Der Kader des FC Bayern München im internationalen Vergleich – Teil 1: Die teure Mittelklasse

Alexander Trenner 02.04.2024

Unser langjähriger Leser Daniel, im Forum besser bekannt als Turbo_Batzi, widmet sich in seinem zweiten Artikel für Miasanrot (hier findet Ihr den ersten) der Frage, ob der Kader der Bayern sein Geld wert ist und auf welche Positionen und Spieler die sportlich Verantwortlichen rund um Vorstand Max Eberl für ihre Kaderplanungen im Sommer ein besonderes Augenmerk legen sollten. Viel Vergnügen!

Der Stand der Dinge

Der FC Bayern durchläuft eine turbulente Saison, die mit großer Wahrscheinlichkeit historisch enden wird. Zum ersten Mal seit 2012 wird der Rekordmeister eine Bundesliga-Saison nicht auf dem ersten Platz beenden, wird aller Voraussicht nach Bayer Leverkusen Platz machen müssen. Gepaart mit dem frühen Pokal-Aus dürfte unabhängig vom Weiterkommen in der Champions League ein umfassender Umbruch von oben nach unten bevorstehen. Der Verein sucht einen neuen Trainer, der eine klare Fußball-Philosophie an die Isar zurückbringen soll. Hinzu kommt, dass das Vorstandsteam mit Max Eberl nach einem längeren Prozess der Anbahnung inzwischen komplett aufgestellt und bereit ist, im Sommer einen Neustart hinzulegen. Ins Zentrum der Diskussion rückt damit der aktuelle Kader. Er hat in den letzten Jahren einiges an Kritik einstecken müssen. Gleich mehrere Trainer haben vergeblich probiert, an frühere Erfolge anzuknüpfen und das “Mia san Mia” früherer Tage wiederzubeleben. Inzwischen mehren sich die Stimmen, die vor allem den Spielern die Schuld an den untypisch dürftigen Erfolgen der letzten zwei bis drei Jahre geben. Der Kader ist in den Augen vieler falsch besetzt hinsichtlich der Typen, falsch besetzt hinsichtlich der Positionen, zeigt zu wenig Leistung und ist darüber hinaus zu teuer. Grund genug für mich, diese Aussagen einmal auf Basis von belastbaren Zahlen einer genaueren Prüfung zu unterziehen.

Methodik 

Die beiden zentralen Indikatoren, auf die ich für meine Analyse zurückgreife, sind der Whoscored-Wert eines Spielers in der Bundesliga als Indikator für die sportliche Leistung und das Gehalt der Spieler als Indikator für den Preis, der dafür vom Verein zu zahlen ist. Der Whoscored-Wert ist ein weithin genutzter Leistungsindikator, die die Leistung eines Spielers auf Einzelspielebene in Form einer einheitlichen Kennzahl bewertet und für alle Spieler und Spiele in den fünf großen europäischen Ligen verfügbar ist. Er findet sich unter whoscored.com. Als Quelle für das Gehalt dient mir capology.com, eine Internet-Datenbank, die die Gehälter von Athleten in vielen großen Mannschaftssportarten sammelt und bereitstellt, darunter auch der europäische Profifußball.

Im ersten Schritt meiner Auswertung schaffe ich für alle Spieler eine einheitliche Vergleichsgrundlage der Whoscored-Werte. Dazu bilde ich für jeden Mannschaftsteil den Median (den mittleren Wert in einer auf- oder absteigend sortierten Menge von Zahlen) des Wertes aller Spieler in den Top-5-Ligen Europas. Um das Risiko einer Verzerrung durch Ausreißer zu reduzieren, setze ich für die Auswahl der Spieler eine Mindestschwelle von zehn Einsätzen in einer Saison. Der sich ergebende Median liegt für Torwarte in Europa bei 6,7, für Verteidiger bei 6,71, für Mittelfeldspieler bei 6,81 und für Stürmer bei 6,93. Diese Korrektur anhand des Mannschaftsteils nehme ich vor, weil aufgrund des Algorithmus der Berechnung des Whoscored-Wertes statistisch signifikante Unterschiede zwischen den Whoscored-Werten einzelner Mannschaftsteile entstehen. Einfach gesagt: offensive Spieler haben es leichter, höhere Werte zu erzielen als defensive, und es wäre nicht fair, für einen Innenverteidiger oder Torwart dieselbe Vergleichsbasis wie für einen Stürmer heranzuziehen. In meiner Analyse bedeutet das, dass ein Stürmer mit einem Whoscored-Wert von 7,3 mit einem „Over/Under“ von +0,37 bewertet wird (7,3 – 6,93), also 0,37 Punkte besser ist als das, was auf seiner Position im Mittel in Europa geleistet wird. Ein Innenverteidiger mit demselben Whoscored-Wert von 7,3 hätte aufgrund des niedrigeren Medians für Innenverteidiger ein „Over/Under“ von +0,59 (7,3 – 6,71) und zeigte damit bereingt die bessere Leistung als der Stürmer. Abschließend klassifiziere ich die „Over/Under“-Werte, indem ich sie in drei Kategorien einteile: Normalperformer, Überperformer und Outperformer. Als Normalperformer definiere ich alle Spieler im Bereich bis +0,2 des „Over/Under“, als Überperformer Spieler im Bereich von +0,21 bis +0,5 und als Outperformer Spieler im Bereich von +0,51 an aufwärts. 

