Flick vs. Salihamidžić: Lehren für die Governance beim FC Bayern
Der Kader im Spannungsfeld zwischen strategischer Verantwortung und operativem Geschäft
Rein sachlich gesehen begann vieles in der Beziehung zwischen Salihamidžić und Flick genau da, wo es auch endete: Mit einem Disput über Spieler. Bereits wenige Wochen nach seinem Amtsantritt, als Flick noch Interims-Trainer war, soll es zwischen den beiden zum ersten Mal zu Unstimmigkeiten über die Verpflichtung eines Spielers gekommen sein. Im Winter 2019 soll Flick den deutschen Nationalspieler Benjamin Henrichs oder alternativ einen jungen Brasilianer namens Dodô als Verstärkung für die Rechtsverteidigerposition gewollt haben – er hatte dort eine Lücke im Kader diagnostiziert – bekommen hat er Alvaro Odriozola. Im Laufe der Zeit gesellten sich weitere Namen wie Emre Can, Timo Werner, Kai Havertz und sogar Mario Götze unter die Spieler, die Flick gewollt haben soll, der Verein in persona Hasan Salihamidžić ihm aber nicht gewährte. Welche persönlichen Differenzen sich zwischen den beiden im Laufe der Zeit auch immer entwickelt haben mögen, die fortlaufende Uneinigkeit über zu verpflichtende Spieler und die Zusammensetzung des Kaders spielte sicherlich eine entscheidende Rolle im sukzessiven Erkalten ihrer Beziehung.
Der Stein des Anstoßes zwischen Flick und Salihamidžić, die Kaderzusammensetzung, nimmt im Hinblick auf die sportlichen Entscheidungskompetenzen des Trainers in einem Verein eine besondere Stellung ein. Der Kader ist eine Art entscheidungsrechtliches Hybridwesen, das langfristig strategische und ganz praktische, kurzfristige, operative Momente in sich vereint. Grundsätzlich wird der Kader in seiner Komposition ganz erheblich von den strategischen Entscheidungen beeinflusst, die der Verein im sportlichen Bereich trifft. Strategische Entscheidungen zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie die grundsätzliche Positionierung eines Unternehmens im Wettbewerb vis-a-vis der Konkurrenz definieren. Sie legen fest, wie sich ein Unternehmen am Markt von der Konkurrenz abheben möchte, worin es seine Wettbewerbsvorteile gegenüber der Konkurrenz sieht und wie es seine internen Ressourcen entsprechend aufbaut. Strategische Entscheidungen beanspruchen in der Regel langfristige Gültigkeit. Auch ziehen sie oft eine nicht unerhebliche Kapitalbindung nach sich. Strategische Entscheidungen sind grundsätzlicher Natur, man nimmt sie nicht mal eben so zurück oder dreht sie um, sie wollen wohlüberlegt sein. Im sportlichen Bereich eines Fußballvereins lauten typische strategische Fragenstellungen etwa: Welche sportlichen Ziele wollen wir langfristig erreichen? Welche Art von Fußball wollen wir spielen lassen? Wie soll die sportliche Basis unseres Erfolgs aussehen? Wodurch soll sich unser Fußball von dem der Konkurrenz unterscheiden, was ist unser Alleinstellungsmerkmal, mit dem wir neue Spieler und die Fans von uns überzeugen wollen? Welche Spielertypen brauchen wir für unseren Fußball? Welche Altersstruktur soll unser Kader haben (bauen wir auf jugendliche Frische, erfahrenes Veteranentum oder einen gesunden Mix)? Welche Leistungsstruktur soll unser Kader haben (wie tief und breit soll er sein, wie viele Spieler welcher Qualität soll es für welche Position geben etc.)? Welche Rolle soll die Ausbildung und der Handel mit Spielern in unserem Verein einnehmen? Sind wir ein Ausbildungsverein? Sind wir ein Einkaufsverein? Sehen wir uns als Entwicklungsverein oder als ein Verein, zu dem Spieler wechseln und bis zu ihrem Karriereende bleiben? Welche potentiellen Karrierepfade können wir möglichen Neuzugängen aufzeigen? Auf welche Regionen und Ligen wollen wir unseren Fokus beim Scouting neuer Spieler legen? Wie wollen wir unseren Nachwuchs einbinden? … Wie leicht ersichtlich ist, haben die Antworten auf solche und ähnliche strategischen Fragen mittelbare und unmittelbare Auswirkungen auf die Zusammensetzung des Kaders.
