FC Bayern München – Kaderanalyse, Teil 2: Ribérys und Rafinhas
Die Aussage, ein Kader eines Fußballclubs umfasse 18 oder 25 Spieler mag für eine Überschrift oder Pressekonferenz passen, für eine tiefgehende Analyse eignet sie sich nicht. Wir haben im ersten Teil gezeigt, dass bereits die Frage nach der Kadergröße keine triviale ist.
Doch damit beginnen die Komplikationen erst. In der Detailanalyse stellen sich neue Fragen. „Man braucht Häuptlinge und Leute, die das Ballnetz schleppen“ wäre eine typische Forderung für die unterschiedlichen Profile im Kader. „Jede Position muss doppelt besetzt sein“ ist eine andere beliebte Standarderwartung. Was davon ist sinnvoll? Und welche Kriterien sind darüber hinaus wichtig, wenn es um die Zusammensetzung des Kaders geht? Das schauen wir uns im zweiten Teil der Kaderanalyse an.
Die Kaderanalyse erfolgt in drei Teilen: Teil 1: Was macht die richtige Kaderzusammenstellung für einen Fußballverein wie den FC Bayern generell aus und wie groß soll der Kader insgesamt sein? In diesem zweiten Teil geht es um die Details der Kaderzusammenstellung: Stars und Sternchen; und wie viele Linksverteidiger braucht es? Im nächsten und letzten Teil wird dann der aktuellen Kader des FC Bayern an den in den Teilen 1 und 2 ermittelten Kriterien gemessen.
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Das richtige Alter für den Bayernkader
Sind erfahrene Mannschaften unerfolgreich, heißt es, der Kader sei zu alt. Sind junge Mannschaften unerfolgreich, heißt es, dem Kader fehle Erfahrung. Fußballanalyse ist zu oft eine Zuschreibung nachträglich passender Narrative. Die Wahrheit dürfte auch bei der Frage nach dem richtigen Alter für einen Kader eine komplizierte sein.
Fraglos gibt es dabei unterschiedliche Einflussfaktoren. Erfahrung kann in Drucksituationen helfen. Toni Kroos wird nicht mehr nervös, wenn er im Champions-League-Finale 1:0 zurückliegt. Zu viel Erfahrung kann für einen Kader auf und neben dem Platz ein Problem sein. Nicht alle Spieler altern so gut wie Robert Lewandowski oder Cristiano Ronaldo. Die Gefahr, dass Spieler wegen vergangener Meriten aufgestellt werden, obwohl junge Herausforderer besser in Form sind, ist eine reale.
Der FC Bayern setzt mal mehr, mal weniger auf die Jugend
Um das Alter eines Kaders in einer Kennzahl darzustellen, bietet sich der Blick auf das anhand der tatsächlich gespielten Minuten gewichtete durchschnittliche Alter der eingesetzten Spieler an. Der einfache Durchschnitt über alle Spieler im Kader kann verfälschen, dort haben „Papierspieler“ aus der eigenen Jugend ein zu großes Gewicht.
In der Saison 2012/13 setzte Jupp Heynckes auf ein Team, das im Schnitt über alle Spiele 26,6 Jahre alt war. Die dreizehn Spieler mit der meisten Einsatzzeit waren alle unter 30. Erst Daniel van Buyten, der in seiner Rolle als wertvoller Backup auf 1.910 Minuten kam (Rang 14 nach Einsatzzeit) durchbrach diese symbolische Altersgrenze.
In den Jahren nach dem Triple wurde der Kader stets älter. Eine nachvollziehbare Politik: Viele Erfolgsspieler wurden gehalten, weitere erfahrene Spieler kamen dazu, um die Hochphase des Kaders für einen weiteren Titel in der Königsklasse zu nutzen. Dafür sollte es nicht reichen.
Im Zeitverlauf fällt auf, dass ausgerechnet die Verjüngungskur 2019/20 zum nächsten Titel in der Champions League führen sollte. Joshua Kimmich (24), Benjamin Pavard (23) Alphonso Davies (18) und Serge Gnabry (23) gehörten zu den jungen Spielern, die in diesem Jahr auf viel Einsatzzeit kamen und starke Leistungen zeigten.
In der Saison 2023/24 setzt der FC Bayern auf Erfahrung. Vor der Saison kamen mit Harry Kane (30), Min-jae Kim (27), Konrad Laimer (26) und Raphaël Guerreiro (30) Spieler im besten Alter, in der Winterpause ergänzt Eric Dier (30) die Gruppe.
