Ist schon wieder Umbruch?

Lukas Trenner 01.05.2021

Aktueller Kader

Nach und nach wird klarer, wie der FC Bayern in der kommenden Saison 2021/22 aufgestellt sein wird. Die wohl größte Baustelle nach dem feststehenden Abgang von Hansi Flick wurde mit Julian Nagelsmann schnell wieder geschlossen. Zudem steht bereits seit längeren der Zugang von Dayot Upamecano fest. Dieser Transfer ist dringend notwendig, da mit David Alaba und Jérome Boateng bereits zwei sichere Abgänge in der Verteidigung feststehen.

Ein Blick auf Dienstalter und Einsatzzeiten des aktuellen Kaders (die besonders treuen Leser werden sich an eine Variation dieser Grafik noch erinnern: https://miasanrot.de/stats-im-umbruch/) macht deutlich, dass der Verlust von Boateng und Alaba schwerwiegend sein könnte. Würde Javi Martínez sich den beiden noch anschließen und die Bayern im Sommer verlassen, hätte der FCB drei der aktuell fünf dienstältesten Spieler auf einen Schlag verloren. Aus dem Team, welches 2012/13 das erste Triple nach München holte, blieben nur noch Thomas Müller und Manuel Neuer erhalten.

Insbesondere Alaba und Boateng sind jedoch nicht nur aufgrund ihrer langen Zeit im Bayerntrikot ein folgenreicher Verlust. Beide gehören zudem seit Jahren zur Stammbesetzung und haben so maßgeblich zu den erzielten Erfolgen der vergangenen Jahre beigetragen. Jérome Boateng spielt in der aktuellen Saison im Schnitt 63.4 Minuten pro Spiel. David Alaba sogar 72.2 Minuten.

Spieler-Abgänge

Um diese Zahlen besser ins Verhältnis zu setzen, lohnt sich ein Blick auf die Veränderungen der durchschnittlichen Spielzeit der Spieler im Laufe der Jahre. In der folgenden Tabelle abgebildet finden sich die drei Spieler mit dem jeweils höchsten Rückgang an Spielzeit im Vergleich zur Vorsaison. Spieler, bei welchen dieser Rückgang hauptsächlich durch eine Verletzung erklärt werden kann, sind zusätzlich mit (✚) markiert.

Top Verluste nach Spielzeit

2016/172017/182018/192019/202020/21
M. Benatia
(-28.7)
P. Lahm
(-61.5)
S. Ulreich
(-54.5)
N. Süle (✚)
(-59.1)
Thiago Alcântara
(-52.1)
M. Götze
(-28.1)
M. Neuer (✚)
(-60.9)
S. Rudy
(-44.4)
M. Hummels
(-52.2)
Philippe Coutinho
(-41.6)
K. Coman (✚)
(-22.8)
Xabi Alonso
(-56.1)
C. Tolisso (✚)
(-43.4)
F. Ribéry
(-34.3)
I. Perišić
(-35.4)

Ein genauerer Blick auf diese Tabelle liefert nun einige interessante Einblicke. So ist beispielsweise von dem viel zitierten Umbruch der Bayern nach den Abgängen von Arjen Robben und Franck Ribéry nicht wirklich viel zu sehen. Robben musste seine Spielzeit in seinen letzten beiden Saisons verletzungsbedingt reduzieren und auch Ribéry spielte in seiner letzten Saison nur noch rund ein Drittel der möglichen Spiele.

Ebenfalls auffällig sind die jeweils stärksten Rückgänge in Spielzeit. Der Abgang von Philipp Lahm zur Saison 2017/18 wiegt hier noch am stärksten mit einem Rückgang von etwas über 60 Minuten pro Spiel. Dieser Wert zeigt auch nochmals auf, wie einschneidend die Abgänge von David Alaba und Jérome Boateng sein könnten. Mit 72.2 und 63.4 Minuten liegen sogar beide über dem bisherigen Höchstwert von Lahm. Selbst im Vergleich mit den letzten 15 Bundesliga-Saisons ist dies noch auffällig hoch (die Grafik zeigt jeweils den Spieler mit dem stärksten Rückgang pro Saison):

