Roundtable: Der Nagelsmann-Wechsel und die Folgen

Maurice Trenner 02.05.2021

Ist Vorfreude angebracht?

Mit Julian Nagelsmann kommt der jüngste Trainer seit Sören Lerby an die Säbener Straße. Wo steht der 33-Jährige in der Liste der Bayern-Coaches auf die ihr die größte Vorfreude verspürt habt?

Georg: Schöne Frage zum Einstieg. Pep wäre die offensichtliche und einfache Antwort. Aber ich gehe weiter in die Vergangenheit und sage Klinsmann. Rückblickend mag meine Wahl überraschen, aber damals stand Klinsmann für Modernität und Aufbruchstimmung. Die vorherige, zweite Hitzfeld-Amtszeit war eher träge und der FC Bayern in diesen Jahren seit dem Triumph 2001 nicht mehr ganz vorne in Europa dabei. Ich hoffte darauf, mit Klinsmann dahin zurückzukehren. 

Chris: Ich muss gestehen, dass ich eigentlich wenig Vorfreude verspüre, sondern viel mehr Respekt vor dem Wechsel. Jeder Wandel birgt Risiko und Chance. Für den FC Bayern lief mit Hansi Flick in den vergangenen 18 Monaten viel zusammen. Ungeahnte Erfolge gepaart mit oftmals schönen Fußball (gerade in den Spitzenspielen). Nagelsmann erbt ein intaktes Team und muss sich am Erfolg von Flick messen lassen. Daher verspüre ich vor allem Respekt. Eine Vorfreude hatte ich lediglich bei Pep Guardiola, obwohl das Risiko damals auch hoch war. 

Maurice: Die Vorfreude ist bei mir persönlich sehr groß. Nagelsmann kommt mit dem Versprechen die Kombination aus jugendlicher Frische, eines ausgeklügelten Taktikers und einem spielernahen Kommunikator zu sein. Wenn ich so an die jüngere Vergangenheit denke, dann ist er für mich tatsächlich sogar noch ein Stück über Pep, denn der kam bereits als gemachter Trainer nach München, während Nagelsmann der Hauch des unfertigen Übungsleiters auf allergrößter Bühne umgibt. Dass er diesen Schritt seiner Entwicklung nun beim größten deutschen Verein macht ist natürlich immens spannend für ihn, die Mannschaft und den Verein.

Quo vadis taktische Ausrichtung?

Nagelsmann wird in der Öffentlichkeit als Taktikgenie häufig in einem Atemzug mit Pep Guardiola oder Thomas Tuchel genannt. Welche taktischen Anpassungen können wir für die neue Saison erwarten? Steht die Abkehr von dem aggressiven Flick-Pressing oder die Rückkehr zum absoluten Ballbesitz von Guardiola bevor und was ist eigentlich mit der Dreierkette?

Justin: Ich glaube nicht, dass der FC Bayern sich unter Julian Nagelsmann stark verändern wird. Wozu auch? Nagelsmann weiß, dass die Mannschaft, so wie sie aufgetreten ist, erfolgreich war. Genauso weiß er aber darum, dass es in der Defensivabsicherung Probleme gab. Insofern erwarte ich schon einige Anpassungen – tatsächlich aber eher im Detail. 

Ein etwas strikteres Positionsspiel im Zentrum kann ich mir beispielsweise gut vorstellen. Flick hat den Raum zwischen Angriff und Abwehr recht flexibel und dynamisch besetzen lassen. Teilweise so dynamisch, dass für kurze Zeit große Löcher entstanden. Wurde der Ball im falschen Augenblick verloren, war die Gefahr da. Nagelsmann könnte womöglich mehr Wert auf das Einhalten von groben Abständen legen und noch penibler auf eine saubere Ballzirkulation achten. Ansonsten steht auch er für ein hohes Pressing, schnellen, vertikalen Offensivfußball und ein intensives Gegenpressing. 