Als zweite Dimension meiner Auswertung setze ich die Leistungen der Spieler ins Verhältnis zum Gehalt. Dies dient dazu, die verstärkt aufkommende Kritik vom überbezahlten Kern der Bayernmannschaft zu überprüfen. Für diesen Teil nehme ich keine Normierung vor, sondern vergleiche die Gehälter der FC-Bayern-Spieler direkt miteinander. Es ist mir bewusst, dass offensive Spieler tendentiell etwas mehr verdienen als defensive. Jedoch ist eine Normierung der Gehälter über alle Teams in den Top-5-Ligen hinweg aufgrund eines Mangels an verlässlichen Daten realistischerweise nicht zu bewerkstelligen. Daher belasse ich es bei dem Ist-Gehalt der Spieler, sehe aber die Aussagekraft der Analyse aufgrund der weitaus größeren Spannbreite der Gehälter im Vergleich zu den Whoscored-Werten nur wenig beeinträchtigt (auch nach einer Normierung wären die Abweichungen der Spieler im Bayern-Kader voneinander immer noch signifikant).

Den Untersuchungszeitraum bilden die beiden Bundesliga-Spielzeiten 22/23 und 23/24, Stichtag für die laufende Saison ist der 26. Spieltag, also der Tag vor der letzten Länderspielpause und damit vor dem BVB-Spiel. Um trotz der uneinheitlichen Saisonlängen einen einheitlichen, unverzerrten Whoscored-Wert über beide Spielzeiten zu erhalten, fließt die vergangene Spielzeit 22/23 mit 57 % Gewicht und die laufende Spielzeit 23/24 mit 43 % Gewicht in die Berechnung ein. Für die Spieler Kane, Laimer, Kim, Pavlovic, Dier und Guerreiro allerdings gilt zu 100 % der Whoscored-Wert der Saison 2023/24, da sie erst seit dieser Spielzeit beim Verein sind.

Die positive Nachricht vorweg: Fast alle FC Bayern (Stamm-)Spieler (mit Ausnahme von Neuer und Upamecano) performen mindestens in dem Maße, der auf ihrer Position in Europa durchschnittlich zu erwarten ist. Das ist auch nicht sonderlich verwunderlich, da die Leistungsbestandteile, die für einen offensiven, erfolgreichen Fußball sorgen – viele geschossene Tore, viele erfolgreiche Pässe, viele geblockte Schüsse usw. -, sich grundsätzlich positiv auf den Whoscored-Wert auswirken und der FC Bayern trotz anzunehmender Vizemeisterschaft bei diesen Indikatoren im europäischen Vergleich immer noch sehr gut abschneidet. Umso kritischer sollte man daher die Werte der FC-Bayern-Spieler im Detail bewerten, von denen sich auf den zweiten Blick einige interessante Cluster von Spielern zeigen (siehe Abbildung 1).

Abbildung 1: Gehalt vs. Whoscored-Over/Under FC Bayern 22/23 + 23/24

Die Kategorien

Die „teure Mittelklasse“ : Sonderfall Müller, Neuer/Goretzka/Gnabry kritisch

Zunächst zur Klasse der Normalperformer: Diese Klasse zeichnet sich dadurch aus, dass sie zwei eindeutige Cluster von Spielern aufweist. Auffällig ist zunächst das Cluster um Neuer, Goretzka, Gnabry, Müller und de Ligt, die “teure Mittelklasse”. Alle diese Spieler performen lediglich „im europäischen Durchschnitt“ (sind also maximal 0,2 über dem Whoscored-Wert auf ihrer Position). Sie sind damit am unteren Ende der Leistungsskala im Verein, bewegen sich beim Gehalt aber in den hohen Regionen. Wie später noch gezeigt wird, gibt es Spieler, die ähnlich performen, aber deutlich weniger verdienen (sowie Spieler, die gleich viel verdienen, aber deutlich besser sind). In Summe kosten diese 5 Spieler den Verein fast 100 Millionen Euro pro Jahr an Gehältern, sie lieferten die letzten zwei Jahre aber kaum bessere Leistung ab als das, was auf ihrer Position im Mittel in den europäischen Ligen erwartet werden kann – und mutmaßlich auch günstiger zu haben wäre.