Gleichzeitig wird der Kader aber auch ganz konkret im laufenden Betrieb von ganz praktischen Fragen beeinflusst wie: Welche Position wollen wir jetzt, heute, konkret wie besetzen? Welche Spieler wollen wir unter Vertrag nehmen? Welche Spieler wollen wir abgeben? Welche Verträge wollen wir verlängern, und zu welchen Konditionen? … Diese und ähnliche Fragen sind zwar eher kleinteiliger Natur und legen einen Verein auf der sportlichen Ebene nicht zwingend auf Jahre in eine bestimmte Richtung fest, aber sie sind im Einzelfall aufgrund ihrer finanziellen Tragweite dennoch von nahezu strategischer Bedeutung. Dies liegt an einer Besonderheit des Profifußballs. Es kann vorkommen, dass ein Verein für den Transfer eines einzelnen Spielers ein Fünftel oder ein Sechstel seines gesamten Jahresumsatzes investiert, eine in vielen anderen Branchen für ein einzelnes Gerät schier unglaubliche Relation. Auch kann es vorkommen, dass sich in einem Verein in der Folge rund 4 bis 5% des gesamten Jahresaufwandes nur aus dem Gehalt und den Abschreibungen dieses einen Spielers rekrutiert. Einen Spieler für 80 oder 100 Millionen Euro Ablöse und 20 Millionen Euro Jahresgehalt über fünf Jahre verpflichtet man nicht mal eben einfach so, aus einer Laune heraus, und gibt ihn ein Jahr später wieder ab, wenn er nicht funktioniert. Dies wäre nicht nur Ausdruck einer wenig weitsichtigen oder sehr schlecht umgesetzten sportlichen Planung, sondern in der Regel auch mit einer signifikanten Kapitalvernichtung verbunden, weil der Wiederverkaufserlös eines solch teuren, aber nicht wie erwartet leistenden Spielers nach so kurzer Zeit in den meisten Fällen deutlich unterhalb des Einstandspreises liegen dürfte. Aber auch wenn der Spieler die erwartete Leistung bringt und langfristig gehalten wird, haben solche Entscheidungen im Einzelfall schon allein wegen der finanziellen Dimension ein nahezu strategisches Gewicht für einen Verein. Kurzum, viele der Entscheidungen, die den Spielerkader in all seinen Facetten in einem Profifußballverein betreffen, sind aufgrund ihrer enormen sportlichen und ökonomischen Bedeutung für den gesamten Verein entweder a priori genuin strategisch oder haben aufgrund ihrer im Einzelfall enormen ökonomischen Tragweite ein quasi strategisches Gewicht.
Strategische und quasi-strategische Entscheidungen fallen in einem Unternehmen typischerweise in den Kompetenzbereich des Top-Managements. Sie werden dort beraten, gefällt und verantwortet. Häufig ist es so, dass dabei wichtige Funktions- oder Geschäftsbereiche einzelnen Vorstandsmitgliedern zugeordnet und von ihnen verantwortet werden. Bei Fußballvereinen besteht das Top-Management je nach Rechtsform typischerweise aus einem Vorstand (AG, Verein) oder einer Geschäftsführung (GmbH, KG). In fast allen Fällen gibt es für den sportlichen Bereich eigene dedizierte Verantwortliche, wie zum Beispiel den Sportvorstand in einer AG (beispielsweise Hasan Salihamidžić beim FC Bayern) oder den Geschäftsführer Sport in einer GmbH oder GmbH & Co KG (Beispielsweise Stefan Reuter beim FC Augsburg). Bei manchen Vereinen liegt die Verantwortlichkeit für den Sport auch auf der Ebene unterhalb des Vorstandes oder der Geschäftsführung in den Händen von Sportdirektoren, die dem Vorstand oder der Geschäftsführung berichten. Dies ist etwa der Fall bei RB Leipzig mit Markus Krösche (berichtet an Oliver Mintzlaff), dem BVB mit Michael Zorc (berichtet an Aki Watzke) und der TSG Hoffenheim mit Alexander Rosen (berichtet an Peter Grölich). Bei wieder anderen Vereinen gibt es sowohl auf der ersten als auch auf der zweiten Leitungsebene sportverantwortliche Manager, so beispielsweise bei Eintracht Frankfurt mit Fredi Bobic als Sportvorstand und Bruno Hübner als Sportdirektor, beim VfL Wolfsburg mit Jörg Schmadtke als Geschäftsführer Sport und Marcel Schäfer als Sportdirektor und bei Bayer Leverkusen mit Rudi Völler als Geschäftsführer Sport und Simon Rolfes als Sportdirektor. Je nach interner Aufgabenteilung und Abstimmung ist es dieser Personenkreis, der qua hierarchischer Position für die strategische sportliche Ausrichtung eines Fußballvereins – und damit nicht unerheblich auch die strategischen Entscheidungen bezüglich des Kaders – verantwortlich ist.