Kein Verkaufsverein

Seit Lúcio haben die Bayern keinen Spieler mehr verloren, welcher im Schnitt mehr als 70 Minuten pro Spiel auf dem Platz stand. Die Feststellung von Karl-Heinz Rummenigge: „Wir sind ein Einkaufsverein – und kein Verkaufsverein“ scheint also auch empirisch schwer widerlegbar. Selbst der Abgang von Kroos ist mit ~60 Minuten noch im mittleren Bereich. Thiago verließ die Bayern nach einer Saison mit knapp über 50 durchschnittlich gespielten Minuten, wobei hier selbstverständlich zu bemerken ist, dass die vergleichsweise geringen Spielanteile hier nur begrenzt mit Qualität und Einfluss korrelierten. Mit Oliver Kahn, Philipp Lahm und Hans-Jörg Butt haben zudem gleich drei Spieler in dieser Liste nach Vertragsende direkt ihre Karriere beendet.

Während der FC Bayern seit 2010 keinen Abgang mit in der Vorsaison mehr als 65 durchschnittlich gespielten Minuten verzeichnete, weißt Borussia Dortmund im Vergleich im selben Zeitraum (seit 2010) nur zwei Jahre auf, in welchen KEIN Spieler mit diesen Kriterien verloren wurde (und selbst in diesen beiden Jahren lagen Roman Weidenfeller und İlkay Gündoğan jeweils nur knapp unterhalb der Marke von durchschnittlich 65 gespielten Minuten).

Eine Erklärung dafür, dass der FC Bayern dies verhindern konnte, ist sicherlich auch der inzwischen deutlich breitere Kader als in der Vergangenheit, wodurch es ganz einfach weniger Spieler gibt, welche an sämtlichen 34 Spieltagen die vollen 90 Minuten spielen müssen. Dennoch finden sich seit 2010 in den Reihen der Bayern immerhin noch 54 Fälle von Spielern mit im Schnitt mindestens 65 gespielten Minuten pro Spiel.

Bleibt die Frage nach dem ersten Halbsatz des eingangs erwähnten Zitats von Rummenigge: „Wir sind ein Einkaufsverein“. Werfen wir also einen kurzen Blick auf die Zugänge, beziehungsweise auf die Spieler, welche ihre Spielanteile signifikant erhöhen konnten.

Top Zugewinne nach Spielzeit

2016/172017/182018/192019/202020/21
M. Hummels
(+64.1)
S. Ulreich
(+63.5)
M. Neuer (✚)
(+59.8)
B. Pavard
(+82.1)
L. Sané
(+49.2)
Javi Martínez (✚)
(+30.4)
N. Süle
(+56.4)
L. Goretzka
(+59.4)
A. Davies
(+63.5)
E. Choupo-Moting
(+23.3)
A. Robben (✚)
(+21.4)
J. Rodríguez
(+47.8)
S. Gnabry
(+52.1)
Philippe Coutinho
(+41.6)
N. Süle (✚)
(+23.2)

Den Top 3 der Triple-Saison 2019/20 ist hier schon zu entnehmen, dass die Premierensaisons von Benjamin Pavard und Alphonso Davies auch im Vergleich mit den Vorsaisons außergewöhnlich erfolgreich waren. Andererseits fällt für die laufende Saison auch auf, dass außer Leroy Sané kein anderer Neuzugang signifikante Spielanteile bekam und Flick somit zu großteilen auf die selben Spieler wie in der Vorsaison baute.

Mit Mats Hummels, Niklas Süle, Leon Goretzka, Serge Gnabry sowie den drei bereits erwähnten Spielern konnte der „Einkaufsverein“ im betrachteten Zeitraum insgesamt sieben Spieler verpflichten, welche direkt mindestens ~50% der möglichen Spielzeit erreichten. Es was den Bayern also möglich pro Saison etwas mehr als einen neuen Spieler direkt in das bestehende System einzubinden. Unter Berücksichtigung der nationalen und internationalen Erfolge, sowie der relativ geringen gezahlten Ablösesummen (laut transfermarkt.de im Schnitt 22 Mio. € für die sieben erwähnten Neuzugänge) spricht diese Statistik klar für ein gutes Händchen der jeweils Verantwortlichen (wobei es natürlich auch Negativbeispiele mit höheren Ablösen und/oder geringeren Einsatzzeiten in diesem Zeitraum zu verbuchen gibt).

