EM-Blog: Spread love

Justin Trenner 24.06.2021

Geste und Zeichen im Fußball? Oft schwierig. Meist sind es augenscheinlich bedeutungsschwere Momente, die kurz darauf aber wieder vergessen sind. Taten folgen in den seltensten Fällen. Die UEFA lieferte vor dem Spiel der Deutschen gegen Ungarn das beste Beispiel dafür. „Ein Turnier für alle“ propagierte sie noch weit vor EM-Start. Offensichtlich nur dann, wenn es nicht die eigenen geschäftlichen Interessen beeinträchtigt.

Die Regenbogenbeleuchtung der Arena war vor dem Spiel das eine große Thema. Ein anderes Thema, das es leider nicht über die Print- und Onlinemedien hinaus geschafft hat, war die Ultragruppierung der Ungarn, die sich am gestrigen Abend in der Münchner Nordkurve versammelte. „Carpathian Brigade“ – so nennen sich die Männer, die mit schwarzen T-Shirts für Aufsehen sorgen. Schon bei der Europameisterschaft 2016 gab es viele Diskussionen rund um die Gruppierung. Bálint Josá, der Gründer der Organisation „Szubjektív Értékek Alapítvány“ („Stiftung für subjektive Werte“) aus Budapest sprach damals mit Vice.com über ihre Zusammensetzung und die Ziele:

Das ist eine paramilitärische Gruppe, die aus Neonazis besteht. Sie sind die gewalttätigste und auch einflussreichste Gruppe in der Kurve. Wie der Name schon verrät, wünschen sie sich die alten Territorien und Grenzen von Großungarn zurück.Bálint Josá gegenüber Vice.com

Mehr muss man über diese Menschen eigentlich nicht wissen. Auch gegen Frankreich und Portugal fielen sie abermals negativ auf. So sollen französische Spieler mit rassistischen Lauten konfrontiert worden sein, wie die Sportschau berichtete. Vor und während der Partie gegen Deutschland brüllten sie Berichten eines Sportjournalisten zu Folge homofeindliche Worte auf den Platz, die an dieser Stelle nicht unnötig reproduziert werden sollen.

Leon Goretzka: Spread love!

Dieser Kontext ist wichtig, um zu verstehen, was am Ende der Partie passiert ist. Bis zur 85. Minute hatte Deutschland keinen guten Tag erwischt. Ungarn führte mit 2:1 und weil es im Parallelspiel zwischen Frankreich und Portugal 2:2 stand, war die Mannschaft von Joachim Löw zu diesem Zeitpunkt ausgeschieden. Dann aber kam Leon Goretzka. Und mit ihm nicht nur das erlösende 2:2, das fast schon in den Hintergrund rückte, sondern eine Geste, die mehr als eine leere Hülse ist. Weil sie von jemandem kommt, der oft genug bewiesen hat, dass er nachhaltig für seine Werte einsteht. Von jemandem, der seine Verantwortung und Reichweite als Profifußballer auch für politische Themen zu nutzen weiß. Jemand, der verstanden hat, dass Fußball nie unpolitisch war und nie unpolitisch sein wird.

Leon Goretzka: Spread love.
Foto: Imago Images

Vor dem ungarischen Fanblock, wo sich viele Angehörige der Neonazi-Gruppierung versammelten, bildete Goretzka mit seinen Händen ein Herz. Die Szene des Abends. In den sozialen Netzwerken teilte er anschließend seine Botschaft dazu: Spread love. Und dem ist nichts mehr hinzuzufügen. Liebe ist Liebe, egal wer sie mit wem in welcher Form auslebt. Jeder Mensch sollte das Recht darauf haben, seine Liebe frei auszuleben. Leider ist die Realität eine andere.

