Spiel des Lebens #03: Mia san wieder wer!

Georg Trenner 27.12.2019

16. April 1996, Barcelona. Der FC Barcelona empfing den FC Bayern München zum Rückspiel im Halbfinale des UEFA-Cups. Um ins Finale einzuziehen, brauchte der FC Bayern ein hohes Unentschieden oder einen Auswärtssieg vor 115.000 Zuschauern im Camp Nou, wo der FC Barcelona in europäischen Wettbewerben seit 1992 kein Heimspiel verloren hatte. 

Die beiden europäischen Schwergewichte trafen in diesem Halbfinale zum ersten Mal überhaupt in einem Pflichtspiel aufeinander. 

Zur Besonderheit des Spiels

Der FC Bayern Mitte der Neunziger – ein fast ganz normaler Verein

Die Neunziger. Fußballschuhe waren schwarz. Spieler in der Startelf trugen Rückennummern von 1 bis 11. Und der FC Bayern München stand zwar für Hollywood, sportlich aber nicht für Weltspitze.

Die glanzvollen Siebziger waren lange vergessen. Der Aderlass nach Italien ab Ende der Achtzigerjahre hatte Spuren hinterlassen und die Bundesliga insgesamt, vor allem aber die Bayern erheblich geschwächt. 

Für bayerische Verhältnisse sportlich enttäuschende Jahre

In fünf Jahren wurde der FC Bayern nur einmal Deutscher Meister. Auf einen Sieg im DFB-Pokal warteten die Bayern seit 1986, während überraschende Niederlagen gegen Amateurteams wie Weinheim, Homburg und Vestenbergsgreuth die sportlich enttäuschende Phase komplettieren. 

Auch in Europa machten die Bayern nicht durch sportliche Erfolge auf sich aufmerksam. 1991/92 schied man nach einem 2:6 gegen Kopenhagen in der zweiten Runde des UEFA-Cups aus. Im Folgejahr war man nicht qualifiziert, bevor 1993/94 gegen Norwich City erneut in der zweiten Runde Schluss war. 

1994/95 spielten die Bayern erstmals in der noch jungen Champions League. Eine ausgeglichene Bilanz in der Gruppenphase reichte für den Einzug ins Viertelfinale, wo man sich mit zwei Unentschieden gegen Göteborg durchsetzte. Louis van Gaals Ajax Amsterdam war im Halbfinale dann aber mehrere Nummern zu groß und schickte die Münchner mit 5:2 nach Hause. Trotz des leichten Weges dahin bedeutete der Halbfinaleinzug einen ersten Achtungserfolg. 

Und dann kommt Barcelona

Zu Beginn der Saison 1995/96 hatte mit Otto Rehhagel der fünfte Trainer in vier Jahren den FC Bayern den übernommen. Im UEFA-Cup führte er die Bayern nach einer Auftaktniederlage mit sieben Siegen in Folge souverän ins Halbfinale. 

Dort sollte der FC Barcelona warten. Johan Cruyffs Team war Anfang der Neunziger eines der Top-Teams in Europa: Von 1991 bis 94 wurden sie viermal in Folge spanischer Meister und standen 1992 und 94 im Finale des Europapokals der Landesmeister, den sie 1992 auch gewannen. 

Doch im Frühjahr 1996 schien Peak-Cruyff vorbei zu sein. Der Kader war immer noch hochklassig besetzt, aber die Abgänge von Stars wie Laudrup, Stoitschkow und Koeman konnten nicht kompensiert werden. In La Liga waren ein vierter Platz 1995 und ein dritter Platz 1996 die Folge. Beim FC Bayern glaubte man an eine Chance aufs Weiterkommen. 

Falls Ihr es verpasst habt

Die Aufstellungen

Johan Cruyff schickte seine Elf im gewohnten 4-3-3 aufs Feld, musste aber unter anderem auf den verletzten Pep Guardiola verzichten. Vor Busquets verteidigten Ferrer, Nadal, Popescu und Sergi Barjuán. Bakero spielte zentral vor der Abwehr und Amor und Roger García auf den Halbpositionen. Luís Figo als Rechtsaußen, Jordi Cruyff als fluider Mittelstürmer und Kodro als nomineller Linksaußen komplettierten die Elf. 

Otto Rehhagel setzte auf ein 3-5-2/3-6-1. Vor Kahn verteidigten Babbel, Kreuzer und Helmer in einer Dreierkette. Der etatmäßige Libero Matthäus blieb leicht angeschlagen auf der Bank. Hamann, Sforza, Nerlinger und Ziege bildeten eine Viererkette im Mittelfeld. Letzterer kümmerte sich als Manndecker um Figo, wodurch er situativ auf die Linie der Dreierkette zurückfiel. Scholl agierte mit vielen Freiheiten hinter der Doppelspitze Klinsmann und Witeczek. Gegen den Ball verschoben die Bayern zu einer 2-1-Staffelung, Scholl auf halbrechts und Witeczek auf halblinks unterstützen die One-Man-Pressing-Army Klinsmann. 