Die schillernde Position des Trainers in einem Verein
Wer nicht zu diesem Kreis gehört, ist der Trainer. Er ist nicht Mitglied der sportlichen Führungsebene und hat dementsprechend auch nur eingeschränkte formale Entscheidungsmacht bei vielen Fragen, die direkt und indirekt den Kader tangieren. Gleichzeitig allerdings hängt sein beruflicher Erfolg – und bis zu einem gewissen Grad auch sein persönliches Schicksal als Trainer – elementar von diesem Kader ab. Überhaupt nimmt der Trainer eine ganz besondere Stellung in der Hierarchie eines Fußballvereins ein. Er ist ein hochqualifizierter Fachexperte, der die nahezu vollständige operative Verantwortung für die sportliche und wirtschaftliche Basis jedes Fußballvereins trägt, die regelmäßige Herstellung des Kernprodukts Fußball in hoher Qualität. Dafür angewiesen ist er auf den Spielerkader, quasi den Maschinenpark eines Fußballvereins, für den er an zentraler operativer Stelle verantwortlich ist, dessen Leistungsfähigkeit er aufrechterhalten muss, den er weiterentwickeln soll und den er stets bestmöglich auf das nächste Spiel vorbereiten muss. Von den fachlichen Fähigkeiten und der Leistung eines Trainers hängen folglich das sportliche und ökonomische Wohl und Wehe eines ganzen Vereins maßgeblich ab, kurz-, mittel- sowie langfristig.
Außerdem ist der Trainer vielfach der sichtbarste Protagonist eines Vereins in der Öffentlichkeit. Er ist die Person, dessen Leistung und Auftreten von den Medien von allen Akteuren in einem Verein in aller Regel am aufmerksamsten beobachtet wird. Jedes öffentliche Statement des Trainers wird haarklein seziert und auf seine expliziten und impliziten Botschaften hin untersucht. Dieser Umstand gibt dem Trainer mehr oder weniger unausweichlich eine enorme informelle Macht. Wenn er beispielsweise für eine bestimmte Position auf dem Spielfeld einen neuen Spieler haben möchte, wird er dies zwar in aller Regel mangels formaler Macht nicht unabhängig im Verein durchsetzen können, aber eine mehr oder weniger verklausulierte Äußerung dieses Wunsches in der Öffentlichkeit reicht, um seinem Anliegen deutliches Gewicht zu verleihen und entsprechenden internen Handlungsdruck aufzubauen. Außerdem macht seine öffentliche Sichtbarkeit den Trainer zu einer Art Botschafter oder Aushängeschild eines Vereins, der mit seinem Tun und Lassen einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Außenwahrnehmung seines Arbeitgebers hat.
Der Trainer ist also ein in vielerlei Hinsicht unverzichtbarer und einflussreicher Akteur in einem Fußballverein, der nicht nur hohe operative Verantwortung für den Kernbereich des Unternehmens, den Fußball, trägt. Er besitzt auch eine hohe informelle Macht aufgrund seiner exponierten Position. Gleichzeitig ist er aber nicht Mitglied der obersten sportlichen Führungsebene. Er sitzt nicht im Vorstand oder der Geschäftsführung und ist somit im Regelfall auch nicht in die strategische sportliche Planung eingebunden. Formal betrachtet ist der Trainer ein operativer Manager, dessen Aufgabe es ist umzusetzen, was ihm die sportliche Leitung strategisch vorgibt und mit den Mitteln zu arbeiten, die ihm von oben zur Verfügung gestellt werden. Diese Bedeutung deckt sich durchaus mit seiner Beschäftigungssituation bei einem Verein, denn nüchtern betrachtet ist ein Trainer ein Arbeitnehmer auf Zeit, dessen durchschnittliche Verweildauer in der Bundesliga trotz seiner exponierten Stellung aktuell nicht einmal 18 Monate beträgt. Fußballvereine und ihre strategische sportliche Ausrichtung – auch betreffend des Spielerkaders – sind hingegen auf Dauer angelegt und sollten entsprechend unabhängig von kurzfristig wechselnden Köpfen auf der Trainerbank geplant und entschieden werden.
