld überraschte mit Roque Santa Cruz neben Giovane Elber – Carsten Jancker erhielt nach dem Spiel in Old Trafford einen Bankplatz, ebenso wie Paulo Sergio, der in Manchester noch das Siegtor geschossen hatte. Von diesen Personalien abgesehen, spielte wie erwartet bei den Bayern die Viererkette mit Lizarazu, Linke, Andersson und Kuffour. Davor das perfekt harmonierende Duo Effenberg und Jeremies, unterstützt vom Dauerläufer Salihamidžić. Weiter vorne sollte Mehmet Scholl als Freigeist die Stürmer mit Zuspielen versorgen.

Erste Halbzeit

Die Stimmung im Westfalenstadion war von Anfang an sehr hitzig. Minutenlang wurde jeder Ballkontakt der Bayern von einem Pfeifkonzert begleitet. Ich stand direkt hinterm Tor des Gästeblocks und verstand kaum mein eigenes Wort. Den Spielern auf dem Platz vor mir wird es nicht anders ergangen sein. In dieser aufgeladenen Atmosphäre spielten Elber und Lizarazu plötzlich einen feinen Doppelpass. Lizarazu überlupfte Evanilson und spielte cool auf Santa Cruz, der rechts unten einnetzte. Eskalation im Gästeblock und erste Meistergesänge.

Vom Dortmunder Publikum nach vorne gepeitscht, versuchte der BVB das Spiel an sich zu ziehen. Die Partie spielte sich überwiegend im Mittelfeld ab, da beide Defensivreihen aufmerksam waren. Früh zeigt Schiedsrichter Strampe dann die ersten beiden gelben Karten gegen Bixente Lizarazu und Sammy Kuffour. Es war der eigentliche Beginn eines denkwürdigen Nachmittags. Sowohl beide Mannschaften, als auch Schiedsrichter Hartmut Strampe verloren immer mehr die Kontrolle über das Spiel. Otto Addo und Giovane Elber beharkten sich – beide mit gelb bestraft. Kurz danach sah Bixente Lizarazu dann erneut gelb – und damit gelb-rot. Die Ampelkarte fürs kurze Halten von Rosicky war sicher regelkonform. Ich hatte jedoch den Eindruck, dass Strampe mit einer letzten strengen Ermahnung einen Führungsspieler noch auf seine Seite hätte kriegen und damit das Spiel beruhigen können. Zumal die erste gelbe Karte für Lizarazu schon eine harte Entscheidung gewesen war. Doch das Gegenteil passierte. Vor der Pause zeigte Strampe noch Oliseh und Linke Gelb. In einer mittlerweile total zerfahrenen Partie schafften es 10 Bayern, die Dortmunder auf Distanz zum Tor zu halten. Dennoch befürchteten die Bayernfans zur Halbzeitpause, dass der Mannschaft nach der englischen Woche die Kräfte schwinden könnten. Mit einem Sieg rechnete trotz Halbzeitführung niemand so wirklich.

Es gab Gesprächsbedarf mit Schiedsrichter Hartmut Strampe.
(Foto: Bongarts/Getty Images)

Zweite Halbzeit

Die zweite Halbzeit begann turbulent, geradezu chaotisch: Innerhalb weniger Minuten schoss Dortmund zwei Tore. Beide wurden wegen Abseits nicht gegeben. Zumindest beim ersten Tor eine Fehlentscheidung. Doch Dortmund ließ nicht locker: Dedes Freistoß erreichte Ricken auf rechts, der direkt vors Tor flankte, wo Bobic gedankenschneller als Kuffour reagierte: 1:1. Bayern in Unterzahl und noch fast 40 Minuten zu spielen.

Unmittelbar nach dem Ausgleich sah Salihamidžić Gelb, nur eine Minute später ein aus meiner Sicht eher leichter Bodycheck von Kapitän Effenberg. Man kann dafür Gelb zeigen. Aber Strampe zeigte glatt rot. Der zweite Platzverweis für die Bayern.

1:1 x (9-11): Für Mathematiker Hitzfeld gab es bei dieser Rechnung nur einen Lösungsweg: Unentschieden über die Zeit retten und Beton anrühren. Sagnol kam für Santa Cruz. Es begann nun die längste kartenlose Zeit des Spiels: 20 Minuten versuchte Dortmund in Führung zugehen, doch es fiel ihnen nichts ein. Oli Kahn hatte trotz zweifacher Unterzahl kaum etwas zu tun. Einmal schoss Oliseh aus der Distanz an die Latte, sonst passierte spielerisch nicht viel. Die Bayern ließen sich jedoch trotz der beiden Platzverweise zu weiteren Unsportlichkeiten und Fouls hinreißen und sahen drei weitere gelbe Karten.

Es war spielerisch ein mieses Topspiel, das aber aufgrund der Unterzahl, des Spielstandes und der Tabellensituation hochspannend war. In der 90. Minute gab es noch einmal Freistoß für Dortmund aus aussichtsreicher Position. Rosicky legte sich den Ball zurecht, die Stimmung hinterm Tor von Oli Kahn werde ich nie vergessen: Ein infernalisches Pfeifkonzert der Bayernfans, Bengalos wurden gezündet. In einer rötlich-vernebelten Wolke standen wir Fans und Oli Kahn in einem gemeinsamen Raum, sahen gemeinsam Rosickys Ball fliegen, fassungslos Richtung ungeschützte Ecke des Tores. Doch der Ball klatschte an den Innenpfosten, sprang von dort unmittelbar vor der Torlinie auf und direkt in die Arme von Kahn. Der Titan fiel auf die Knie, eine Jubel-Faust in die Luft gestreckt – und wir Fans lagen uns in den Armen. Wir waren uns sicher: Dieses Spiel würden wir nicht verlieren und die Meisterschaft 2001 sicher gewinnen. Dortmund war frustriert, Evanilson sah nach einem brutalen Tritt in der Nachspielzeit noch die rote Karte.