Interessant wird indes, dass Nagelsmann bei seinen vorherigen Klubs auf sehr zentrumslastige Formationen und Systeme gesetzt hat. In München ist man seit jeher einen Flügelfokus gewohnt. 

Lucas Hernandez und Niklas Süle könnten unter Nagelsmann auch häufiger in einer Dreierkette agieren.
(Quelle: imago)

Oft wird die Frage gestellt, wie sich die Bayern unter ihrem neuen Coach verändern werden. Ich stelle mal eine Gegenfrage: Wie sehr wird sich Nagelsmann bei den Bayern anpassen und verändern? Guardiola war auch deshalb so erfolgreich, weil er sich den Gegebenheiten anpasste und Dinge zu schätzen lernte, die er mit seinem Barça-Team nie umgesetzt hätte. Ich denke schon, dass wir unter Nagelsmann mehr taktische Variation erleben und die Dreierkette ein Bestandteil davon sein wird. Allerdings würde es mich nicht wundern, wenn wir all seine Ideen weiterhin aus einer Viererkettenformation heraus erleben – zumindest in den meisten Partien. Für eine Dreierkette im Spielaufbau braucht es beispielsweise keine drei Innenverteidiger. 

In München hat Nagelsmann zudem eine individuelle Qualität zur Verfügung, die er zuvor noch nie hatte. Es wird nicht darum gehen, ihnen möglichst viele Systeme beizubringen, sondern ihre Stärken bestmöglich einzubinden. Deshalb kann ich mir gut vorstellen, dass die Dreierkette auf dem Papier – also mit drei echten Innenverteidigern – eher eine Handlungsalternative sein wird und nicht der Standard. Ich wage mal die Prognose, dass sich weniger ändern wird, als viele erwarten. Und zugleich erwarte ich dennoch mehr Flexibilität, was Rotation, Handlungsalternativen und Anpassungsfähigkeit angeht. 

Daniel: All die Jahre habe ich darüber gewitzelt, als die ganzen Dreierketten-Fantasten die wildesten Formationen aufzeichneten. Aber jetzt, mit Nagelsmann, ist tatsächlich die Zeit für die Dreierkette gekommen. Auch weil der FC Bayern schlicht den Kader dafür zu haben scheint. Viele Innenverteidiger, Mittelfeldspieler, die auch gerne mal offensiver agieren möchten, Halbraumstürmer mit Müller, Gnabry und Musiala. Links hat man sogar den perfekten Flügelläufer mit Davies, aber auch eine spannende Option mit Sané. Problematisch wird es nur mit dem rechten Wing-Back. Kann Coman das? Spannend.

Grundsätzlich erwarte ich mehr taktische Flexibilität und öfter Knobelaufgaben, wenn um 14:30 die Aufstellungen raus sind. Ansonsten wird sich denke ich gar nicht so viel verändern. Nagelsmann steht für RaBa-Schule und damit auch für aggressives Pressing, das hat er mit Flick gemein. Beim Ballbesitz erwarte ich mir einen Tacken mehr Fokus darauf. Schon alleine weil Nagelsmann die Defensive stabilisieren wollen wird, und wenn man selbst den Ball hat, kann der Gegner bekanntlich nicht treffen.

Georg: Die Kollegen haben es bereits angesprochen. Zentrumsfokus, Positionsspiel, Pressing. Und etwas mehr defensive Stabilität, die zulasten von Flicks Hyper-Offensive gehen dürfte. Personell könnte die oben angesprochene Dreierkette für spannende Konstellationen sorgen. Wenn die Flügel nur noch einfach besetzt sind, rechne ich mit einem harten Kampf um diese Plätze in der Startelf.