Wie aber lässt sich nun dieser ganz speziellen Position des Trainers im Machtgefüge eines Vereins organisatorisch angemessen gerecht werden? Einer Position, die so schillernd im Spannungsfeld zwischen begrenzter formaler und hoher informeller Macht oszilliert? Einer Position, die sich wie keine andere sonst so unmittelbar an der Schnittstelle zwischen Strategie und Umsetzung befindet? Einer Position, in deren Händen fast alle sportlichen Fäden in einem Verein zusammenlaufen und die für die sportliche Leistungserbringung zentral verantwortlich ist, dabei aber ganz erheblich von Faktoren abhängt, auf die sie selber keinen Einfluss hat? Oder sollte sie Einfluss haben? Die Herausforderung, die Mitsprache- und Entscheidungsrechte des Trainers in den für seinen Arbeitsalltag konkret relevanten sportlichen Fragen effektiv gerecht zu werden – ganz besonders im Hinblick auf den Spielerkader, von dem er so sehr abhängt – ist eine der Kernaufgaben eines Fußballvereins im Bereich der sportlichen Organisation.
Die Governance von sportlichen Entscheidungen
In den Sozial- und Politikwissenschaften wird die Diskussion der Frage des Designs von Mitsprache- und Entscheidungsrechten verschiedener Akteure in sozialen Systemen unter dem Begriff „Governance“ diskutiert. Governance definiert, mit welchen Mechanismen (Gesetze, Normen, Regeln, Konventionen …) in sozialen Systemen (Staaten, Organisationen, Familien, Fußballvereinen) zielgerichtetes Handeln hergestellt bzw. gesteuert wird. Governance wird dabei deskriptiv zur Beschreibung real existierender Gegebenheiten verstanden, aber vor allem in den Wirtschaftswissenschaften auch normativ zur Definition einer angestrebten Zielsituation verwendet. Abbildungen 1 und 2 zeigen am Beispiel einer vereinfachten Entscheidungsmatrix, wie solche Rechte bei einigen der eingangs erwähnten sportstrategischen Fragestellungen praktisch definiert werden können. Dabei widmet sich Abbildung 1 den genuin strategischen sportlichen Entscheidungen, während Abbildung 2 einige der eher kurzfristigen und konkreten kader- und spielerspezifischen sportlichen Fragen darstellt. „Input“ bedeutet, dass die jeweilige Partei links in der ersten Spalte das Recht hat, bei dem jeweiligen Entscheidungsfeld ihre Vorstellungen einzubringen bzw. ihre Wünsche zu äußern, „Entsch.“ steht für das Recht, die betreffende Entscheidung letztendlich zu fällen.
Das in dieser Abbildung beispielhaft vereinfacht skizzierte Arrangement der Mitsprache- und Entscheidungskompetenzen dürfte für nur wenig Kontroverse sorgen. Wie eingangs bereits geschildert, sind die Einflussmöglichkeiten des Trainers bei genuin strategischen Fragen im sportlichen Bereich, wie beispielsweise der nach der grundsätzlichen Spielphilosophie des Vereins oder ob er sich als ein Ausbildungsverein versteht, sicherlich bei den meisten Vereinen sehr begrenzt – und sollten es auch sein. Für etwas anderes ist die Stellung des Trainers im Verein zu prekär. Ebensowenig umstritten dürfte es in den allermeisten Fällen sein, dass der Trainer allein und unabhängig über Dinge des operativen Tagesgeschäfts in seinem ureigensten Tätigkeitsbereich entscheiden darf, beispielsweise den Spieltagskader und die Aufstellung seiner Mannschaft. Interessanter und etwas diffiziler hingegen stellt sich die Situation, wie eingangs bereits geschildert, bei der in diesem Artikel im Zentrum stehenden Frage der Kaderzusammensetzung dar: Wie soll der Trainer in die kurz- bis mittelfristige Kaderplanung eingebunden werden? Wie soll der Trainer in die Entscheidung über den nächsten anstehenden Transfer eingebunden werden? Wie soll der Trainer in die Frage der Vertragsverlängerung einzelner Spieler eingebunden werden? Soll er etwa alleine darüber entscheiden können, welche Spieler als nächste verpflichtet werden? Soll er alleine darüber entscheiden können, wessen Vertrag verlängert wird und wessen nicht? Soll der Trainer in die Vertragsverhandlungen aktiv eingebunden werden, etwa als Teilnehmer an den Gesprächen? Oder sollte er im Gegenteil aufgrund des strategischen Gewichts keinerlei Mitspracherecht bei irgendeiner dieser Fragen haben und lediglich damit arbeiten müssen, was ihm die sportliche Führung vorsetzt? Abbildung 2 stellt diesen Gestaltungsspielraum graphisch dar.