Wie viel Erfahrung darf es sein für die Champions League?
Die Champions-League-Sieger setzten in ihren Pflichtspielen seit 2012 durchschnittlich 26,8 Jahre alte Spieler ein. Auch bei Weltmeisterschaften liegt das langfristige Durchschnittsalter der Titelträger bei rund 26 Jahren.
Der Bayernkader der Saison 2023/24 ist nach Einsatzzeit effektiv 27,8 Jahre alt und damit um einiges älter. Im Vergleich mit den Champions-League-Siegern seit 2013 übertrifft man damit noch den Kader von Real Madrid, der 2021/22 mit Durchschnitt von 27,7 Jahren der ältestes Titelträger der letzten elf Jahre war.
Erfahrung schützt vor Titeln nicht. Die Analyse des Durchschnittsalters ist keine exakte Wissenschaft insofern, als ein zu alter Kader nicht gewinnen könne. Der Transfer von Harry Kane hat die Titelchancen des FC Bayern fraglos erhöht. Der wichtigere Rückschluss für den FC Bayern wäre, bei weiteren Abgängen und Zugängen darauf zu achten, den Kader zu verjüngen.
Drittes Zwischenfazit
Relativ junge Teams siegen unerwartet oft in Champions League und bei der Weltmeisterschaft. Die Verlockung ist groß, als Super-Club auf erfahrene Spieler zu setzen. Doch frische Impulse und neue Dynamiken durch jüngere Spieler im Kader sind wichtige Erfolgsfaktoren.
Der FC Bayern braucht Bienenköniginnen und Drohnen
Bisher haben wir für die Kaderanalyse kaum nach dem „Starlevel“ der Spieler unterschieden. Doch nicht alle Minuten sind gleich, nicht alle Spieler sind gleich. Florentino Pérez erklärte seine Kaderpolitik zu Zeiten der Madrider „Galácticos“ einst als „Zidanes y Pavones“. Die Superstars wie Zinedine Zidane sollten um eher unbekannte Talente wie Francisco Pavón ergänzt werden. Bei den „Galácticos“ mag die Spanne zwischen Weltstars und Kaderfüllern extrem gewesen sein, im Grundsatz gibt es sie in allen Kadern: Stars, Superstars und Ergänzungsspieler. Das gilt auch für den FC Bayern.
Die Einstufung in die jeweilige Kategorie ist keine triviale. Es gibt kein einzelnes, hartes Kriterium zur Einteilung. Es ist ein Zusammenspiel aus Marktwert, Renommee, Leistung, Popularität und der Rolle in der Kabine. Einige Aspekte dieser Aspekte finden sich im Gehalt der Spieler wieder.
Angaben zu Gehältern einzelner Spieler sind mit Vorsicht zu genießen. Mediale Angaben dazu sind oft interessengeleitet. Berater haben zum Beispiel ein Interesse daran, möglichst hohe Gehälter in den Medien zu platzieren. Brutto oder netto? Wie sind Prämien berücksichtigt? Wie geht man mit Handgeldern um?
Die Abbildung zeigt für die Beispieljahre 2013/14 und 2020/21, jeweils nach dem Champions-League-Sieg, beim FC Bayern eine Handvoll Größtverdiener und dahinter ein breites Feld Großverdiener. Am Ende der Gehaltskette finden sich Jugendspieler, deren Saläre deutlich abfallen.
Hoeneß‘ Ideal der Ribérys und Rafinhas
„Nein, du kannst nicht drei Ribérys haben. Franck lebt davon, dass er viele Bälle bekommt, dass er hohe Spielanteile hat. Alle regen sich bei uns darüber auf, dass die rechte Seite so schlecht ist und so wenig über sie läuft. Aber was meinen Sie, was der Franck veranstalten würde, wenn er plötzlich weniger Bälle bekommen würde? Du brauchst Häuptlinge und Indianer in der Mannschaft. Schauen Sie sich Manchester City an: Die kaufen wie wild, sind aber in England nur Tabellenzehnter. Man braucht fünf, sechs, acht Spieler mit Weltklasse-Niveau und welche, die sie ergänzen. Diese Spieler sind auch wichtig, aber man muss aufpassen, dass sie keine Allüren bekommen. Da muss man auf die Balance achten“, so erklärte der ehemalige Manager 2009 in der Bild-Zeitung seine Kaderzusammenstellung. Die Rolle von Rafinha als fleißiger Drohne in der zweiten Reihe übernahmen damals noch Spieler wie Andreas Ottl oder Christian Lell.