Chris: Ich erwarte ein eher pragmatischen Nagelsmann, der am Anfang den Flügelfokus und das Pressing weiterentwickeln wird. Ich erwarte also, dass die Grundausrichtung bestehen bleibt. Die Kaderzusammenstellung legt hierfür ja auch den Grundstein. Was ich mir vorstellen kann, ist eine Entwicklung eines “Plan B” bzw. “Plan C”. Hier könnte durchaus mehr Varianz zum Tragen kommen. Nagelsmann hat es in Leipzig verstanden, seinen ganzen Kader einzubinden. Ich könnte mir daher je nach Aufstellung taktisch unterschiedliche Ausprägungen vorstellen. 

Wer profitiert vom neuen Trainer?

Bei jedem Trainerwechsel gibt es Verlierer und Gewinner. Man denke nur an Müller unter Kovač und dann unter Flick. Wer könnte einer der größten Profiteure im Bayern-Kader unter dem neuen Coach werden?

Chris: Simpel ausgedrückt, alle Spieler, die jetzt hinten dran stehen, haben eine neue Chance. Am ehesten natürlich Herández und Nianzou, wobei hier die Abgänge von Alaba und Boateng ohnehin schon viel Wechsel reinbringen werden.

Sané geht in sein zweites Jahr. Bei ihm könnte ich mir einen Sprung vorstellen, der sich vor allem in Konstanz ausdrücken könnte. Ansonsten hat Nagelsmann mit Müller, Lewandowski und Neuer ältere Spieler, wo es spannend sein wird, wie sie unter Nagelsmann funktionieren und wie sie in den nächsten Jahren altern.

Maurice: Für mich lautet die Antwort hier Niklas Süle, der unter Hansi Flick etwas ins zweite Glied gerückt ist. Der wandelnde Kühlschrank läuft nach seiner langen Verletzung doch etwas seiner persönlichen Topform hinterher. Die Hoffnung bei mir – und sicherlich auch bei ihm – lautet, dass sein früher Mentor aus Hoffenheimer Tagen ihn wieder in die richtige Bahn bekommt. Ein Samba-Tänzer wird aus Süle in dem Leben zwar nicht mehr werden, doch vielleicht findet ihm Nagelsmann die passende Rolle in seinem System. Dabei wird es für Süle zum direkten Duell mit Neuzugang Upamecano kommen, den Nagelsmann aus Leipzig mitbringt und der dort der zentrale Verteidiger war.

Alex: Puh, das ist eine schwierige Frage, bei der ich stark aufs Spekulieren zurückgeworfen bin. Aufgrund seiner bisherigen Leistungen in diesem Bereich traue ich Julian Nagelsmann grundsätzlich zu, alle Spieler, mit denen er sich in einem täglichen Training auseinandersetzt, auf gutes Bundesliga-Niveau zu heben. Dies beinhaltet auch Bouna Sarr und Marc Roca, die ein Trainer wie Ancelotti bei Amtsantritt aus pragmatischen Gründen wahrscheinlich einfach aussortiert hätte (und wer könnte es ihm verübeln?). Von Nagelsmann allerdings glaube ich, dass er für sie – genau wie für jeden anderen auch – im Training eine gute, produktive Verwendung finden wird und sie so schlicht als logische Konsequenz einer vernünftigen Einbindung in den Mannschaftskörper sukzessive besser werden. 

Auf der anderen Seite glaube ich aber auch, dass es einige Spieler im aktuellen Bayern-Kader gibt, die langfristig auf die Verliererstraße geraten werden, ohne aber jetzt schon zu wissen, welche das sind. Denn auch solche Fälle hat es unter Nagelsmann in der Vergangenheit schon einige Male gegeben. Ademola Lookmann oder Jean-Kevin Augustin sind zwei solcher Spieler. Julian Nagelsmann hat bestimmte spielsystematische und disziplinarische Erwartungen an seine Spieler, denen sie gerecht werden müssen. Nicht jeder kann das oder möchte das oder fühlt sich immer gerecht behandelt, das bringt ein großer Kader voller diverser Persönlichkeiten mit sich. Und nicht bei jedem Spieler ist ein Scheitern unter Nagelsmann gleichbedeutend mit einem Ausweis mangelnder Qualität. Lookman beispielsweise spielt in Fulham gerade eine sehr gute Saison. 

