EM-Blog: So schlägt Deutschland Ungarn

Justin Trenner 22.06.2021

Es ist alles schon ein bisschen anders gelagert. Damals, im Jahr 2018, war die deutsche Mannschaft zu keinem Zeitpunkt ihrer drei Gruppenspiele wirklich überzeugend. Zwar erzeugte der Last-Minute-Freistoßknaller von Toni Kroos nochmal so etwas wie Euphorie, aber auch das half nichts mehr: Letztendlich stand das Vorrunden-Aus.

Jetzt, drei Jahre später, stehen wieder drei Punkte nach zwei Spielen zu Buche. Wieder war man mit einer Niederlage gestartet. Und doch waren beide Leistungen in Phasen richtig gut, in anderen mindestens ordentlich. Während die Negativstimmung rund um die 0:1-Niederlage gegen Frankreich teils übertrieben war, ist auch das Träumen vom wiederauferstandenen Favoriten nach dem 4:2-Erfolg über Portugal mindestens eine Nummer zu groß. Aber die Deutschen sind zumindest gut reingekommen ins Turnier, was man 2018 nicht behaupten konnte.

Die gute Stimmung speist sich diesmal also nicht aus einem Sonntagsschuss in letzter Sekunde, sondern aus Leistungen, die viele positiv überrascht haben. Und doch ist die Situation rein auf die Zahlen reduziert dieselbe. Verlieren die Deutschen gegen Ungarn, wird es ganz eng mit dem Weiterkommen. Man wäre auf Schützenhilfe der Franzosen und anderer Gruppen angewiesen, aber diese Rechenspiele schieben wir mal beiseite. Denn das Ziel und auch der Anspruch der deutschen Mannschaft sind klar: Ein Sieg muss her gegen Ungarn. Und warum sollte das ausgerechnet gegen den kleinsten Namen der Gruppe ein Problem sein?

Ein ungarngenehmer Gegner

Weil Ungarn so ziemlich alles kann, was die Deutschen in den letzten Jahren so richtig genervt hat: Kompakt und aggressiv verteidigen, tief stehen, gleichzeitig immer hohen Druck im Mittelfeld aufbauen und in den offensiven Umschaltmomenten eiskalt zuschlagen. Es gibt etliche Beispiele der letzten Jahre, in denen die DFB-Elf darauf keine Antworten fand. Und auch Portugal sowie Frankreich haben damit Bekanntschaft machen müssen. Zwar gewannen die Portugiesen mit 3:0, aber bis zur 84. Minute stand es noch 0:0. Und hätte Szabolcs Schön nicht wenige Minuten zuvor knapp im Abseits gestanden, wäre die Geschichte vielleicht sogar positiv für Ungarn ausgegangen. Doch wie sagte Toni Kroos so schön: „Abseits ist Abseits.“

Recht hat er. Trotzdem verdeutlicht das, wie knapp Portugal einem Fehlstart entkam. Weil Ungarn sie bis an ihre Grenzen gebracht hat und es bis zu diesem 0:1 gut verstand, die Räume eng zu halten und Portugal nur in den für sie unwichtigen Zonen spielen zu lassen. Ähnlich erging es Frankreich. Zwar waren die Franzosen schon deutlich dominanter und druckvoller als die Portugiesen, aber auch sie taten sich spätestens ab dem 0:1-Rückstand kurz vor der Pause sehr schwer. Es war der erste richtig ausgespielte Konter der Ungarn und direkt das Tor.

Davon erholte sich Frankreich nicht mehr so richtig. Antoine Griezmann brachte seine Mannschaft noch zum 1:1, das war es dann aber auch. Ungarn erkämpfte sich einen Punkt, der trotz der klar verteilten Spielanteile nicht unverdient war. Und jetzt also Deutschland. Blüht ihnen ein ähnliches Schicksal?

Ungarns Pressingstruktur

Was Ungarn macht, ist eigentlich keine große Taktikkunst. Ihre Grundordnung ist ein 5-3-2, aus dem sie in verschiedenen Spielfeldzonen unterschiedlich agieren. Das Ziel ist es immer, die Spielfeldmitte in Verbindung zum Ball möglichst kompakt zu halten und es dem Gegner somit zu erschweren, zwischen den Linien Räume zu finden. Es ist das klassische „auf die Flügel lenken“. Kommt der Ball dort an, wird der Druck auf den ballführenden Spieler erhöht.