Erste Halbzeit

Die Bayern begannen konzentriert und pressten aggressiv, sodass Barcelona sich kaum entfalten konnte. Nach Ballgewinnen gelang es den Münchnern nicht, aus den Umschaltmomenten Kapital zu schlagen, die Bälle landeten schnell wieder bei Barcelona. Es dauerte bis zur 16. Minute als Kodro, mit dem Babbel anfangs einige Probleme hatte, nach Vorarbeit von Figo und Cruyff die erste nennenswerte Chance des Spiels hatte. 

Die Mannschaften neutralisierten sich weitgehend. Barça spielte im Aufbau geduldig, im ersten und zweiten Drittel liefen fast alle Angriffe über Popescu und Bakero, denen die Bayern zugunsten von mehr Kompaktheit im letzten Drittel Platz ließen. Die erste Chance für die Gäste vergab in der 23. Minute Ziege, der nach einem von Kahn eingeleiteten Konter über das Tor lupfte.

Barça überlud regelmäßig die rechte Seite, so auch in der 39. Minute, als Figo und Ferrer über außen nach vorne kombinierten. Hamann fing die Flanke ab und über zwei Stationen gelangt der Ball zu Witeczek, der sich in den Zehnerraum fallen gelassen hatte und von dort den Pass in die Lücke im Rücken von Figo und Ferrer spielte. Passempfänger Mehmet Scholl zog von dort an der Strafraumlinie entlang nach innen an Nadal vorbei und schoss in Robben-Manier aufs Tor. Busquets konnte nur abklatschen und der aufgerückte Babbel schob zur Gästeführung ein. 

Barcelona war vom Gegentor geschockt und taumelte in die Halbzeitpause. 

Zweite Halbzeit

Die Bayernführung war trügerisch. Ein Tor hätte Barcelona zum Weiterkommen gereicht. Im Wissen darum blieben die Katalanen auch in der zweiten Halbzeit geduldig – oder einfallslos. Immer wieder zirkulierte der Ball über Bakero und Popescu, aber fast nie gelang es den Hausherren, sich in gefährliche Zonen zu kombinieren. Einzig Figo bekamen die Bayern nie vollständig unter Kontrolle. In der 56. Minute dribbelte er an Ziege vorbei und legte von der Grundlinie ab auf Bakero. Dessen Schuss über das Tor war die bis dahin größte Chance für Barcelona.

Die Bayern ließen weiterhin fast nichts zu. Ein geblockter Schuss von Nadal aus 35 Metern war bezeichnend für die Verzweiflung von Barcelona. 

Es dauerte bis zur 83. Minute, als der bemühte Figo eine weitere Einzelaktion initiierte. 40 Meter vor dem Tor ließ er Nerlinger, Ziege und Helmer stehen, bevor Kreuzer seinen Schuss blockte. Der Ball sprang zu Scholl, der direkt zu Witeczek weiterleitete. Barças Konterabsicherung war erneut lückenhaft, sodass Witeczek unbedrängt 30 Meter Richtung Tor marschieren konnte. Nadal zögerte zu lange, kam nicht mehr in den Zweikampf und fälschte Witeczeks Schuss nur noch ab. Der Schuss erwischte Busquets auf dem falschen Fuß und schlug zum 0:2 ein. 

Barcelona hätte nun zwei Tore zum Erreichen der Verlängerung und drei Tore zum Einzug ins Finale gebraucht. Dafür sollte es nicht mehr reichen. In der 88. Minute verkürzte der eingewechselte de la Peña per Freistoß vom Strafraumeck zum 1:2. Der für Hamann eingewechselte Strunz hatte unhaltbar abgefälscht.

Nach 92 Minuten beendete der souveräne Schiedsrichter Atanas Ouzounov die Partie und der FC Bayern zog erstmals in der Vereinsgeschichte ins Finale des UEFA-Cups.

Dinge, die auffielen

1. Lionel Scholli und Xabi Sforza

Viele Bayernspieler hätten ein Sonderlob verdient, aber zwei stachen besonders heraus. 

Mehmet Scholl brauchte einige Anlaufzeit, ehe er ins Spiel fand. Vor Babbels 1:0 war in der ersten Halbzeit nicht viel von ihm zu sehen. Dafür umso mehr in der zweiten Halbzeit. Scholl war ein permanenter Unruheherd. Er leitete nicht nur beide Tore ein, sondern bereite weitere Chancen vor und kam zu eigenen Abschlüssen. Lägen Opta-Daten für das Spiel vor, könnte man wahrscheinlich zehn gewonnene Dribblings, fünf kreierte Chancen, drei Torschussvorlagen und zwei eigene Torschüssen nachlesen.

Nicht wenigen der guten Aktionen von Scholl gingen eine Balleroberung und eine überlegte Verlagerung von Ciriaco Sforza hervor. Rehhagel verglich Sforzas Rolle gerne mit der eines “Quarterbacks” im American Football. Vor der Abwehr sollte er das Spiel lesen, Bälle erobern und das Spiel gestalten. Gegen Barcelona gelang ihm das herausragend. Anfangs kippte er in die Dreierkette ab, um das Pressing Barcelonas auszuhebeln. Danach war er Ruhepol für seine jungen Nebenmänner und wägte klug ab, wann er schnell umschaltete und wann er das Spiel beruhigte. 