Dinge, die auffielen

Normalerweise wird hier über Fußball geschrieben. Über besondere taktische Erkenntnisse oder herausragende Einzelleistungen. Doch nach diesem Spiel im April 2001 blieb nichts Fußballerisches übrig. Das Thema waren Schiedsrichter Strampe und die Karten. Zwei Rote, eine Gelb-Rote Karte und elf gelbe Karten führten zum heftigsten, kartenreichsten Bundesligaspiel aller Zeiten. Ein schlimmer Rekord, der auch 18 Jahre später noch gültig sein sollte. Warum eskalierte diese Begegnung so? Welche Rolle spielte der Schiedsrichter dabei?

Für Uli Hoeneß gab es nur einen Schuldigen: „Ich habe noch nie ein Spiel gesehen, in dem der Schiedsrichter von der 1. bis 95 Minute so viele Fehler gemacht hat, mindestens 50!“

Strampe selbst sah bei sich „keine groben Fehlentscheidungen“, konstatierte verwundert: „Ab einem gewissen Zeitpunkt spürte ich, dass die Spieler auf die Karten nicht mehr reagierten. Der einzige Spieler, den ich in der Partie noch normal ansprechen konnte, war Mehmet Scholl. An den Rest kam ich nicht mehr heran.“

„Ich glaube, es war heute Werbung für Emotionen, nicht für Fußball.“ Oliver Kahn, Fußballphilosoph
(Bild: Bongarts/Getty Images)

Oliver Kahn nahm die Mannschaft für ihre überharte und unsportliche Spielweise aus der Verantwortung: „Es hat viel Spaß gemacht heute, besser, als wenn man nichts zu tun bekommt! Ich glaube, es war heute Werbung für Emotionen, nicht für Fußball. Der Freistoß von Rosicky an den Pfosten war so ein Zeichen, dass es Dortmund nicht verdient hat zu gewinnen. Wir sind aus Manchester gekommen, da wird internationaler Fußball gespielt. Heute wurde jede Situation abgepfiffen. Da müssen wir uns nicht wundern, wenn Deutschland einen Platz im internationalen Vergleich verliert!“

Auch der Dortmunder Bobic kritisierte den Schiedsrichter. Der BVB war zwar bei dem Kartengewitter deutlich glimpflicher davongekommen als der FCB, fühlte sich aber benachteiligt wegen des zu unrecht aberkannten Tores in der 47. Minute: „Zum Schiri könnte ich noch viel mehr sagen, so richtig reinhacken, aber dann würde der Amerell vom Stuhl fallen!“    

Überraschend fair äußerte sich der vom Platz gestellte Stefan Effenberg: „Es war sehr hektisch und es waren sehr viel Emotionen im Spiel. Es war klar, dass es hoch her geht, das wusste auch der Schiri. Der hat es heute nicht leicht gehabt. Bei meinem Foul wollte ich den Ball blocken, und dann fällt der Brasilianer natürlich sehr schön!“ Mehmet Scholl, der sich während des Spiels aus den meisten Scharmützeln rausgehalten hatte, nahm Strampe in Schutz: „Ich möchte mich an der ganzen Kritik hier nicht beteiligen. Schiris sind auch nur Menschen.“ 

Im Stadion und in den Tagen danach war ich als Bayern-Fan natürlich empört über die Kartenflut gegen unsere Rothosen. Für mich hatte Strampe das Spiel total verpfiffen. Mit etwas Abstand muss ich aber zugeben, dass zwar die rote Karte für Effenberg viel zu hart war, aber fast alle gelben Karten berechtigt waren. Bayern hatte sich durch Undiszipliniertheiten wie Ball wegschlagen, ständige Rudelbildungen und überharte Aktionen das Leben selbst schwer gemacht.

Hartmut Strampe sollte übrigens, wie von Uli Hoeneß nach dem Spiel gefordert, nie wieder den FC Bayern pfeifen.

Die Bedeutung des Spiels

Dieses Spiel habe ich nicht nur wegen des historischen Kartenrekords ausgewählt. Es war in meinen Augen das psychologisch entscheidende Spiel der Saison, die mit dem Champions-League-Triumph in Mailand und der Last-Second-Meisterschaft in Hamburg enden sollte. Die Mannschaft war durch eine Schlacht gegangen, hatte in Dortmund mit Kampf und Glück die Tabellenführung verteidigt. Die Bayern waren damals eher rustikal besetzt, spielerisch sicher nicht auf Top-Niveau. Aber dem Kampfgeist und Selbstbewusstsein dieses legendären Teams war kein Gegner gewachsen.

Vor 18 Jahren war der Fußball der Bayern ein völlig anderer als in den letzten 10 Jahren. Es war weniger ansehnlich, es war spieltaktisch ärmer – aber es war begeisternd und auf besondere Art mitreißend. Das Duell in Dortmund, ein wahrer „Krassico“, steht exemplarisch für diese erfolgreiche Zeit in der Geschichte des FC Bayern.