Denn Ungarn ist keinesfalls passiv. Die beiden Angreifer lenken den Spielaufbau möglichst rechts und links an sich vorbei, um denn je nach Situation zupacken zu können.

Ist der Ball in einer Halbposition, schiebt in den meisten Fällen der ballnahe Achter heraus. Die Lücke, die er auf dem Papier hinterlässt, wird durch den Sechser oder einen herausrückenden Verteidiger aufgefüllt – je nach Spielsituation und Positionierung der Gegenspieler. Intuitiv funktioniert das Auffüllen der Lücken aber äußerst gut bei den Ungarn.

Landet der Ball wiederum auf den Flügeln, ist es oft der ballnahe Flügelverteidiger, der aggressiv und mit hohem Tempo sofort attackiert, um dem Außenspieler nicht viel Zeit am Ball zu gewähren. Auch die restliche ungarische Mannschaft verschiebt stark auf die Seite, um Befreiungen über die Halbräume zu erschweren.

Deutschlands Sorgen und mögliche Lösungen

Das allein ist schon der große Unterschied zum Portugal-Spiel für die deutsche Mannschaft. Ein kompaktes Zentrum beim Gegner sind sie mittlerweile gewohnt, aber die Aggressivität der Ungarn auf den Flügeln könnte sie vor Probleme stellen – wie schon gegen Frankreich. Damals fehlte es der Mannschaft von Joachim Löw an Anschlussoptionen, sobald die Flügelspieler freigespielt wurden. Das verschaffte dem Weltmeister die notwendige Zeit, um zu verschieben. Joshua Kimmich und auch Robin Gosens werden sich jetzt wieder auf mehr Druck und mehr direkte Zweikämpfe einstellen müssen.

Dass Thomas Müller aller Voraussicht nach ausfällt, ist gerade für diese Partie keine gute Nachricht. Der Bayern-Angreifer ist überragend darin, tiefe Ketten zu manipulieren und Gegenspieler aus ihren Positionen zu ziehen. Seine Raumdeuter-Qualitäten werden ohne Frage schmerzlich fehlen. Doch Deutschland hat noch weitere Waffen in ihrem Kader.

Eine Möglichkeit, die Ungarn zu knacken, ist der Halbraum. Der offensichtliche Grund liegt darin, dass das 5-3-2 dort seine natürlichen Schwachstellen hat. Drei Spieler im Mittelfeld heißt, dass man zugunsten einer breit aufgestellten Abwehrkette an Breite im Mittelfeld verliert. Diese kann nur durch Verschiebungen aufgefangen werden und das muss sich die deutsche Mannschaft zunutze machen. Ein Beispiel aus der Partie der Ungarn gegen Portugal ist das 0:1 in der 84. Minute:

Renato Sanches läuft noch vor dieser Szene dort hin, wo jetzt Rafa Silva eingezeichnet ist. Er merkt, dass sein Gegenspieler ihm folgt. Durch die zwischenzeitliche Aufstockung auf eine Sechserkette kann es sich der linke Flügelverteidiger erlauben, den Portugiesen am Flügel zu decken. Sanches wiederum läuft wieder zurück ins Mittelfeld und zieht dabei seinen Gegenspieler wieder aus der Kette. Der Effekt: Plötzlich ist ein großes Loch im linken Halbraum der Ungarn. Für einen Moment passt die Struktur nicht. Rafa Silva erkennt das, startet rein und bekommt den Ball. Er legt quer und Raphaël Guerreiro trifft zur Führung. Eine Situation, wie sie Ungarn schon häufiger zugelassen hat.

So kann es deshalb auch für die Deutschen funktionieren. Prädestiniert für die Sanches-Rolle wäre hier Müller, aber auch Leon Goretzka hat die Qualität dafür, solche Momente frühzeitig zu lesen. Doch Löw kann nicht nur positive Dinge von Portugal lernen. Bevor dieses Tor fiel, haben sich die Portugiesen auch deshalb schwer getan, weil sie sich eine konsequentere Besetzung der letzten Linie nicht zugetraut haben. Dadurch gab es zu deutliche Unterzahlsituationen, die Ungarn einfach verteidigen konnte. Deutschland sollte seiner Ausrichtung gegen Portugal also unbedingt treu bleiben – womit nicht zwingend die Formation, wohl aber die offensive Denkweise gemeint ist.

