Hansi Flick: Eine kurze, große Ära

Daniel Trenner 30.04.2021

Vom Feuerwehrmann zum Chef

Rückblende, 2. November 2019. Wir schreiben den 10. Spieltag, das Coronavirus nistet noch in der chinesischen Fauna. Der FC Bayern steht am Abgrund. Mit 1:5 geht man in Frankfurt unter. Ich schreibe an dem Tag von Individualisten auf der einen und einer geschlossenen Mannschaft auf der anderen Seite. Nicht nur mir ist schon zu Abpfiff klar, dass Niko Kovačs Wacht nun zu Ende ist. In weiser Voraussicht hat der Verein bereits im Sommer einen Feuerwehrmann verpflichtet: Hansi Flick soll das Team bis zur nächsten Länderspielpause begleiten.

Der Rest ist bekanntermaßen Geschichte. Nur eine Woche später ist der FC Bayern nicht wiederzuerkennen, presst und passt gegen Dortmund im Kollektiv, wie man es Jahre nicht mehr gesehen hatte. Der Feuerwehrmann Flick wird zur temporären Dauerlösung bis zur Winterpause. Über Kandidaten wie Arsène Wenger spricht schnell niemand mehr.

Während die Nachrichtensendungen zunehmend immer mehr von einem neuartigen Virus im fernen Osten berichten, sieht man sich beim FC Bayern in der entspannten Lage, dass auch die Winterpause nicht das Ende von Hansi Flick sein muss. Der Punkterückstand auf den Tabellenführer beträgt zwar unverändert vier Punkte, doch der Fußball hat sich substanziell verbessert. Und überhaupt, ohne die unglücklichen Niederlagen gegen Gladbach und Leverkusen wäre man ja auch tatsächlich Herbstmeister.

Es sollten für Monate die letzten Niederlagen bleiben. Erst im September des nächsten Jahres sollte die Serie reißen. Die unbesiegbaren Bayern waren geboren. Von einem Sieg zum nächsten eilen sie, schon am 20. Spieltag kassiert man RaBa Leipzig.

Gut zwei Wochen bevor die nun anbrechende Pandemie Deutschland erreicht, erobert der FC Bayern London. Mit dem 3:0-Sieg über Chelsea schickte man nicht nur ein klares Zeichen an Europa, Hansi Flick hatte sich auch endgültig als Chef qualifiziert.

London is red.
(Foto: Imago Images)

Flick-Ball

Nach dem Abgang Pep Guardiolas konnte Carlo Ancelotti keine fünf Spiele absolvieren, ohne das allen der qualitative Abfall des Fußballs auffiel. Kein Zufall, dass Julian Nagelsmann schon da überall als zukünftiger Bayern-Trainer gehandelt wurde. Jupp Heynckes stabilisierte die Mannschaft wieder, doch war er selbstredend nie als Dauerlösung verfügbar. Mit Niko Kovač waren nur Teile der Klubführung zufrieden, die Mannschaft haderte jedoch.

Hansi Flick war die Antwort auf ein fast dreieinhalb Jahre andauerndes Casting nach einem passenden Bayern-Trainer. In gewisser Weise war er der erste legitime Nachfolger Pep Guardiolas.

Explosive Gefahr aus allen Lagen

Zu den besten Zeiten von Flicks Fußball war sein FC Bayern praktisch nicht zu verteidigen. Die Erklärung dafür war so simpel, wie komplex. Hansi Flick kreierte ein Team, welches aus jeder Lage blitzschnell Torgefahr ausstrahlen konnte.

Machte der Gegner die Flügel dicht, brach man über das Zentrum mit vorher nie gesehener Wucht und Spielstärke durch. Wollte der Gegner hingegen die Mitte schützen, fiel man über die Außen ein. Presste der Gegner die Bayern früh, befreite man sich mühelos durch Spielstärke und der richtigen Positionierung.
Das sind nur einige höchst unterkomplexe Beispiele, die Krux ist jedoch: Was die andere Mannschaft auch zu verteidigen versuchte, irgendeine Angriffsfläche war immer offen.