Der Weg zur gesellschaftlichen Akzeptanz ist nicht nur in Ungarn und auf der Welt, sondern selbst vor unserer eigenen Haustür in Deutschland noch sehr weit – auch dann, wenn es um Gleichberechtigung geht. Goretzkas Zeichen und all die Diskussionen vor dem Spiel haben die Aufmerksamkeit wieder für einen Moment erhöht. Es wäre schön, wenn das Thema jetzt mal konsequenter auf der Agenda bleibt. Zu fürchten ist, dass es schnell wieder von der großen Bühne verschwindet. Goretzkas Zeichen in Richtung jener, die mehr Hass als Liebe in sich tragen, bleibt aber nachhaltig im Gedächtnis. Immerhin. Wer sich über Symbolik hinaus solidarisieren möchte, kann das hier tun:

https://twitter.com/einfachfreddy/status/1407740842601816066?s=21

Analyse: Deutschlands zwei Gesichter

„Und nun zum Sport“, wie es bei einem Podcast der Süddeutschen Zeitung so schön heißt. Denn da gab es für die deutsche Mannschaft nur wenig erfreuliches und dementsprechend gibt es viel zu besprechen. Nehmt euch also etwas Zeit mit, denn die werden wir brauchen.

Ungarn zog, wie von uns vorab bereits analysiert, sein aggressives, aber extrem gut organisiertes 5-3-2-Pressing auf und Deutschland tat sich schwer. Auch das konnte angesichts der Leistung gegen Frankreich ein Stück weit erwartet werden – zumal mit Goretzka und Müller zunächst zwei Spieler fehlten, die besonders wertvoll gewesen wären.

Der Bundestrainer wechselte im Vergleich zu den vorherigen Partien auf nur einer Position: Der angeschlagene Müller machte Platz für Leroy Sané.

Dinge, die auffielen:

1. Offensive Grundidee

Die Grundidee dahinter war offensichtlich: Sané ist ein schneller Spieler, der mit Tempo hinter die ungarische Kette starten kann und auch mal Eins-gegen-eins-Situationen provoziert, wodurch die enorme Statik etwas aufgelöst werden könnte. Gerade in der Anfangsphase schienen lange Bälle ein Mittel zu sein, das offensichtlich vorher besprochen wurde. Immer wieder zogen die beiden Flügelverteidiger Joshua Kimmich und Robin Gosens auf Höhe der Abwehrkette nach innen, um dann mit hohen Chipbällen in die Tiefe geschickt zu werden. In der 3. Minute sind sie damit auch zum ersten Mal halbgefährlich durchgebrochen, als Mats Hummels den startenden Kimmich fand. Der Winkel wurde anschließend zu spitz und im Strafraum rückte keiner schnell genug nach. Die Szene zeigte aber, dass das durchaus ein probates Mittel werden könnte. Im Verlauf des Spiels stellten sich die Ungarn jedoch besser darauf ein.

Wie schon gegen Portugal sollte zudem Matthias Ginter eine nicht unwichtige Rolle einnehmen. Auf der rechten Außenbahn schob er mit Ball deutlich höher als seine Kollegen in der Dreierkette, um Kimmich zu unterstützen. Hier zeigte sich aber schon früh ein großes Problem: Die Halbräume waren meist nicht gut besetzt. Gegen die Portugiesen war Müller der Spieler, der fast immer in Ballnähe die Räume aufzog, in die die Offensivspieler starten konnten. Leroy Sané konnte das nicht auffangen. Das Resultat waren viele Flügelangriffe, die nicht mit Zug diagonal in Richtung Strafraum gespielt werden konnten, sondern ebenda versandet sind, weil entweder eine in den seltensten Fällen gefährliche Flanke erfolgte oder der Ball verloren wurde.

Im Zentrum sollten Toni Kroos und Ilkay Gündogan diesmal etwas mehr Einfluss im Offensivspiel nehmen als noch gegen Portugal. Zumindest ließ das die Positionierung von Gündogan in der Anfangsphase vermuten. Mehrfach schob er sich in den Offensivraum, den in den Spielen zuvor Müller gern bespielt hatte. In der 13. Minute gab es ein Paradebeispiel dafür, wie man die Ungarn knacken könnte:

Von der rechten Seite aus haben die Deutschen den linken Achter der Ungarn herausgezogen, wodurch sich im Rücken ein Raum ergibt, der nicht adäquat aufgefüllt wird. Eine Situation, wie wir sie vorab auch schon in den Spielen der Ungarn gegen Portugal und Frankreich erlebt und hier analysiert haben. Hummels dribbelt an, bedient Kroos, der wiederum schnell auf Gündogan abspielen kann, der sich zuvor in den entsprechenden Raum bewegt hat. Gleichzeitig startet Sané von außen nach innen. Bis dahin ein perfekter Spielzug. Dann aber scheitert er an zwei entscheidenden Aspekten: Erstens geht Sané einen Tick zu früh tief, wodurch er im Abseits steht und zweitens gelingt es Gündogan nicht, Sané vors Tor zu bringen, weil dieser schon zu schnell im Zentrum ist. Er legt den Ball deshalb nicht, wie oben eingezeichnet, in die Laufrichtung Sanés, sondern nach außen und gegen die Laufrichtung. Sané muss abbrechen, spielt raus auf Kimmich und später kommt noch der Abseitspfiff dazu. Wäre der Angreifer einen Tick später gestartet, hätte das der frühe Ausgleich sein können.

Grundsätzlich zeigte die deutsche Mannschaft in dieser Situation aber, dass sie die Schwächen der Ungarn auf dem Schirm hatte, denn zufällig wirkten die Bewegungsabläufe nicht. Analog zum Frankreich-Spiel machten sie aber den Eindruck, nicht optimal aufeinander abgestimmt zu sein. Hier mal Sané, der zu früh startete, dort dann Gnabry, der zu spät erkennt, dass er sich zwischen zwei Spielern anbieten muss, um Gosens eine Befreiungsmöglichkeit anzubieten. Und so entstand wiedermal der Eindruck, dass das deutsche Spiel zu statisch ist, um einen derart tiefen Block zu knacken.

Die Statik allein ist aber nicht das größte Problem gewesen. Sané, Havertz und auch Gnabry waren viel unterwegs, rotierten die Positionen, gingen auch mal nach außen, aber schafften es nicht, die aufgerissenen Räume zu belaufen. Und so brachen die Deutschen ihr Spiel zu oft ab. Wirklich Druck auf die gegnerische Kette gab es nur selten.

Das lag auch daran, dass Kroos und Gündogan zu selten die Zwischenräume so besetzt haben, wie im Positivbeispiel oben. In vielen Fällen standen sie zu tief, in einigen weiteren sogar im gleichen Raum. Das hemmt die Ballzirkulation und führt darüber hinaus dazu, dass man bei Ballverlusten nicht gut gestaffelt ist. In der zweiten Halbzeit war Kroos in seiner Positionierung sauberer und besser, aber dazu gleich mehr.

Ja, es ist nur ein Standbild, aber wer sich so im Spielaufbau gegen Ungarn positioniert, der stellt sein Auto an der Tankstelle auch auf der Straße ab und versucht, den Tankschlauch bis dorthin zu ziehen. Um mehrfach gefährlich zu werden, fehlte den Deutschen also entweder die Präzision (wenn die Positionierung passte), oder eine entsprechende Tiefenstaffelung. Dass Ungarn früh mit 0:1 in Führung ging und Müller als wichtiger Strukturgeber fehlte, machte die Sache nicht einfacher. Trotzdem muss von den Spielern, die auf dem Platz standen erwartet werden, dass sie solche Szenen wie in der 13. Minute häufiger herausspielen können – auch wenn Ungarn das oft sehr stark verteidigte. Denn das darf keinesfalls unter den Tisch gekehrt werden.

2. Defensive Probleme

Mit Blick auf die Engländer als nächstem Gegner sind es aber gar nicht so sehr die Offensivprobleme gegen einen derart tiefen Block, die Löw Sorgenfalten bereiten sollten. Im Achtelfinale werden die Deutschen für ihr Spiel wieder etwas mehr Raum erhalten. Zwar ist England ebenfalls eine Mannschaft, die viel Wert auf eine gut sortierte Defensive legt, aber sie dürften dem DFB-Team deutlich mehr liegen. Hinten aber zeigten die Deutschen abermals große Schwächen. Zwei Kernprobleme sind dabei herauszustellen: Der Sechserraum und die Abstimmung in der Dreierkette.

Im Sechserraum haben wir schon beim Auftakt gegen Frankreich festgestellt, dass Gündogan und Kroos nicht immer optimal verteidigen. Nicht, weil ihnen die Physis oder Aggressivität fehlt, sondern weil sie in ihrer Positionierung nicht immer sauber sind. In der ersten Halbzeit konnte Ungarn in Kontersituationen mehrfach im Mittelfeldzentrum den Ball annehmen und sogar aufdrehen.