Andribbeln, Herr Rüdiger und Herr Ginter!

Das gilt auch für die Verteidiger. Gehen wir davon aus, dass Löw bei seiner Formation bleibt, werden Matthias Ginter und Antonio Rüdiger wichtige Rollen im Aufbauspiel einnehmen. Die beiden besetzen die Halbspuren, die in der Spieleröffnung bessere Passwinkel bieten als das Zentrum – vor allem deshalb, weil man von dort die gegnerische Formation aus einer diagonaleren Perspektive bespielen kann. Aber auch, weil Verteidiger in den Halbräumen eher mal Raum vor sich finden, um anzudribbeln.

Gegen Portugal haben das sowohl Ginter als auch Rüdiger das eine oder andere mal getan und auch am Mittwoch kann es eine wichtige Waffe sein, wie die folgende Szene aus dem Frankreich-Spiel der Ungarn zeigt:

Zwei Dinge sind hier entscheidend: Erstens zieht Kimpembe den rechten Achter der Ungarn aus der Formation, indem er den Raum vor sich erkennt und sofort reinstartet. Zweitens kann Mbappé sich nur deshalb im Rücken anbieten, weil seine Teamkollegen die Gegenspieler in Mbappés Nähe an sich binden. Für einen Bruchteil einer Sekunde öffnet sich der ansonsten so extrem enge Zwischenlinienraum. Mbappé kann sogar aufdrehen und mit Tempo auf die Kette zugehen. Am Ende wählen seine Teamkollegen aber unvorteilhafte Laufwege. Er legt auf Benzema ab, der wiederum noch außerhalb des Sechzehners abschließt und verfehlt.

Trotzdem: Solche Szenen gilt es zu provozieren. Serge Gnabry beispielsweise könnte hier gut die Rolle von Mbappé einnehmen. Gegen Portugal und Frankreich gab es vergleichbare Momente, in denen Gnabry sich in solchen Räumen perfekt anbieten konnte. Meist scheiterte es, wie so oft bei der deutschen Mannschaft, an der Anschlussaktion. Gern wird von der „Geilheit auf Tore“ gesprochen, wenn Teams mit besonders vielen Spielern angreifen. Deutschland hat diese Geilheit gegen Portugal gezeigt und braucht sie auch gegen eine unangenehme ungarische Verteidigung wieder.

Flanken könnten ein Mittel sein, aber …

Was ebenfalls wichtig sein wird, ist, dass die Deutschen den Ball laufen lassen und geduldig auf den richtigen Moment warten. In der Anfangsphase gegen Portugal haben sie es mit ihren Flanken ein Stück weit übertrieben. Im späteren Verlauf zeigte sich zwar, dass die Idee dahinter gar nicht schlecht war, aber wenn die Flanken reihenweise auf die großgewachsenen Innenverteidiger gehen, bringen sie der im Schnitt eher nicht so kopfballstarken Offensive nicht viel.

Gegen Ungarn könnten Flanken aber erneut ein probates Mittel werden – wenn auch etwas anders als gegen Portugal. Den Raum, den Gosens am vergangenen Samstag hatte, wird er diesmal sicher nicht bekommen. Dafür sind die Ungarn zu gut organisiert im Defensivbereich. Allerdings können die Deutschen dafür sorgen, dass sie nach Hereingaben dennoch einen Vorteil gegen die physisch starke Verteidigung des Gegners haben.

Es ist ein fast schon klassischer Guardiola-Spielzug, auch wenn er diesen nicht erfunden haben dürfte. Wenn ein Ball zurückgespielt wird, reagiert fast jede Verteidigungskette mit einer mindestens leichten Bewegung nach vorn – sie schiebt also ein bisschen heraus, um weiter Druck auf den Ball auszuüben. Dafür muss die Situation aber gut vorbereitet werden. Vorstellbar ist ein solcher Moment beispielsweise, wenn die Deutschen sich für einige Minuten in der Hälfte der Ungarn festgesetzt und sie bereits tief hinten reingedrückt haben. Das Bedürfnis, dann mal Druck aufzubauen und herauszuschieben, dürfte dann groß sein. Kommt der Pass – idealerweise auf Kimmich, weil der den darauffolgenden Ball perfekt beherrscht – zurück und schieben die Ungarn heraus, ist es die Aufgabe der restlichen Offensivspieler im Zentrum, den gegenläufigen Laufweg anzutreten.

