Der Mythos des Abtauchens

Georg Trenner 23.07.2019

Der Vorwurf

Als Daniele Orsato nach nur 93 Minuten abpfiff an diesem Mittwochabend im März 2019, war der FC Bayern aus der Champions League ausgeschieden – wieder einmal. Nach torlosem Unentschieden im Hinspiel an der Anfield Road unterlag der FCB dem späteren Sieger FC Liverpool im Rückspiel mit 1:3 und scheiterte damit bereits im Achtelfinale. Wieder einmal würde das Finale ohne die Münchner stattfinden. Anders als in den Vorjahren gegen Real Madrid eigneten sich diesmal aber weder der Referee noch höhere Gewalt als Sündenbock, zu klar und verdient war das Ausscheiden.

Woran lag es? Neben einem starken Gegner und Kovačs vielleicht zu vorsichtiger Taktik wurden auch immer wieder Thiago und Lewandowski als Schuldige auserkoren.

Eurosport urteile etwa über Lewandowski: „Seit nun sieben K.o.-Spielen ist Lewandowski torlos. In fünf Saisons bei den Bayern gelangen ihm erst elf Treffer in der heißen Phase. Dabei traf „Lewy“ oft nur gegen vermeintlich kleine Gegner (ein Tor gegen Schachtjor Donezk, zwei Tore gegen Porto, zwei Tore gegen Besiktas). Gegen Liverpool erwischte er erneut einen dieser Abende. Keine Bindung zum Spiel, keine besonderen Momente, keine Torgefahr.“ Die FAZ erkannte unterdessen „völlig abtauchende Stars wie Thiago“.

Es überrascht nicht, dass immer wieder die beiden in die Kritik geraten: Beide sind Topstars des FC Bayern. Und während die Jungstars Kimmich und Süle noch Welpenschutz genießen, haben andere Altstars wie Neuer und Alaba bereits große Titel vorzuweisen.

Hier also Thiago, der scheinbare Schönspieler, der zwar mit Übersteigern und Passstafetten gegen vergleichsweise schwache Gegner glänzen könne, dem aber der Biss für die ganz großen Momente abgehe. Und dort Lewandowski, der egoistische Stürmer, der einem Dreierpack gegen Freiburg eine Nullnummer gegen Madrid folgen lasse.

Die Überprüfung

Doch was ist dran am Vorwurf? Tauchen die beiden wirklich in großen Spielen ab, oder gewinnt hier wie so oft das emotionale Narrativ die Oberhand über die Faktenlage? Wir untersuchen deshalb die Leistung der beiden in genau diesen großen Spielen möglichst objektiv und transparent. Der Versuch ist nicht ganz einfach. Folgende Punkte müssen geklärt werden:

  • Was sind große Spiele?
  • Wie messen wir, ob jemand in diesen Spielen abtaucht oder herausragt?
  • Welchen Zeitraum schauen wir uns an?

Als große Spiele haben wir diejenigen definiert, auf die folgendes zutrifft: DFB-Pokal-Finals, alle Bundesligaspiele gegen Dortmund und Leipzig (da diese beiden Mannschaften zuletzt konstant erfolgreich waren und die Definition einer Top-Mannschaft bei allen anderen Klubs für einzelne Spielzeiten sehr willkürlich erscheint), Spiele in der Champions League gegen Teams mit einem Elo-Wert über 1800 (das ist ungefähr die Schwelle, um zu den Top-10-Teams in Europa zu gehören).

Für die Bewertung der Leistung haben wir uns für die WhoScored-Noten entschieden. WhoScored-Noten reichen von ca. 4 bis 10, wobei 10 der Bestwert ist. Zu Beginn jedes Spiels wird ein Spieler mit einer 6,0 bewertet. Auf dieser Basis bringt jede gelungene Aktion Pluspunkte, jede negative Aktion Minuspunkte. Die Noten sind nicht perfekt, aber objektiv, beobachtbar und vergleichbar. Zur Plausibilisierung: In der abgelaufenen Saison belegten Lewandowski, Thiago und Kimmich die ersten drei Plätze im Bayern-Kader – eine Einschätzung, die man durchaus auch mit subjektiven Beobachtungen erklären kann.