Für die Einteilung des Kaders definieren wir folgend vier „Tiers“ (Klassen). Mehr als vier wäre zu scheingenau. Weniger wäre möglich, uns scheint der Split in diese vier aber sinnvoll.
Tiers im Kader
Der Anglizismus „Tier“ bietet sich für die verschiedenen Spielerkategorien im Kader an. Tier ist ein ursprünglich im US-Sport und mittlerweile in der deutschen Sportberichterstattung gebräuchlicher Begriff zur Einordnung von Sportlern oder Sportmannschaften in verschiedene Leistungsklassen. Deutsche Alternativen wie Klassen, Niveaustufen, Kategorien oder Segmente klingen unpassend.
Tier 1: Die Superstars des FC Bayern
Sie finden sich in jeder Wunschelf. Sie sind die Gesichter des Clubs. Sie verkaufen Trikots, sie verdienen die Top-Gehälter – und zahlen diese in der Regel mit Spitzenleistungen zurück. Nach ihnen werden später einmal Generationen und Achsen benannt, von der Achse Maier-Beckenbauer-Müller bis zur Generation Lahmsteiger.
Rolle im Kader: unstrittig.
Wenn es Diskussionen um diese Spieler gibt, dann auf einem anderem Niveau: „Was ist los mit Kimmich“ oder „taucht Lewandwoski in großen Spielen ab“ (Spoiler: nein).
Beispiele der jüngeren Vergangenheit: Lahm, Lewandowski, Neuer, Kimmich, Kane, Müller.
Tier 2: Die Stars des FC Bayern
Sie finden sich oft in der Wunschelf, sind in der Regel Nationalspieler. Läuft es gut, spielen sie 3000 Minuten und mehr oder entwickeln sich gar zu Superstars. Läuft es schlecht, verlieren sie ihre Stammplätze.
Rolle im Kader: viel diskutiert und dynamisch.
Wenn sie nicht spielen, fordern Experten und Fans, der Trainer solle auf sie setzen. De facto bekommen sie aber wegen Verletzungen/Rotationen viele Minuten. Beim FC Bayern sind etwa die offensiven Flügel seit Jahren hart umkämpft. Vor der Saison 2022/23 etwa schien Leroy Sané etwas hinter Serge Gnabry und Kingsley Coman zu stehen, aktuell ist es umgekehrt.
Beispiele der jüngeren Vergangenheit: Sané, Gnabry, Goretzka, Pavard, Vidal, Hernández.
Tier 3: Die Ergänzungsspieler des FC Bayern
Sie finden sich vor der Saison in (fast) keiner Wunschelf. Niemand ist enttäuscht, dass sie grundsätzlich in der zweiten Reihe stehen und auf der Bank sitzen. Von Tier 3 aus geht es entweder in die Fußballrente, in Tier 2 oder zu einem anderen Verein.
Rolle im Kader: unstrittig.
Ihre Karriere klingt langsam aus wie bei Claudio Pizarro, Daniel van Buyten, Eric Maxim Choupo-Moting oder Sandro Wagner. Sie sind froh, dass sie in der zweiten Reihe noch einige gute Jahre beim FC Bayern verbringen dürften. Auch jüngere Spieler übernehmen diese Rolle, dann aber meist nur so lange, bis ihnen klar geworden ist, dass es für den Aufstieg in Tier 2 nicht reicht
Beispiele der jüngeren Vergangenheit: Rafinha, Roca, Pizarro, van Buyten, Choupo-Moting, Rode.
Tier 4: Der Nachwuchs des FC Bayern
Sie kommen aus den Nachwuchsteams des FC Bayern und sammeln erste Erfahrungen bei den Profis. Sie komplettieren Training, Kaderplätze – teils um Local-Player-Regelungen der UEFA zu erfüllen – und sammeln erste Einsätze in Testspielen und Pflichtspielen.
Rolle im Kader: in Entwicklung.
Für die meisten ist Tier 4 ein kurzer Zwischenstopp. Entweder steigen sie danach im Tier auf, oder sie verlassen den FC Bayern und suchen ihr Glück im Profifußball woanders.
Die Positivfälle können so verlaufen wie bei Musiala, der in seiner ersten Saison mit Profitraining auf zwei Einsatzminuten kam, sich im Training aber zeigen konnte und im zweiten Jahr 2020/21 bereits den Sprung auf 1302 Minuten und ins dritte Tier schaffte und danach weiter aufstieg.