Allerdings darf das Problem nicht nur aus der Perspektive der Sechser gedacht werden. Die Dreierkette hinten trägt ebenfalls zur Instabilität bei, weil sie in höheren Pressingmomenten nicht immer gut nachschiebt und so die Lücke im gleichen Maße mitzuverantworten hat. Rüdiger ist zudem ein Spieler, der gern nach vorn verteidigt, also häufig aus der Kette herausrückt. In einigen Fällen ist das gut, in einigen öffnet er den Gegnern aber auch den Raum für richtig gute Chancen. Bei beiden Gegentoren wirkten die Deutschen zudem schläfrig und zu passiv.

Besonders unverständlich war es, dass die Mannschaft im ersten Durchgang zwar durchaus hoch stand, aber nicht wirklich Druck auf den Ball bekam. Das ermöglichte Ungarn viele geordnete Befreiungen, die wiederum auch zu mehr als nur einem Tor hätten führen können. Bekommt England diese Möglichkeiten, klingelt es sicher häufiger im Kasten von Manuel Neuer. Es wäre sicher von Vorteil, sich dahingehend zu entscheiden: Tief absichern, oder Druck auf den Ball. Die Zwischenlösung hat nicht funktioniert.

3. Umstellungen zur Pause und in der zweiten Halbzeit

Joachim Löw reagierte auf die Abstimmungsprobleme, indem er in der Halbzeitpause umstellte, ohne neue Spieler einzuwechseln. Kimmich rückte auf die Gündogan-Position im zentralen Mittelfeld, Sané ging für Kimmich auf die rechte Außenbahn und Gündogan nahm nicht ganz die Sané-Rolle, aber eine deutlich höhere Position ein als zuvor. Vermutlich versprach sich der Bundestrainer davon folgende Verbesserungen:

  • Mehr Kombinationsstärke im Zentrum inklusive konstanterer Besetzung der Halb- und Zwischenräume
  • Mehr Druck auf den Gegner im Sechserraum
  • Mehr erfolgreiche Eins-gegen-eins-Situationen auf dem rechten Flügel, wo Kimmich aufgrund mangelnder Anschlussoptionen zu selten durchbrechen konnte

Ein positiver Effekt war, dass Kroos besser eingebunden war. Aus dem halblinken Sechserraum heraus traute er sich nun häufiger zu, mal vertikal zu gehen. Kurz nach der Pause versuchte er erstmals, Gündogan mit einem Steilpass zu finden, nachzugehen und in die vom Mitspieler aufgerissene Lücke zu starten, aber Ungarn hatte einen Fuß dazwischen. Kurz vor dem 2:2 hatte er eine weitere Szene, in der er diesmal in den Strafraum kam und beim Abschluss nur knapp verzog. Zwar ließ sich Kroos nach wie vor zu häufig aus dem engen Mittelfeld herausfallen statt seine Position zu halten, aber er war nun merklich beteiligter und konnte das Spiel seiner Mannschaft mehr ankurbeln.

Die restlichen Änderungen Löws sollten zunächst nur wenig fruchten. Das lag aber nicht daran, dass sie keinen Sinn ergaben, sondern viel mehr daran, dass Sané und Gündogan keinen guten Tag erwischten. Beide haben bisher noch nicht ins Turnier gefunden. Gündogan machte für ihn untypische Fehler im Kombinationsspiel und fand nie so richtig die Wege in die Zwischenräume. Sané wiederum konnte trotz großer Bemühungen und viel Laufarbeit nicht viel Positives beitragen. Dass er aktuell viel Gegenwind verkraften muss, ist angesichts der Leistungen erwartbar. Trotzdem sollte man sich immer wieder in Erinnerung rufen, dass es gute Gründe dafür gibt, dass Sané noch nicht an seine starken Leistungen bei Manchester City anknüpfen konnte. Zu erwarten, dass er mit dieser Ausgangssituation vorangeht, wäre übertrieben. Aber mehr dazu in diesem Thread auf Twitter:

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Löw sah sich also schon nach rund 60 Minuten dazu gezwungen, erneut umzustellen. In der 58. Minute kam Goretzka für Gündogan, in der 67. Minute brachte er den angeschlagenen Müller gemeinsam mit Timo Werner. Raus gingen Havertz, der gerade das 1:1 erzielt hatte, und Gnabry.