Kurzum, unter Nagelsmann hat jeder der jetzigen Bankdrücker eine Chance, ein Profiteur des Wechsels auf der Trainerbank zu werden. Andererseits sollte sich aber auch niemand seiner Stellung im Team zu sicher sein, ein Mindestmaß an sich Einlassen wollen auf und Offenheit für den neuen Trainer und seine – manchmal nicht ganz leichten – Anforderungen ist auf jeden Fall gefordert.

Rotationsmaschine 2.0

In Leipzig hatte Nagelsmann den Luxus über einen extrem breiten Kader zu verfügen und dadurch mit viel Rotation die Stimmung in der Kabine hoch zu halten. In der bayerischen Landeshauptstadt hingegen ist der Kader eher “top-heavy”. Wird es unter Nagelsmann zu einer Rückkehr der Rotation kommen?

Georg: Ja. Dazu passt seine erste Ankündigung, stärker auf die Talente des Bayern-Campus zu setzen. Durch eine stärkere Rotation kann er die Talente langsam an den Kader heranführen. Das ist gleichzeitig auch seine einzige Chance, denn in einem weiteren Corona-Transfersommer wird Salihamidžić ihm keine Leipziger Kaderbreite bieten können. 

Daniel:  Um beim FC Bayern Erfolg zu haben, muss man rotieren, daher eine simple Ja/Nein-Antwort: Ja. Ich bin mir übrigens auch sicher, dass das spätestens im nächsten Jahr unter Flick gekommen wäre.

Justin: “Rückkehr der Rotation” klingt natürlich ein bisschen überspitzt. Flick hat auch rotiert und das teilweise auch klüger als sein Vorgänger. Er hat sich dabei aber auf einen Rumpfkader von in etwa 14 bis 15 Spielern beschränkt und war nicht in der Lage, mit der vollen Breite des Kaders etwas anzufangen. Hier mache ich mir schon Hoffnung, dass Nagelsmann besser geeignet ist für diese Aufgabe. Während Flick doch eher absolute Top-Spieler braucht, oder zumindest welche, die exakt in seine sehr anspruchsvollen Rollenprofile passen, glaube ich schon, dass Nagelsmann jemand ist, der mit einem breiteren Pool an Spielern erfolgreich arbeiten kann. Das betrifft nicht ausschließlich Talente und junge Spieler, sondern auch ältere. 

Wenn ich daran denke, was er aus Spielern wie Kevin Vogt oder Sandro Wagner einst in Hoffenheim machte, dann nötigt mir das großen Respekt ab. Es ist auffällig, dass viele seiner einstigen Schlüsselspieler nach Ende der Zusammenarbeit nie mehr ihr bestes Level erreicht haben. Insofern habe ich Vertrauen in Nagelsmann, dass er für Spieler wie Marc Roca bessere Lösungen finden kann. Flick hatte ja auch Bedenken bei Angelo Stiller, Chris Richards oder Joshua Zirkzee – allesamt Spieler, bei denen ich Flicks Position komplett nachvollziehen kann. 

Bekommen die unter Flick teils abgehängten Roca und Sarr unter Nagelsmann wieder mehr Einsätze?
(Quelle: Imago)

Ich prognostiziere dennoch, dass Nagelsmann mit solch unfertigen oder noch nicht optimal zur Philosophie passenden Spielertypen besser zusammenarbeiten kann. Seine recht offensive Ankündigung in Richtung Campus lässt zumindest hoffen, dass mittelfristig einige Spieler eingebunden werden, denen man das aktuell noch nicht zutrauen würde. Wenn es Guardiola einst gelang, einen Spieler wie Gianluca Gaudino ohne großen Qualitätsverlust einzubinden, dann traue ich Nagelsmann durchaus zu, einigen Talenten zumindest eine faire Chance zu geben.