Beispiele der jüngeren Vergangenheit: Musiala, Scott, Dajaku, Batista-Meier, Wanner, Lawrence.
Einteilung am Beispiel des 2012/13er-Kaders des FC Bayern
Die Einstufung in die verschiedenen Tiers wird bei einigen Spielern eindeutig, bei anderen strittig sein. Losgelöst von einzelnen Wackelkandidaten hilft die Einteilung dabei, die Struktur im Kader aufzuzeigen.
Manuel Neuer etwa hatte 2012 noch nicht das heutige Standing. Javi Martínez war zwar einerseits Heynckes‘ Königstransfer, in Punkto Renommee und Gehalt war er aber noch eine Stufe unter den Superstars des Kaders. Beide dürften im Tier 2 gut aufgehoben sein.
Die Startelf des Champions-League-Finals bestand aus den fünf Superstars und sechs Stars: Neuer – Lahm, Boateng, Dante, Alaba – Schweinsteiger, Martínez – Robben, Müller, Ribéry – Mandžukić.
Der Kader umfasste 22 Superstars, Stars und vollwertige Ergänzungsspieler, sodass die weiteren Stars und Backups eine zweite Elf bilden konnten: Starke – Rafinha, van Buyten, Badstuber, Contento – Tymoshchuk, Gustavo, Kroos – Shaqiri, Pizarro, Gómez.
Von den sieben aufgeführten Talenten sammelten in der Saison 2012/13 nur Can (464 Einsatzminuten), Højberg (17) und Weiser (11) Spielzeit.
Viertes Zwischenfazit
Kader von Fußballclubs brauchen Zidanes y Pavones oder Ribérys und Rafinhas. Eine Einteilung in die Tiers Superstars, Stars, Ergänzungsspieler und Nachwuchsspieler bietet sich für den FC Bayern an. Eine Handvoll Superstars, ein dutzend Stars und dahinter Ergänzungsspieler scheint dabei eine passende Aufteilung zu sein.
Polyvalenz und die Besetzung von Positionen im Bayernkader
Für die richtige Zusammensetzung von 18-25 Spielern im Bayernkader haben wir bis hierher eine Reihe von Indikatoren gesammelt. Das Gros der Spielzeit etwa wird von rund 18 Spielern absolviert. Große Erfolge werden oft von überraschend jungen Kadern erlangt, und für jeden Ribéry braucht der FC Bayern zwei Alabas und einen Rafinha im Kader.
Ein wichtiges Thema ist noch nicht beleuchtet: Wie stellt der FC Bayern sicher, dass die Balance zwischen offensiven und defensiven Spielern, zwischen Innnen- und Außenverteidigern stimmt? Die Frage können Vereine letztlich nur intern beantworten. Denn ob Goretzka als Innenverteidiger gezählt wird oder Alaba als Mittelfeldspieler, liegt in der Verantwortung des Trainers. Grundlegende Einschätzungen sind dennoch möglich.
Flexibilität der Trainer als Einflussfaktor für die Bewertung der Positionen
Real Madrid hat in der Saison 2023/24 mit Luka Modrić, Toni Kroos, Fede Valverde, Jude Bellingham, Aurélien Tchouaméni und Eduardo Camavinga sechs Stars im Kader, die sich im zentralen Mittelfeld am wohlsten fühlen. Kroos, Bellingham und Co. sind keine Spieler, die zu oft auf der Bank sitzen sollten. Gleichzeitig fehlt nach dem Wechsel von Weltfußballer Karim Benzema ein klassischer Mittelstürmer internationalen Formats. Beides könnte ein Problem im Kader sein. Und erklärt auch, dass es im Transferfenster im Sommer 2023 kurzzeitig Gerüchte um Abgänge von Tchouaméni gab.
Ob Carlo Ancelotti intern auf den Verkauf eines überzähligen Mittelfeldspielers und die Verpflichtung einer „Holding Nine“ drängte, ist nicht bekannt. Die Mittelfeldspieler blieben, ein Benzema-Nachfolger kam nicht – und Ancelotti veränderte sein System. Aus dem langjährigen Madrider 4-3-3 wurde ein 4-Raute-2. In der Raute hat Ancelotti Platz für vier der zentralen Mittelfeldspieler. Bellingham interpretiert die Rolle als Spitze der Raute so, dass er regelmäßig ins Sturmzentrum vorstößt. Mit der Umstellung hat Ancelotti beide Probleme gelöst und Bellingham nebenbei zu einem famosen Einstand bei Real verholfen.