Unsouverän nach dem Ausgleich

Dass sich strukturell aber auch mit den Wechseln zunächst nur wenig verändert hatte, zeigte sich beim direkten Gegenschlag der Ungarn. Ein langer Ball drückt die deutsche Hintermannschaft nach hinten, kann aber geklärt werden. Trotzdem werden die Abstände in diesem Moment zu groß. Ungarn findet trotz Unterzahl direkt den Raum, um sich mit wenigen Kontakten durchzukombinieren und trifft auch deshalb, weil die Staffelung der drei Innenverteidiger mal wieder schlecht ist. Rüdiger steht zu tief, während Hummels und Ginter herausrücken.

Eine Minute, die die ganze Unsouveränität der deutschen Mannschaft in dieser Partie perfekt veranschaulicht. Fortan waren sie wieder gezwungen, gegen den tiefen ungarischen Block anzulaufen. Individualtaktisch aber mit einer kleinen Verbesserung: Wenn es schon nicht mit Kurzpassspiel durch die Mitte klappt, braucht man wenigstens Präsenz im Strafraum. Die war mit Müller und Goretzka nun gegeben, weshalb die Flanken nun einen Tick gefährlicher wurden. Darüber hinaus gab es vorn wieder mehr Tiefenläufe, was die nach der Anfangsphase doch eher vernachlässigte Option des langen Balls wieder relevanter machte.

Insgesamt blieb die deutsche Mannschaft aber nach wie vor zu unsauber, als dass es nennenswerte Chancen gegeben hätte. Deshalb zog Löw erstmals Musiala aus dem Ärmel, der mit seinen technischen Fähigkeiten schon viel früher gebraucht worden wäre (83.). Warum? Das zeigte sich kurz darauf.

Außen bekommt Werner den Ball. Statt sich aber wie Gosens zuvor festzulaufen, weil es kein ausreichendes Angebot im Halbraum gibt, helfen ihm Müller und Musiala. Ersterer zieht einen Gegenspieler aus dem Strafraum mit raus, letzterer wird freigespielt. Im Rückraum wird Goretzka frei, scheitert im ersten Versuch, besorgt im Nachschuss dann aber die Erlösung für Deutschland. Halbraumunterstützung, Strafraumbesetzung und Rückraumbesetzung waren hier mal gut, wenngleich der Spielzug letztendlich auch etwas Glück brauchte.

Und jetzt?

Aus der Emotion heraus gab es traditionell gestern wieder viele Abgesänge auf die deutsche Mannschaft. Und klar ist: Das war eine der schwächsten Leistungen in der Ära Löw, obwohl es in den letzten Jahren noch einige andere zu bestaunen gab. So uninspiriert und so harmlos in der Offensive bei zugleich mitunter schwach abgestimmter Defensive hat man die Deutschen nur selten gesehen. Gewollt und nicht gekonnt, könnte man da sagen. Löws Umstellungen waren richtig, funktionierten aber entweder auf individueller Ebene nicht (Sané, Gündogan, sogar Kimmich war im Zentrum nicht so dominant wie gewohnt), oder kamen fast schon zu spät (Musiala). Die Ansätze, die vorher augenscheinlich herausgearbeitet wurden, konnte die Mannschaft nicht konsequente und präzise genug verfolgen.

Zugleich sollte man aber nicht den Fehler machen, das Team nun wieder von einem ins nächste Extrem zu jagen. So wie die Deutschen nach dem 0:1 gegen Frankreich nicht vollends versagt haben und wie sie nach dem 4:2 gegen Portugal noch nicht Europameister waren, sind sie jetzt nicht zum Scheitern verurteilt gegen England.