2. Taktisch hohes Niveau nicht nur der Barça-Schule 

Dafür, dass das Spiel vor mehr als 20 Jahren stattfand, war der Fußball überraschend modern. Es ist beeindruckend, wie stark Cruyffs damalige Handschrift noch heute in Barcelona zu erkennen ist. Der Aufbau bestand aus zahllosen Passstafetten und viele Ballaktionen im Sechserraum.

Darüber hinaus zeigte Barça interessante Überladungen: Ferrer und Figo gaben Breite auf dem rechten Flügel, Kodro schob von Linksaußen ins Sturmzentrum, und Jordi Cruyff ließ sich als Falscher Neuner nach rechts oder in den Zehnerraum fallen. Durch diese asymmetrische Formation bot sich für Sergi viel Platz auf der linken Seite, die er meist allein besetzte und nicht minder offensiv interpretierte wie Dani Alves oder Jordi Alba 15 Jahre später. 

Es war dieses von Johan Cruyff formierte Barça, an dem sich Pep Guardiola später als Trainer orientieren sollte. Fünf Jahre vorher hatte Cruyff den damals 19-jährigen Guardiola erstmals in der spanischen Liga eingesetzt und ihn danach zu seinem verlängerten Arm auf dem Spielfeld gemacht.

Auch die Bayern spielten modern. Phasen von hohem Angriffspressing wechselten sich mit Phasen ab, in denen man Barça etwas Raum gewährte. Nach Ballgewinnen schalteten die Bayern teils sehr schnell um, waren aber andererseits abgeklärt genug, um minutenlange Ballbesitzphasen einzustreuen. Gerade die Abwehrkette griff fast nie zum Befreiungsschlag, sondern war stets um spielerische Lösungen bemüht. 

Es wären allerdings nicht die Neunziger, und Otto wäre nicht Rehhagel, wenn es neben diesen modernen Ansätzen nicht auch klassische Manndeckungen gegeben hätte, wie man sie heute nur noch sehr selten sieht. So rückte Ziege Figo nicht von der Seite, selbst als dieser auf die linke Seite auswich. 

3. Historischer Sieg kann Rehhagel nicht retten 

Otto Rehhagel kommentierte den Sieg mit den Worten: “Das ist ein historischer Sieg für Bayern und ein historischer Tag für mich.”

Eine vertretbare Bewertung des Spiels. Die letzte europäische Finalteilnahme lag neun Jahre zurück, der letzte internationale Titel sogar 20 Jahre. 

Der Finaleinzug konnte Rehhagels Anstellung in München allerdings nicht retten. Er stand bereits fast die ganze Saison über in der Kritik, und nach einer Heimniederlage gegen Hansa Rostock wurde er schließlich unmittelbar vor dem Finale freigestellt. So hatte etwa Mehmet Scholl im Kicker Monate vorher kritisiert: “Fakt ist, wir spielen seit acht Wochen und haben noch immer keine Taktik. Wir stehen doch nur so gut da, weil wir so gute Einzelspieler haben.”

Präsident Franz Beckenbauer übernahm als Interimstrainer und heftete sich den von ihm einst als “Pokal der Verlierer” titulierten UEFA-Pokal ans Revers. 

Bedeutung für den Verein und die weitere Entwicklung

Die beiden Finalspiele im UEFA-Cup gegen Girondins Bordeaux sollten zur Formsache werden. Gernot Rohrs Team um die späteren Weltmeister Zidane, Lizarazu und Dugarry war nur Staffage zur Krönung der Rot-Weißen. Im Hinspiel im ausverkauften Olympiastadion siegten die Münchner durch Tore von Thomas Helmer und Mehmet Scholl souverän mit 2:0. Scholl war es auch, der für die Führung im Rückspiel in Bordeaux traf. Kostadinow erhöhte auf 2:0, ehe Dutuel zum Anschlusstreffer für die Franzosen sorgte. Jürgen Klinsmann setzte den Schlusspunkt zum 3:1. Der Treffer war sein insgesamt fünfzehntes Tor in der UEFA-Cup-Saison, womit er einen neuen Rekord im Wettbewerb aufstellte. Wettbewerbsübergreifend war er der erste Spieler seit Rummenigge, der im Bayerntrikot mehr als 30 Tore in einer Saison erzielte.

Mit dem Triumph komplettierte der FC Bayern seinen Briefkopf: Der FC Bayern München war neben Ajax Amsterdam und Juventus Turin der dritte Verein in Europa, der die drei großen Pokalwettbewerbe gewinnen konnte.

Zu einem eminent wichtigen Zeitpunkt setzte der FC Bayern ein Ausrufezeichen und schaffte den Anschluss an die europäische Spitze. Das Bosman-Urteil und die Champions League sorgten danach für eine Beschleunigung der Internationalisierung und Kommerzialisierung im Fußball, bei der der FC Bayern vorne dabei war.