Beim FC Bayern deutet einiges darauf hin, dass der Verein die Gestaltung dieser Rechte, zumindest insofern als die Kaderplanung betroffen ist, bisher noch nicht befriedigend gelöst hat. Offensichtlich herrschte in der letzten Zeit insbesondere bei der Frage, welche Akteure bei welchen Kaderfragen Mitsprache- („Input“) und welche die finalen Entscheidungsrechte („Entsch.“) hatten, Uneinigkeit. Wie Flick-Biograph Günter Klein im Interview mit Miasanrot kürzlich sagte, hat es beim FC Bayern lange Tradition, dass die letztgültige Entscheidung über die Kaderplanung und die vorzunehmenden Transfers stets beim Verein liegt und nie beim Trainer. Klein sagte auch, dass Flick nach seiner überaus erfolgreichen ersten Saison zunehmend die Erwartung entwickelt habe, das seine Wünsche für neue Spieler bei zukünftigen Transferentscheidungen stärker berücksichtigt würden. Der Konflikt zwischen Hasan Salihamidžić und Hansi Flick über die Zusammenstellung des Kaders wäre höchstwahrscheinlich nicht in einem so eskalierenden Maße von der inhaltlichen auf die persönliche Ebene übergeschwappt, wenn allen Parteien im Vorhinein klar gewesen wäre, wer welche Mitsprache- und Entscheidungsrechte bei welchen wichtigen Fragen rund um die Kaderzusammenstellung hat. Denn rückblickend kann man Hansi Flicks Rotations- und Nominierungsentscheidungen für seine erste Elf über die gesamte aktuelle Saison als einen einzigen, großen, kontinuierlichen symbolischen Machtkampf mit Hasan Salihamidžic interpretieren, der nicht zuletzt aufgrund dieses normativen Machtvakuums überhaupt nur zustande kommen konnte. Wäre für alle Parteien von Anfang an klar und transparent gewesen, dass der Verein, sprich die sportliche Führungsebene, beim FC Bayern traditionell die fußballerische Ausrichtung des Kaders stets allein und unabhängig vom Trainer definiert und auch über die Verpflichtung neuer Spieler eigenständig entscheidet, hätte dies Hansi Flick vielleicht missfallen können, aber er hätte gewusst, woran er ist und vielleicht nicht das Gefühl gehabt, seinen Wünschen durch mehr oder weniger subtile öffentliche Missfallensäußerungen doch noch Nachdruck verleihen zu können.
In einem zweiten Schritt definiert Governance, mit welchen Strukturen und Prozessen diese Regeln in der Praxis umgesetzt werden. Gesetzt den Fall, dass man den Trainer zumindest in die kurz- bis mittelfristige Kaderplanung aktiv einbinden möchte, wäre beispielsweise die Einrichtung eines Transferkomitees denkbar, in dem ein Sportverantwortlicher aus der Geschäftsführung, der Trainer, der Verantwortliche für das Scouting und der Leiter Nachwuchs in regelmäßigen Abständen zusammenkommen, z. B. vierteljährlich, um über mögliche Zu- und Abgänge für die nächste und übernächste Transferperiode zu beraten. Für dieses Komitee wäre auch klar festgelegt, welche der Beteiligten bei den Transferentscheidungen ihre Meinung einbringen können (Input) und welche die letztendliche Entscheidung zu treffen haben (Entscheidung).