Die Schwächen der Mannschaft wurden offensichtlich, insbesondere im Defensivbereich. Aber gegen England wird es schon deshalb ein anderes Spiel, weil sich vor allem im Mittelfeld viele Räume ergeben werden und man auf Gegenspieler trifft, die trotz einer defensivfokussierten Ausrichtung eher offensiv denken. Der Schluss aus der Partie sollte nicht sein, dass der Sieg gegen Portugal nun anscheinend doch nicht so viel wert war. Denn dann ignoriert man auch, dass die Portugiesen im Parallelspiel einen guten Auftritt gegen die Franzosen hingelegt haben. Die Konstellation war diesmal eine komplett andere und lässt sich nicht vergleichen. Auf einen Gegner wie die Ungarn werden die Deutschen aber tendenziell nicht mehr treffen.

Sollten sie gegen England weiterkommen, wäre Schweden noch am ehesten die Mannschaft, die ihnen ähnliche Probleme bereiten könnte. Alle anderen Teams haben grundsätzlich einen offensiveren Stil als die Ungarn. Vielleicht wird das Tor von Goretzka deshalb mehr sein als es 2018 beispielsweise jenes von Kroos war. Das ist es faktisch schon, weil die deutsche Mannschaft diesmal in der K.-o.-Phase steht. Aber womöglich gibt es diesmal den positiven Effekt, den sie sich damals erhofft haben, der dann aber ausblieb. In der Gruppe F haben die Deutschen die volle Bandbreite von einer enttäuschenden bis hin zu einer sehr guten Leistung gezeigt. Sie sind und bleiben eine Wundertüte. Die Frage danach, welches der vielen Gesichter sie gegen England zeigen, lässt sich deshalb kaum beantworten.

Kurzbewertungen der Bayern-Spieler

Die Bewertungsskala umfasst den Bereich von 1-10, wobei auch halbe Punkte möglich sind. 10 ist perfekt, 1 ist der schlechteste Wert.

David Alaba – 7,5 – starke Leistung auf der linken Außenbahn, an vielen Angriffen beteiligt, Tor vorbereitet, hinten meist stabil, Antreiber im Pressing
Robert Lewandowski – 9 – wieder mit überragender Leistung, eine Großchance vergeben, zwei Tore gemacht, das Ausscheiden lag sicher nicht an ihm
Lucas Hernández – 4 – defensiv ungewohnt schwach, kein wirklicher Einfluss aufs Offensivspiel, zur Halbzeit verletzt ausgewechselt
Corentin Tolisso – 3,5 – spielte auf der rechten Seite und das mitunter eher auf dem Flügel als im Halbraum; war dementsprechend schwach; auch gegen den Ball nur einen von fünf Zweikämpfen gewonnen
Kingsley Coman – 5 – zweikampfstärker als Tolisso, aber offensiv genauso ungefährlich
Manuel Neuer – 5,5 – beim 0:1 dran; TW seiner Klasse kann da vielleicht etwas machen, aber schwer zu halten und kein Vorwurf; insgesamt unauffällig
Joshua Kimmich – 6 – sehr bemüht, fand aber weder außen noch im Zentrum so richtig in die Partie
Thomas Müller (eingewechselt) – 5,5 – hat die Mannschaft verbal nochmal angetrieben, konnte aber ebenfalls nur noch wenig gegensteuern; mit wichtigem Lauf vor 2:2
Serge Gnabry – 5 – konnte ab und an mit kurzen Dribblings etwas Dynamik beisteuern, blieb ansonsten aber im Rahmen der Gesamtleistung der Mannschaft unauffällig
Leon Goretzka (eingewechselt) – 6,5 – viel in Bewegung, hat einige Räume aufgerissen, hat das wichtige 2:2 gemacht, fand insgesamt aber auch nur schwer Anbindung
Leroy Sané – 3 – sehr bemüht, aber extrem unsicher; man merkt ihm die Blockade im Kopf an; letzte Szene ist bezeichnend, als er zwei Entscheidungen gleichzeitig trifft und letztendlich den Ball verstolpert
Jamal Musiala (eingewechselt) – hat zwar sofort funktioniert und das Tor eingeleitet, hat aber zu wenig gespielt, um ernsthaft bewertet werden zu können.

Ohne Einsatz: Benjamin Pavard, Niklas Süle

Bayern-Spieler des Spieltags: Leon Goretzka 🏳️‍🌈 – Sport ist manchmal eben Nebensache.

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Bild: Imago Images



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