Dominanz wurde dabei durch zwei Dinge geschaffen: Zum einen durch ein schier unnormales Hyänenpressing. Pressing gehörte natürlich schon zum Repertoir früherer erfolgreicher Bayern-Mannschaften, doch wohl nie gab man sich der Jagd hinter dem Ball so hingebungsvoll hin, wie unter Hansi Flick.

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Zum anderen durch ein herrlich kompromissloses Positionsspiel. Zwei spielstarke Innenverteidiger an der Mittellinie, hohe Außenverteidiger, ein unpressbarer Sechser und die Luft des Gegners war praktisch abgeschnürt.

Das wahre Mia san mia

“Echte Liebe”, “més que un club”, wie viele Slogans und Mottos ist auch das “Mia san mia” mit den Jahren zu einem eher nervigen Marketinggag verkommen. Kommt ein neuer Spieler oder Trainer, wird er erstmal vom Boulevard befragt und hat dann eine blumige Antwort zu geben. Nichts davon ist interessant oder identitätsstiftend.

Sucht man nach Beispielen echten Mia san mias, stößt man schnell auf große Kämpfer wie Oliver Kahn oder aktuell Joshua Kimmich. Das sind alles passende Fälle für dieses Lebensmotto, doch für mich füllt nichts den Begriff “Mia san mia” mit derart viel Leben, wie Hansi Flicks kompromissloser Spielstil.

Flick weiß, dass er viel von seinen Spielern einfordert. Die vielen Gegentore in der zweiten Saison dienen als Beweis was passiert, wenn die Spieler nicht alles zufriedenstellend umsetzen können. Doch es hat etwas wunderbares, wie Flick und seine Bayern ohne Rücksicht auf andere, einfach kompromisslos ihren Weg gehen. Was haben gerade internationale Beobachter denn geunkt, wie unsinnig diese hohe Linie doch sei. Welch Wahnsinn es doch wäre, selbst bei knapper Führung sich nicht fallen zu lassen.

Doch Flick interessierten diese Rufe nicht. Er vertraute seiner Mannschaft und seine Mannschaft dankte es ihm. “Sollen die Gegner ruhig kommen, wir vertrauen in unsere Stärke, wir schießen mehr Tore!” Mia san mia eben.

So wird das Champions-League-Turnier in Lissabon für immer vor allem mit seinem Namen in Verbindung stehen. Er, der David Alaba zum Weltklasse-Innenverteidiger machte, der Jérôme Boateng aus der Versenkung holte, Thomas Müller neues Leben einhauchte. Der den jungen Alphonso Davies formte und unter dem Joshua Kimmich erstmals auch im Mittelfeld konstante Weltklasse zeigte.

Damals noch in trauter Einsamkeit vereint.
(Foto: Frank Hoermann / Simon / Pool)

Das verflickte zweite Jahr

So rosarot alles bis zum Sommer 2020 war, danach kamen auch Schattenseiten dazu. Ohne jegliche Sommervorbereitung schleppte sich die Mannschaft durch die Saison. Es gab zwar auch immer wieder ganz große Leistungen, doch oft reichte es auch einfach nicht. Im Pokal flog man unglücklich, aber verdient raus. In der Liga werden sie zwar mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Meister, doch hat sich eine wahre Gegentorflut manifestiert. 40 sind es schon, vier Spieltage vor Schluss.

Hansi Flick indes hat ein reichlich turbulentes Jahr hinter sich. Durch die Sondersituation der Corona-Saison sollte man zwar Milde walten lassen bei der Leistungsevaluierung um die Jahreswende, doch machte er sich die Dinge auch schwerer als nötig. Hansi Flick ist gerade bei den Positionen der Spielfeldmitte kein sonderlich großer Freund der Rotation und das bekamen gerade die Sommerneuzugänge zu spüren.

Marc Roca absolvierte bislang kaum 400 Spielminuten. Choupo-Moting konnte seine Klasse erst mit der Verletzung Lewandowskis zeigen. Bouna Sarr bekam auf den Außen zwar mehr Minuten, doch war schnell klar, dass Flick ihm nicht vertraute. Teilweise hat das natürlich mit der Qualität der Spieler zu tun, teilweise wirkte Flicks Weigerung zur Rotation aber auch wie Verbohrtheit.