Bei dieser Bewertung ist allerdings eine Einschränkung zu berücksichtigen, die sich durch die ganze Analyse zieht: Spieler, die oft ein- und ausgewechselt werden, tendieren generell zu schwächeren Whoscored-Werten. Das liegt daran, dass sich der Whoscored-Wert additiv berechnet, ausgehend von einem Startwert von 6,0 für jeden Spieler in jedem Spiel, egal wann er aufs Feld kommt. Positive Aktionen während eines Spiels – etwa ein erfolgreiches Dribbling, ein erfolgreiches Tackling oder ein geschossenes Tor – fügen etwas zu diesem Wert hinzu, negative ziehen etwas davon ab. Faktisch ist es so, dass für den Whoscored-Algorithmus die meisten Aktionen eines Spielers positive Aktionen sind: In lediglich knapp über 10 % der Fälle beendet ein Spieler ein Spiel mit einem Whoscored-Wert von weniger als 6,0. Der Whoscored-Algorithmus ist also “positivlastig”. Pro Minute Spielzeit gewinnt ein Spieler im Mittel mehr Punkte, als er verliert. Spieler, die in einem Spiel ein- oder ausgewechselt werden, haben also im Durchschnitt weniger Gelegenheit, ihren Whoscored-Wert nach oben zu bewegen, als solche, die durchspielen, und je häufiger sie nicht durchspielen, desto spürbarer wirkt sich das negativ auf ihren aggregierten Score für die gesamte Saison aus.

Am Beispiel Thomas Müller lässt sich die tendenzielle Benachteiligung von Einwechselspielern besonders anschaulich zeigen. Müller wurde in fast der Hälfte seiner 24 Einsätze in dieser Saison spät gebracht. Daher hatte er überdurchschnittlich selten die Zeit, seinen Whoscored-Wert nach oben zu treiben. Von seinen elf Einwechslungen endeten nur zwei mit einem Whoscored-Wert oberhalb seines Durchschnittswertes für die ganze bisherige Saison (6,73). Berücksichtigt man diesen Effekt in der Endbewertung (6,95), ist es vor allem Müllers gute Vorsaison (7,12), bei der er mehr zum Stamm gehörte, die ihn vor einer unter dem Strich noch enttäuschenderen Bewertung bewahrt. Manche mögen dennoch mit Skepsis auf Müllers Whoscored-Schnitt im Verhältnis zu seinem Gehalt von 20,5 Millionen Euro pro Jahr blicken (für einen Überblick über alle Spieler siehe Abb. 2). Aber die hohe Bezahlung, die ihn diesem Cluster zuordnet, lässt sich bei ihm womöglich noch mit weiteren Gründen rechtfertigen, die später noch erläutert werden. 

Abbildung 2: Gehälter und Whoscored-Werte des aktuellen FC-Bayern-Kaders

Bei den weiteren Spielern der „teuren Mitelklasse“ sieht die Bilanz kritischer aus. Mit Abstrichen vergleichbar zu Müller ist Serge Gnabry. Er kommt in der laufenden Saison mit nur 7 Einsätzen und davon 3 Einwechslungen auf einen Whoscored-Wert von 6,74; er kam vergangene Saison, ähnlich wie Müller, auf einen Wert von immerhin 7,1, wurde allerdings auch schon in jedem dritten Spiel eingewechselt, war damit also nicht wirklich bedingungsloser Stammspieler. In der Summe beschert ihm dies einen Whoscored-Wert von 6,94, mit einem Over/Under von +0,13, was im Kader-internen Vergleich schwach ist. Dafür spielt er gehaltstechnisch mit 19 Millionen Euro pro Jahr in der oberen Liga. Die These, dass Gnabry für die Anzahl seiner Einsätze und gezeigte Leistung sehr viel Geld verdient, ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Mehr dazu später.

Leon Goretzka, mit einem Whoscored-Wert von 6,97 (Over/Under von +0,16) und einem Gehalt von 18 Millionen Euro, reiht sich ebenfalls in diese Gruppe ein. Auch wenn die aktuelle Saison recht solide ist (Whoscored-Wert von 7,07), war die Spielzeit davor sehr durchwachsen. Gleichzeitig hat er den Bonus, dass er im Unterschied zu Müller und Gnabry eigentlich immer von Anfang an ran darf. Das heißt, wenn Goretzka spielt, hat er keinen so starken statistischen Nachteil, was seinem Whoscored-Wert betrifft. Dass er insbesondere letzte Saison diese Chance bekommen hat, aber nicht für höhere Whoscored-Werte nutzte, mag die anhaltende Kritik an ihm und folgende De-Nominierung aus der Nationalmannschaft begründen. Die nächsten Wochen könnten für Goretzkas finale Bewertung im Verein daher nicht unerheblich sein.