Beim FC Bayern saßen in der gleichen Saison für die Offensive zeitweise Müller, Gnabry und Tel auf der Bank, während in der Defensive Pavlović im Mittelfeld oder Goretzka und Sarr in der Abwehr aushelfen mussten. Tuchel behielt das 4-2-3-1 in seiner taktischen Ausrichtung bei. Bei Tuchel sind die vier Verteidiger und mindestens einer der beiden Sechser eher für die Defensive zuständig. Für die Offensive vertraut er auf die vier übrigen Spieler und die situativ nachrückenden Außenverteidiger oder Mittelfeldspieler.
Tuchel hätte nach Ende des Transferfensters zum Beispiel auf ein 4-1-4-1 umstellen können. Vor Kimmich als alleiniger Sechs wäre Platz für einen weiteren Offensivspieler wie Thomas Müller gewesen. Mit Goretzka wäre die Position doppelt besetzt gewesen, während Laimer als Vollzeit-Rechtsverteidiger auch dort für ausreichend Tiefe gesorgt hätte. Gleichzeitig wäre das Luxusproblem von zu wenig Spielzeit für Müller und Tel kleiner geworden.
Tuchel entschied sich dagegen. In der Konsequenz wirkte der Bayernkader schlecht ausbalanciert, während der Real-Kader stimmig wirkt. Tuchels Ansatz ist nicht falsch. Seine Erfolge geben ihm Recht. Es ist nachvollziehbar, dass er nicht auf Kimmich als alleinigen Mittelfeldspieler vertraut.
Es ist ein Abwägen zwischen Vorrang des Systems gegenüber dem vorhandenen Personal – notfalls mit Kompromissen bei der Aufstellung und idealerweise mit entsprechenden Spielertransfers – und der Suche nach dem richtigen System fürs vorhandene Personal. Beides hat Vor- und Nachteile.
Allein mit Blick auf die Bewertung des Kaders wird die Tuchel’sche, eher kompromisslose Variante oft schlechter zusammengestellt aussehen als die Ancelotti-Variante.
Fluch und Segen der Polyvalenz für die Kaderzusammenstellung
Leon Goretzka wird meist im zentralen Mittelfeld eingesetzt. Zuletzt auch in der Innenverteidigung. Konrad Laimer kann im Mittelfeld und als Rechtsverteidiger spielen. Alphonso Davies kam bei Bayern schon als Linksverteidiger, linker Schienenspieler vor einer Dreierkette und als Linksaußen zum Einsatz. In der kanadischen Nationalelf spielte er im zentralen Mittelfeld.
Torhüter und Mittelstürmer außen vor – und selbst dort könnte man mit Blick auf Manuel Neuer und Harry Kane zu anderen Schlüssen kommen – kann fast jeder Spieler im modernen Fußball mehrere Positionen bekleiden. Zu ähnlich sind einzelne Anforderungsprofile, zu vielseitig die Talente der Spieler.
Diese Polyvalenz ist einerseits ein Segen bei der Kaderplanung: Fünf Ersatzspieler reichen in der Regel für alle Wechseloptionen. Zudem hilft es Trainern beim Verteilen von Spielzeit im Sinne eines Kadermanagements. Drei Flügelstürmer, die sich die Einsatzzeit als Links- und Rechtsaußen teilen, kommen im Durchschnitt auf 67 % der Spielzeit. Zwei Rechtsaußen, die nur um diese Position konkurrieren, kommen im Durchschnitt auf 50 % der Spielzeit.
Für die Kaderplanung kann das auch ein Fluch sein. Zu leichtfertig wischt man die angedachte Verpflichtung eines weiteren Mittelstürmers oder Rechtsverteidigers mit der Begründung zur Seite, dieser oder jener Spieler könne das zur Not auch.
„Jede Position doppelt besetzt“ funktioniert nicht als einfache Regel
„Wenn jede Position doppelt besetzt ist, reicht das“, so zitierte die Leipziger Volkszeitung den damaligen Leipzig-Trainer Domenico Tedesco.
Eine oft genannte Daumenregel. Eine Regel, die isoliert formuliert nichts bringt.