Leon Goretzka dürfte für einen solchen Lauf geeignet sein, wie kaum ein anderer im Team. Aber auch Gosens kann so trotz vermutlich engerer Deckung des Gegners einen kleinen Vorsprung erlaufen. Ganz ohne Abseitsrisiko funktioniert der Spaß zwar nicht, aber wenn schon Flanken in die Mitte prügeln, dann mit Verstand. Das primäre Mittel sollte es gegen Ungarn aber ohnehin nicht sein.

Die Basics: Bloß keine Ballverluste

Wer diesen Blog schon etwas länger liest als erst seit der Europameisterschaft, der dürfte schon die eine oder andere sich in einigen Punkten wiederholende Vorschau auf den nächsten Bayern-Gegner gelesen haben. Kernaspekte sind dort meistens: Bloß nicht so schnell den Ball verlieren, den Gegner schön zurechtlegen und hinten reindrücken, auf den Moment warten und im richtigen Augenblick in die Tiefe gehen. Es klingt so langweilig, wie es ist. Insbesondere dann, wenn fast jeder Gegner mit einer ähnlichen Ausrichtung agiert. Dennoch muss es gesagt sein: Bloß nicht so schnell den Ball verlieren, den Gegner schön zurechtlegen und hinten reindrücken, auf den Moment warten und im richtigen Augenblick in die Tiefe gehen.

Wer Ungarn bespielen will, braucht in den meisten Fällen Geduld. Fällt kein schnelles Tor, kann das ein langer Abend werden. Fällt sogar eines für die Ungarn, bevor die Deutschen das Toreschießen eröffnen, wird es richtig eng. Umso wichtiger sind Ruhe und Geduld. Die nächste Phrase direkt hinterher: Ein Spiel hat in der Regel 90 Minuten. Deutschland sollte die Zeit ausnutzen, um Ungarn möglichst viel zu bewegen. Das bedeutet nicht, dass sie Rasenschach spielen sollen. Es braucht schon Druck, Tempo und Vertikalität – aber eben nicht um jeden Preis. Die Balance aus Risiko und Geduld wird dieses Spiel vermutlich entscheiden – noch ein Satz, der im Rahmen von FC-Bayern-Vorschauen häufig fällt.

Zu den Basics zählt aber auch, dass die Deutschen ihr hohes Pressing genauso druckvoll aufziehen wie gegen Portugal. Gegen Frankreich hatten sie ebenfalls gute Momente, als sie mal herausgeschoben und den Weltmeister unter Druck gesetzt haben. Ungarn ist schwach im Spielaufbau, aber ziemlich stark, wenn sie ihre technisch begabten Offensivspieler ins Spiel bekommen. Dafür nutzen sie meist lange Bälle auf Szalai, der mit seiner unvergleichlichen Physis als Wandspieler fungiert und auf Sallia, Nagy und Kleinheisler weiterverteilt. Kann Ungarn diesen Spielzug durchführen, ist es fast schon zu spät.

2018 oder nicht 2018, das ist hier die Frage

Deshalb: Hohes Pressing, großer Druck, lange Bälle nur unkontrolliert schlagen lassen und die Ballgewinne möglichst für offensive Umschaltmomente nutzen. Deutschland kann das. Vielleicht sogar einen Tick besser als Frankreich und auf jeden Fall besser als die Portugiesen. Das und die Tatsache, dass sie als einzige Mannschaft nicht in Ungarn antreten müssen, dürfte ein entscheidender Vorteil sein.

Drei Jahre nach dem Debakel bei der Weltmeisterschaft haben die Deutschen die Chance, ein bisschen was zurückzugewinnen. Vertrauen, vielleicht auch ein wenig Euphorie und vor allem den Einzug in eine K.-o.-Phase bei einem großen Turnier. Dafür müssen sie sich auch im dritten Gruppenspiel nochmal steigern.

Die Anlagen sind da, der Druck ist es auch. Ohne Müller könnte es ein langer Abend für die DFB-Elf werden. Aber wenn sie Ungarn knacken und vielleicht sogar einen souveränen Auftritt hinlegen, könnte es der Grundstein für ein erfolgreiches Turnier sein.