Für den Zeitraum haben wir uns für die letzten drei Jahre entschieden: Das sollte zu einer ausreichend großen Stichprobe führen, ohne zu weit in die Vergangenheit zu blücken. Denn selbst wenn Thiago 2014 als junger Spieler einmal abgetaucht wäre, wäre dies die richtige Grundlage für seine heutige Bewertung als Führungsspieler? Für den Betrachtungszeitraum kommen wir damit auf 26 Spiele, von denen der FCB 13 gewonnen hat, dreimal unentschieden spielte und zehnmal als Verlierer vom Platz ging. Eine ausreichende Anzahl und auch ein adäquates Abschneiden des FC Bayern, denn eine deutlich positivere Ergebnisverteilung würde bedeuten, dass zu viele leichte Spiele mit im Topf sind.

Das Urteil

Von den 26 Top-Spielen des FC Bayern in den vergangenen drei Jahren verpasste Thiago nur drei. In den 23 Spielen, in denen er dabei war, wurde er von WhoScored im Durchschnitt mit 7,6 bewertet. Das ist eine herausragende Note. Lewandowski verpasste nur zwei Spiele – übrigens beides Niederlagen – und kommt auf einen Notenschnitt von 7,5, ebenfalls ein herausragender Wert. Zur Einordnung der Noten hier ein Vergleich mit dem Notenschnitt der gesamten bayerischen Elf in diesen Spielen, der bei 6,9 lag. Thiago und Lewandowski schneiden im Durchschnitt also deutlich besser ab als ihre Mitspieler.

Die durchschnittlichen WhoScored-Noten von Thiago und Lewandowski im Vergleich mit dem restlichen Bayern-Kader in der gewählten Stichprobe.

Arturo Vidal, ein Spieler über dessen Siegeswille man nicht diskutieren muss, kommt in den Partien, in denen er vor seinem Wechsel mitspielte, auf eine Note von 7,0.

Zur weiteren Einordnung der Leistungen von Thiago und Lewandowski sei noch ein Blick auf die abgelaufene Saison gestattet, die den meisten LeserInnen noch gut in Erinnerung sein dürfte. In Europas Top-5-Ligen (Frankreich ist hier die Nummer 5) wurden von WhoScored in der Saison 2018/19 nur 21 Spieler überhaupt mit einer Durchschnittsnote von 7,5 oder besser bewertet, inklusive Thiago, Lewandowski und Kimmich. Hier die Top 10 der abgelaufenen Saison:

Die notenbesten Spieler der Top-5-LigenWhoScored.com Durchschnittsnote 2018/19
Lionel Messi (Barcelona)8,5
Kylian Mbappé (Paris)8
Téji Savanier (Nimes)7,9
Eden Hazard (Chelsea)7,8
Cristiano Ronaldo (Juventus)7,7
Robert Lewandowski (Bayern)7,7
Alejandro Gómez (Atalanta)7,6
Nicolas Pepe (Lille)7,6
Raheem Sterling (Man City)7,6
Thiago Alcantara7,6

Fazit und Prognose

Der Mythos des Abtauchens ist sehr wahrscheinlich unbegründet und scheint wie so oft im Fußball aus der Emotion verlorener Spiele und unrealistischer Erwartungen heraus entstanden zu sein. Thiago und Lewandowski sind Leistungsträger des FC Bayern, in großen wie in kleinen Spielen. Gewinnen sie in den nächsten Jahren nochmal die Champions League, wird die Einordnung ex Post ähnlich wie bei allen anderen Legenden verlaufen und man wird sich in erster Linie an die großen Siege erinnern. Und auch wenn sie sie nicht gewinnen, so bleiben zumindest statistische Auswertungen, die dem Mythos des Abtauchens etwas entgegensetzen können.