Probleme abseits des Platzes

Doch die großen Themen von Flicks zweiter Saison waren natürlich abseits des Platzes zu finden. Nun sind die Punkte bekannt und eigentlich auch durchdiskutiert. Um es blumig zusammenzufassen, kann man wohl davon ausgehen, dass Hansi Flick bei seinen zukünftigen Besuchen in der Allianz Arena mit Hasan Salihamidžić eher keinen Kaffee trinken wird.
Was im Detail auch Sache war, an Hansi Flick gingen die Monate nicht spurlos vorbei. Er wurde mit der Zeit schmallippiger und setzte auch verbale Bruchlandungen hin, die selbst langjährige Beobachter irritierte.

All diese Dinge -sportliche wie unsportliche- ließen für nicht wenige den Schluss zu, dass Flick trotz seiner großartigen Erfolge im ersten Jahr, schlussendlich doch nicht der richtige Mann für diese tagtägliche Arbeit im Rampenlicht sei. Möglicherweise vermutet er das mittlerweile sogar selbst.

Tatsächlich wissen wir es nicht. Wir werden womöglich nie erfahren, ob der Mann Hansi Flick einfach nicht gemacht war für diese Rolle in dauerhafter Funktion, oder ob es diese spezielle Gemengelage beim FC Bayern war. Wir werden nie wissen, ob die sportlichen Probleme im Sektor Defensive und Rotation Zeichen dafür sind, dass Flicks Stil im Vereinsfußball an seine Grenzen stößt, oder ob es eine Verkettung anderer Umstände ist. Etwa der wirklich gestrafften Saison, dem Mangel an Sommervorbereitung und der Unzufriedenheit mit den Transfers. Man kann nur Vermutungen aufstellen, Restzweifel werden immer bleiben.

Der lange Schatten des Hansi Flick

Genau hier erkenne ich ein potenzielles Problem für den FC Bayern. Hansi Flicks Grenzen wurden nie ausgetestet. Er geht erhobenen Hauptes nicht nur als Gewinner, sondern als Triumphator. 2020 formte er die ohne Zweifel beste Vereinsmannschaft der Welt. Ein Jahr später scheiterte er nur äußerst knapp an der Auswärtstorregel und das in Ermangelung dreier absoluter Schlüsselspieler. In der Rückschau wird nicht nur medial der Konsens über diese Saison sein, dass nur die Verletzungen die Bayern um einen weiteren Titelgewinn in der Champions League gebracht hatten. Für Flicks Ruf mag das gut sein, für den FC Bayern ist es jedoch tückisch.

Schon Pep Guardiola musste sich drei Jahre lang mit dem Geiste Jupp Heynckes’ rumschlagen, der als Sieger ungeschlagen in Rente ging. So unfair und vermessen die Erwartungen auch waren, immer wieder stand im Raum, dass der Vorgänger doch erfolgreicher war.

Dasselbe erwarte ich nun auch bei Julian Nagelsmann. Nun kann ich mir nicht vorstellen, dass die Liaison Bayern-Nagelsmann nicht Früchte tragen wird. Sehr wohl allerdings, dass er sich immer wieder mit der Frage konfrontiert sehen wird, wie viel beeindruckender und erfolgreicher die Flick-Bayern doch waren. Selbst wenn Nagelsmann ebenfalls die Königsklasse mit den Bayern holen wird, im direkten Vergleich mit seinem Vorgänger, wird er zwangsläufig immer den Kürzeren ziehen.

Wie auch sonst? Mit beeindruckendstem Fußball alle Spiele gewinnen, sieben Tore gegen Chelsea schießen, Barcelona mit 8:2 deklassieren. Es ist schlicht und ergreifend nicht möglich die Champions League auf eine noch beeindruckendere Art und Weise zu holen. Dass etwa der Corona-Spielplan Flicks Team genau dann Urlaub gewährte, als ihnen die Puste ausging, wird in der Retrospektive komplett unter den Tisch fallen.

Hansi Flick gesellt sich zu Jupp Heynckes in das oberste Pantheon der Bayern-Trainer, nicht anders werden ihn Medien und Fans in Erinnerung halten. Seine Ära mag nur kurz gewesen sein, doch sein Schatten wird umso länger.