Kontinuität

Für einen Vergleich der Mannschaftszusammenstellung zwischen verschiedenen Vereinen bedarf es einer aggregierten Kennzahl. Folgende Grafik zeigt die „Kontinuität“ im Laufe der Zeit. Ein Wert von 100% bedeutet hierbei, dass jeder einzelne Spieler die exakt gleiche Spielzeit bekommt, wie in der Vorsaison. Ein Wert von 0% steht dementsprechend für das gegenteilige Extrem, dass kein Spieler aus der Vorsaison auch nur eine Minute Spielzeit in der folgenden Saison erhält.

Hier bestätigt sich das allgemeine Bild, wonach es den Bayern in letzter Zeit recht gut gelang den „Umbruch“ zu managen und gleichzeitig kompetitiv zu bleiben. Nach dem Motto „never change a winning team“ wurde die Mannschaft seit 2010 stets nur punktuell verstärkt.

Insbesondere im Vergleich zu anderen Vereinen der Bundesliga sticht die hohe Kontinuität hervor. Von den Top-Clubs befinden sich einzig Borusisia Dortmund und in letzten Jahren auch Leverkusen in ähnlichen Sphären. Dortmund konnte hierbei trotz des Verlustes einiger Top-Spieler im Laufe der Jahre einen konstanten Kern an Spielern beibehalten. Einzig die Saison 2018/19 sticht hier negativ hervor, als annähernd 10 Spieler abgegeben und durch neue Spieler ersetzt wurden.

Auch liefert die Grafik einen schönen Nachweis für die Arbeit von Felix Magath beim VfL Wolfsburg in der Saison 2007/08, als nahezu die gesamte Mannschaft ausgetauscht wurde. Ebenfalls schön zu sehen ist, dass man sich in Wolfsburg nach dem Gewinn der Meisterschaft in der darauffolgenden Saison offensichtlich dachte, keine personellen Veränderungen durchführen zu müssen, nur um dann die nächste Saison auf Tabellenplatz 9 abzuschließen.

Wie schon nach der letzten Triple-Saison 2012/13 setzte Hansi Flick zwar auch auf Kontinuität, konnte aber dennoch einige neue Akzente setzen. Es wird spannend sein zu sehen, ob und wie sich dieser Trend in der kommenden Saison unter Julian Nagelsmann fortsetzen wird. Die Abgänge insbesondere in der Verteidigung werden den Trainer zwar einerseits zu Anpassungen zwingen, der Corona-bedingt geringe finanzielle Spielraum wird auf der anderen Seite jedoch eine größere Anzahl an Zugängen verhindern.

Fazit

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich der FC Bayern gerade tatsächlich im Umbruch befindet. Dieser Umbruch wird jedoch so gestaltet, dass er keinesfalls von einer Saison auf die nächste vollendet ist. Vielleicht angefangen mit dem Wechsel von Bastian Schweinsteiger 2015 gelang es die Abgänge von Leistungsträgern der letzten Generation über Jahre hinweg zu verteilen. Philipp Lahm, Franck Ribéry und Arjen Robben folgten später. Nun also David Alaba, Jérome Boateng und vielleicht Javi Martínez.

Hervorzuheben ist jedoch, dass es dem FC Bayern nun erstmals seit längerer Zeit nicht mehr gelang, sich schon vor dem Abgang eines oder mehrerer Leistungsträger langsam von diesem zu lösen und dessen Einsatzzeit auf andere Schultern zu verteilen. Julian Nagelsmann wird demnach mit der Aufgabe die Abgänge von Boateng und Alaba wettzumachen vor eine ähnliche Herausforderung gestellt, wie Louis van Gaal damals vor 12 Jahren als Lúcio nach Mailand wechselte.