Chris: Ja, die laufende Saison unter Flick hat gezeigt, dass man nicht mit 12-13 Spielern alleine erfolgreich sein kann. Wenn man bei Flick eine Schwachstelle suchen will, dann ist Kadermanagement zu nennen. Zunächst versuchte es der Bayern-Trainer mit einer starken Rotation und verzichtete dann gänzlich, weil er es nicht vermochte, die Sommer-Transfers, aber auch Nachwuschsspieler einzubinden. Von Nagelsmann erhoffe ich mir hier mehr Mut, verweise aber auch gleichzeitig auf den hohen Druck. Jede Niederlage, jedes schlechte Spiel erzeugt viel mehr Aufmerksamkeit als in Leipzig oder Hoffenheim.

Mögliche Stolpersteine auf dem Weg zum Erfolg

Der vereinsinterne Machtkonflikt, das junge Alter oder die fehlenden Erfolge auf dem Briefkopf – über welche Hürde könnte Nagelsmann am ehesten stolpern?

Chris: Vielleicht über seine flapsige Art, die in Interviews manchmal sehr arrogant daherkommt. Das geht bei der Schickeria, aber nicht auf der Trainerposition. Hier ist Moderation gefragt. Natürlich spielt auch die Beziehung zur Führungsetage eine große Rolle. Rummenigge, der den Verein sehr lange geprägt hat, folgt Uli Hoeneß bald in den Ruhestand. Wie sehr mischen sich beide noch ein? Und passt das zu den Ansichten von Kahn und Salihamidžić? Wie sich Nagelsmann hier einordnet, kann für ihn sehr wichtig werden. 

Daniel: Ich habe es in meiner Eloge auf Flick am Ende schon erwähnt: Aber Nagelsmann wird innerlich noch am langen Schatten Flicks verzweifeln. Schon alleine, weil ich von ihm auch Fehler erwarte. Ein verkopft gecoachtes Spiel von ihm, ist immer auch drin.

Ansonsten sehe ich die Hürde leider bei Hasan Salihamidžić. Egal ob Klose, Boateng und letztlich ja auch Flick, es mehren sich die Fälle, wo bei mir die Fragezeichen größer werden, was seine empathischen Teamfähigkeiten angeht. Jetzt muss endgültig Ruhe herrschen. Sportlich wird es im Optimalfall an Nagelsmann sein, die großen Säulen Müller und Lewandowski langsam zu entbinden, aber ich kann mir keinen besseren für diesen Job vorstellen.

Alex: Sein junges Alter oder die noch mangelnden Erfolge sehe ich nicht als Problem für Julian Nagelsmann an. Ich habe keinen Zweifel, dass er mit seiner Arbeit in der Kabine ein hervorragendes Standing genießen wird. Aber ich habe gerade einen längeren Artikel zur Machtposition des Trainers in einem Verein in Arbeit. Ich halte Nagelsmann für einen auf der professionellen Ebene langmütigeren und leidensfähigeren Menschen als Hansi Flick, aber wenn es der FC Bayern versäumt, seine Mitsprache- und Entscheidungsrechte im sportlichen Bereich zukünftig eindeutiger zu definieren und transparenter für alle Parteien zu kommunizieren als dies augenscheinlich bei Hansi Flick der Fall war, könnte ich mir vorstellen, dass Julian Nagelsmann das dritte Opfer der aufreibenden internen Machtstrukturen im Verein in überschaubarer Zeit nach Hansi Flick und, zu einem gewissen Grad, Pep Guardiola wird. 

Kostet der nächste Bayern-Trainer so viel wie Lucas?

30 Millionen Euro für einen Trainer sind nicht nur Weltrekord sondern fast das Durchbrechen einer kleinen Schallmauer. Was bedeutet dies in Zukunft für den Trainermarkt? Explodieren nun die Preise?