Governance widmet sich drittens der Frage, wie die Governance-Strukturen und -Prozesse, sobald sie endgültig definiert sind, effizient und effektiv in der Organisation kommuniziert werden können, so dass unter allen Akteuren unmissverständliche Klarheit darüber herrscht, welche Mitsprache- und Entscheidungsrechte sie bei welchen Fragen haben. Organisationshandbücher oder, wie im Fall eines Trainers, eine ausführliche Einweisung spätestens bei der Vertragsunterzeichnung, besser jedoch bereits im Vorhinein, wären in einem Fußballverein denkbare Mittel.
Neues Spiel, neues Glück mit Julian Nagelsmann?
Hansi Flick ist bald Geschichte. Mit Julian Nagelsmann kommt im Sommer ein neuer Trainer. Der Konflikt zwischen Flick und Salihamidžić wirft die naheliegende Frage auf, wie das Risiko der Wiederholung eines solchen Machtkampfs zwischen dem neuen Trainer und der sportlichen Führung beim FC Bayern fürderhin minimiert werden kann. Die Antwort ist relativ einfach: Es bedarf einer klaren Definition der Mitsprache- und Entscheidungsrechte aller relevanten Akteure bei allen wichtigen sportlichen Fragen, insbesondere solchen bezüglich des diffizilen Hybridwesens Kader, das sowohl genuin strategische als auch praktisch-operative Momente in sich vereint. Hier ist das Potential für Missverständnisse und Konflikte zwischen dem Verein, der seine langfristigen Interessen im Blick hat und dem Trainer, der auf seinen kurzfristigen Erfolg angewiesen ist, zweifelsohne am größten. Es bedarf, zweitens, einer effektiven Institutionalisierung dieser Rechte in organisationalen Strukturen, in denen sie im Alltag ausgeübt („gelebt“) werden (beispielsweise das angesprochene vierteljährlich tagende Transferkomitee). Und es bedarf, drittens, einer klaren Kommunikation dieser Strukturen an alle relevanten Akteure.
Der Vertrag zwischen Nagelsmann und den Bayern ist bereits unterschrieben, der Zeitpunkt im Vorhinein eindeutige Transparenz zwischen den Parteien bezüglich der Mitsprache- und Entscheidungsrechte bei den wichtigen sportlichen Fragen inklusive der Kadergestaltung herzustellen, ist also schon vorbei. Aber noch hat Julian Nagelsmann seinen Dienst beim FC Bayern nicht angetreten. Vielleicht nimmt sich der Verein den Konflikt zwischen Salihamidžić und Flick zum Anlass, sich noch einmal auf grundsätzlicher Ebene über seine Governance im sportlichen Bereich Gedanken zu machen, zuvorderst, aber nicht ausschließlich im Zusammenhang mit dem Kader und, wo noch nicht geschehen, diese klar zu definieren und an alle Beteiligte inklusive Julian Nagelsmann unmissverständlich zu kommunizieren. Vielleicht nimmt man sich die Verpflichtung von Nagelsmann, die ja immerhin auf fünf Jahre terminiert ist und nach Möglichkeit eine neue Ära auf dem Trainerstuhl beim FC Bayern einläuten soll, zum Anlass, noch einmal über die von Günter Klein angesprochene Tradition, dass der Verein immer unabhängig vom jeweiligen Trainer über den Kader entscheiden möchte, nachzudenken. Vielleicht wäre es ja für eine so langfristig angelegte Zusammenarbeit wie der mit Nagelsmann sinnvoll, den Trainer zumindest bei Entscheidungen, die unmittelbar die Verfügbarkeit von Spielern betreffen, nicht nur mit seinen Wünschen zur Kenntnis zu nehmen, sondern ihm auch eine Stimme bei der finalen Entscheidung zu geben.
Wie auch immer der FC Bayern sich hier letztendlich positioniert, es wäre sicherlich empfehlenswert, Nagelsmann von Anfang an klar zu vermitteln, woran er ist. Denn ansonsten könnte mit ihm, obwohl ich ihn für einen professionell leidensfähigeren und langmütigeren Mann halte als Hansi Flick, über kurz oder lang ein ähnlicher Konflikt über vermutete oder tatsächliche Kompetenzen bei diesen oder jenen Fragen drohen. Und wie bedauerlich wäre es doch, wenn auch Julian Nagelsmann in zwei Jahren nach einem kaum für möglich gehaltenen erneuten Gewinn des Triples nicht wegen sportlicher Minderleistungen, sondern aufgrund eines persönlichen Kraftverschleißes infolge interner Reibereien genau wie Hansi Flick seinen Hut nehmen würde.