Noch kritischer wird die Betrachtung für Manuel Neuer (Whoscored-Wert von 6,69 und 21 Millionen Euro Gehalt po Jahr). Wenn gesund, startete und spielte er alle Spiele durch, die Leistungen in den letzten beiden Jahren liegt aber unter dem Schnitt aller Torhüter in Europa (Over/Under von -0,02). Vor allem die statistisch sehr schwache laufende Spielzeit (Whoscored-Wert von 6,5) führt zu diesem Resultat. Ähnlich wie bei Müller mag es zusätzliche Gründe für die gute Bezahlung geben. Dennoch ist Neuer neben Upamecano der einzige Spieler mit regelmäßigen Startelfeinsätzen im Kader, der im Ligabetrieb schlechtere Leistung als der europäische Durchschnitt zeigt. Das ist in gewisser Weise überraschend und lässt verständlicherweise die Frage aufkommen, wie lange der Verein weiter auf ihn setzen will, zumal Sportdirektor Christoph Freund erst im November mit der Aussage zitiert wurde, Neuer sei der „beste Torhüter der Welt“.

Für manche vielleicht auch überraschend befindet sich der allseits beliebte Matthijs de Ligt in dieser Gruppe (Whoscored-Wert 6,87). Sein Over/Under von +0,16 ist auf dem Niveau von Goretzka und Müller. Er verdient mit 16 Millionen Euro etwas weniger, zählt aber trotzdem zu den Top 10 im Verein beim Gehalt. Das anfängliche Teilzeit-Engagement als Bankdrücker unter Tuchel führte dieses Jahr dazu, dass er zunächst nur wenig Gelegenheit für gute Whoscored-Werte hatte. Vergangene Saison als Stammspieler (u. a. MSRs „Spieler der Saison“) hätte ihn sein Over/Under mit knapp +0,22 ins nächstbeste Cluster gehoben. Aktuell ist er fester Bestandteil der bis zur Länderspielpause wiedererstarkten Innenverteidigung und idealerweise braucht er eine weitere Saison als unangefochtene Nummer eins in der Innenverteidigung, um sein Gehalt zu rechtfertigen.

Zusammenfassend ist dieses Cluster nicht ohne kontroverse Punkte. Rein statistisch liefern all diese Spieler nur „Durchschnitt“ ab, das heißt, sie heben sich nicht sonderlich vom europäischen Median ab, werden aber sehr gut bezahlt. Zur Bewertung sei bemerkt, dass „weiche“ Faktoren wie Führungsqualitäten, Erfahrung oder Talent in dieser Betrachtung außen vor bleiben. So ist Müllers Einfluss auf dem Platz zweifelsohne nicht in diesen Statistiken zu messen und seine Rolle für den Verein als Identifikationsfigur und Sprachrohr nach außen mit Sicherheit ein zusätzliches Argument für seine Bezahlung. Ähnliches kann man für Manuel Neuer behaupten, der als Kapitän eine wichtige Rolle innehat und dessen immense Erfahrung sowie die Sicherheit und Verlässlichkeit, die er auf seine Vorderleute ausstrahlt, gerade in engen Spielen entscheidend sein kann. Für de Ligt, dem eine zukünftige Führungsrolle in der Verteidigung nachgesagt wird (ein zuletzt oft kritisiertes Vakuum in der Mannschaft), könnte dieses Potential ebenfalls als Argument herangeführt werden. Zumal de Ligt mit Abstand der jüngste Spieler in diesem Cluster ist und damit theoretisch noch Verbesserungspotential hat, während das für die etablierten gut bezahlten Stammspieler, die bald die 30 erreichen (oder schon darüber sind), nur noch eingeschränkt der Fall ist. Sieht man die 16 Millionen Euro Jahresgehalt für de Ligt als ein Investment des Vereins in die Zukunft, müsste er einerseits den nächsten Schritt tun in seiner Entwicklung (d. h. die Leistung aus letzter Saison wiederholen) und andererseits in absehbarer Zeit Neuer als Kapitän ablösen. Während man für Müller, Neuer und de Ligt also noch mildernde Umstände anführen kann, wird die Luft für Gnabry und Goretzka dünner. Beide haben weder deutliche spielzeitbedingte statistische Nachteile noch bringen sie auf der „weichen Faktoren“-Ebene ein Plus. Mehr dazu im Fazit im zweiten Teil dieses Artikels.

Der zweite und letzte Teil dieses Artikels mit den beiden anderen Kategorien und einem Fazit erscheint in den kommenden Tagen hier auf misanrot.de

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