Alex: Nein, das halte ich für sehr unwahrscheinlich. Ich kann mir zwar gut vorstellen, dass Trainer zukünftig häufiger als bisher gegen eine Ablösesumme vorzeitig aus ihrem Vertrag entlassen werden und den Verein wechseln, was ich für eine vollkommen logische Fortentwicklung des Spielermarktes in einen größeren Markt für Aktive aller Art halte (und von der ich mich gefragt habe, warum sie noch nicht längst in größerem Umfang stattgefunden hat). 

Aber ich sehe nicht nur wegen COVID-19 gegenwärtig, sondern auch aus grundsätzlichen Überlegungen allgemein bei der Höhe dieser Summen für Trainer eine Schallmauer, die sich signifikant unterhalb der Beträge für die Superstars unter den Spielern einpendeln wird. An der absoluten Spitze ist Fußball dann doch, um es mit Thomas Tuchel zu sagen, „a players game, not a coach’s game“. Wenn angehende oder gegenwärtige Superstars wie Erling Haaland oder Christiano Ronaldo 80, 100 oder 120 Millionen Euro kosten, werden solche Beträge für Trainer niemals fällig werden. Dafür sind sie in mehrerlei Hinsicht vergleichsweise nicht wichtig genug für einen Verein, weder sportlich noch ökonomisch. Julian Nagelsmann dürfte mit seinen 30 Millionen Euro inklusive aller Boni der Schallmauer für Trainer schon gefährlich nahe gekommen sein. Vielleicht sehen wir irgendwann einmal 40 Millionen (inflationsbereinigt), aber es würde mich sehr überraschen, wenn es künftig zur Regel würde, dass Trainer dauerhaft auf einem solchen Preisniveau den Verein wechselten.

Georg: Ich glaube nicht, dass die Preise für Trainer explodieren. Kauft man einen Spieler für 20 Millionen Euro und er floppt, wird man ihn meist für einen Teil der Ablöse weiterverkaufen können. Kauft man einen Trainer für 20 Millionen Euro und er floppt, so dass man sich vorzeitig trennt, wird dieser Trainer nicht nur keine Ablöse einbringen, sondern sogar eine hohe Abfindung kosten. Dieser ökonomische Unterschied zwischen Trainern und Spielern funktioniert als natürliche Obergrenze für Trainerablösen.

Justin: Explodieren werden sie eher nicht, aber es ist gut, dass Trainer nach und nach klare Kante zeigen und sich ihrer Wichtigkeit zunehmend bewusst werden. Solch hohe Ablösen werden aber eher die Ausnahme bleiben. Allein schon deshalb, weil Klubs auf dieser Position nur selten mehr als zwei Tage vorausdenken. Solange es funktioniert, braucht es keine Alternative. Wenn es nicht funktioniert, wird oftmals erstmal am bestehenden Personal festgehalten. Erst wenn wirklich die Erkenntnis einsetzt, dass es nicht mehr geht, werden die Klubs aktiv. Häufig mitten in der Saison, wo der Markt sehr ausgedünnt ist. Was ich damit sagen will: Nur selten gibt es die Konstellation, dass ein Klub eine absolute Wunschlösung hat, die gerade unter Vertrag steht, zugleich aber Bereitschaft signalisiert und zu haben ist. 

Der Nagelsmann-Transfer zeugt ja in seiner Entstehung von einer so schon lange nicht mehr da gewesenen Überzeugung bei den Bayern, dass dieser Mann eine Ära prägen kann. In vielen alternativen Szenarien hätte man sich vermutlich mehr als zehnmal überlegt, diese Summe zu zahlen. Wird es sich in Zukunft wiederholen? Bestimmt. Gut vorstellbar, dass auch dieser Rekord nicht allzu lange anhält. Aber astronomische Summen jenseits der 30 oder 40 Millionen Euro erwarte ich ehrlich gesagt nicht. Dafür ist der Trainerposten dann oft doch zu unsicher. Ein spannender Aspekt könnte aber sein, dass durch höhere Ablösesummen die Schwelle für eine mögliche Entlassung höher wird und man sich dadurch eher auf die Trainer und ihre Wünsche einlässt. Denn wer will schon beim ersten Gegenwind die Reißleine ziehen, wenn man ein solches Geldpaket auf den Tisch gelegt hat?