Bouna Sarr ist Rechtsverteidiger, Josip Stanišić ist Rechtsverteidiger. Wären beide die einzigen Rechtsverteidiger im Bayernkader, die Position wäre doppelt besetzt. Wäre die Position ausreichend besetzt? Es ist intuitiv klar, dass dies nicht der Fall ist. Aber woran macht man das fest? Der reine Verweis auf die Quantität ohne Verknüpfung mit der Qualität ist eine Nicht-Aussage. Die oben eingeführten Spieler-Tiers müssen mit der quantitativen Aussage verknüpft werden. „Wenn jede Position doppelt besetzt ist, und mindestens einer der beiden ein Star ist, reicht das“, ist der Gedanke, den Tedesco unausgeprochen im Kopf hat.
Gleichzeitig haben die bisherigen Analysen nach Einsatzzeit, Gehaltsverteilung und Einordnung in Star-Tiers gezeigt, dass es in der Regel keine 22 gleichwertigen Spieler auf höchstem Bayernniveau im Kader gibt. Die Spieler in Tier 1 und Tier 2, die Spieler, die über 1000 Minuten spielen, sollten sich die elf Positionen auf dem Platz aufteilen.
Jede Position beim FC Bayern sollte 1,5-fach mit Stars und Superstars besetzt sein
Die Erkenntnis des vorherigen Absatzes kann man in folgender These zusammenfassen:
Die Superstars und Stars (Tier 1 und Tier 2) sollten alle elf Positionen 1,5-fach besetzen. Talente und Ergänzungsspieler sorgen für weitere Tiefe im Kader, sodass nominell eine Doppelbesetzung aller Positionen hergestellt ist.
Die meisten Positionen kommen in Pärchen, insbesondere im 4-2-3-1 oder 4-4-2. Zwei Innenverteidiger, die Doppelsechs, zwei Außenverteidiger, zwei Spieler auf jeder Seite (Außenverteidiger-Außenstürmer-Pärchen), zwei Flügelstürmer, Mittelstürmer und hängender Stürmer. Analog dazu braucht es sechs Spieler für vier Positionen. Das kann als Näherung helfen, wenn man zum Beispiel die Offensive oder die Abwehrkette clustert.
Eine 1,5-fache Besetzung aller Positionen mit Stars und Superstars würde 17 Spielern (darunter zwei Torhütern) entsprechen.
Mit je drei Spielern aus den höchsten Tiers für zwei Positionen bleiben Trainern genug Alternativen, um auf Form, Matchpläne oder kurzfristige Verletzungen zu reagieren. Gleichzeitig bleibt der Konkurrenzkampf um die Stammplätze auf einem gesunden Niveau und die Spielzeit dieser 16-18 Spieler sollte ihre Ansprüche einigermaßen zufrieden stellen.
Beispiele: Für die Besetzung in der Innenverteidigung wären beim FC Bayern im aktuellen Kader mit Min-jae Kim, Matthijs de Ligt und Dayot Upamecano die drei Planstellen erfüllt. Eric Dier würde als Ergänzungsspieler die Doppelbesetzung komplettieren.
Fasst man die Viereroffensive wegen der ohnehin flexiblen Spielweise von Sané und Co. zusammen, bräuchte es hier nach dem Ansatz sechs Starspieler. Harry Kane, Thomas Müller, Leroy Sané, Serge Gnabry, Kingsley Coman und Jamal Musiala erfüllen die Vorgabe. Eric Maxim Choupo-Moting und Mathys Tel komplettieren die Doppelbesetzung als Ergänzungsspieler.
Die Klassifizierung zeigt auch, warum Tel in der Saison 2023/24 nicht auf mehr Einsatzzeit kommt: Er hat noch zu viele Spieler der Top-Tiers vor sich.
Fünftes Zwischenfazit
1,5-fach besetzt ist das neue doppelt besetzt. Schafft der Kaderplaner es, alle Positionen 1,5-fach mit Stars und Superstars zu besetzten und schließt die Lücke zur Doppelbesetzung mit Ergänzungsspielern, sollte der Kader den Ansprüchen des FC Bayern genügen.
Ausblick
In den ersten beiden Teilen wurden eine Reihe von Benchmarks, best Practices und weiteren Anhaltspunkten für die ideale Kaderzusammenstellung ermittelt. Von der Größe des Kaders über die notwendigen Unterscheidungen in Stars, Superstars und Ergänzungsspieler und ihre jeweilige Rolle im Kader. Im dritten Teil wird der Kader des FC Bayern der Saison 2023/24 an den Indikatoren gemessen: Wie solide ist der Kader zusammengestellt? Welche Anforderungen erfüllt er, welche nicht?