Reise nach Jerusalem: Trainer-Spezial

Die Bayern wildern bei ihren ärgsten Verfolgern – nun sogar auf dem Trainermarkt. Mit dem Nagelsmann-Wechsel und seinen Folgen könnten zum Saisonstart bei den Top-7 der aktuellen Spielzeit neue Übungsleiter am Seitenrand stehen. Was bedeutet der Wechsel für die Bundesliga?

Justin: Einige Mannschaften werden sich nochmal verbessern. Die Bayern und Dortmund haben die große Möglichkeit, sich fußballerisch weiterzuentwickeln und weiteres Potential auszuschöpfen. Bei Leipzig muss man mal abwarten. Jesse Marsch steht eher für einen Fußball, der für das “alte Leipzig” steht. Nagelsmann brachte ja erst eine verlässliche Ballbesitzstruktur mit und ob Marsch diese halten oder gar weiterentwickeln kann? Für mich fraglich. Außerdem wird Leipzig einige erfahrene und wichtige Spieler verlieren. 

Bei Frankfurt, Gladbach, Wolfsburg und Leverkusen kann es in alle Richtungen gehen. Ich sehe aber auch hier große Chancen, dass man den teils erfolgreichen Weg mit neuem Anstrich weiter gehen kann, oder dorthin zurückfindet. Insofern würde ich die Bedeutung für die Entwicklung der Bundesliga nicht überhöhen. Wir werden auch in der kommenden Saison wieder viele gute Spiele und das eine oder andere überraschende Team (in beide Richtungen) erleben. 

Was ich mir aber tatsächlich wünsche: Noch mehr Trainer, die den Mut haben, vom bundesliga-typischen Pressingfußball ein Stück weit abzuweichen. Pressing ist sehr wichtig, aber dass auch viele Jahre nach der Taktik-Revolution des Jürgen Klopp immer noch verhältnismäßig viele Mannschaften wenig mit dem Ball anzufangen wissen, ist ein Problem, das nicht ausschließlich an mangelnder individueller Qualität und finanzieller Mittel festzumachen ist. Dass Kreativität auf dem Trainerstuhl durchaus erfolgreich sein kann, haben ja auch schon einige Klubs bewiesen.

Daniel: Mit Ausnahme von international zu kurz gedachtem Spott ändert sich für die Bundesliga nichts. Es gab davor keinen Meisterkampf, es wird ihn auch künftig nicht geben. Solange die Bayern sich nicht von der Bundesliga abspalten oder die Champions-League-Gelder anders verteilt werden, wird zu unseren Lebzeiten niemand mehr von uns einen anderen Meister als den FC Bayern mehr erleben. Dieses Fenster ist spätestens mit dieser Corona-Saison zu. Dafür wird der FC Bayern in den nächsten Jahren mit der Champions-League-Reform nur noch mehr der Konkurrenz enteilen. Der Meisterschaftskampf ist tot. Requiescat in pace.

Maurice: Jedenfalls wird zum Saisonstart kein Team in der Lage sein durch Kontinuität die Abstimmungsprobleme der neuen Bayern auszunutzen. Im bigger picture zeigt der Wechsel, dass auch für Trainer der Rekordmeister auch weiterhin das höchste der Gefühle ist. Nachdem mit Klopp und Tuchel zuletzt die beiden größten deutschen Vereinstrainer den Weg ins Ausland suchten, geht Nagelsmann nun zum nationalen Branchenprimus. Der ärgste Konkurrent Leipzig scheint damit erstmal erheblich geschwächt, auch wenn mit Neuverpflichtung Marsch ein guter Ersatz bereitsteht. Allerdings muss dieser sich erst in der Bundesliga beweisen. Vergangene Trainer von RB Salzburg haben in Deutschland eine stark unterschiedliche Bilanz. 


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