Spieler des Monats April: Lucas Hernández
In der Saison 2020/21 zeigt sich eine leicht verbesserte Situation für Hernández. Aktuell kann er 34 Einsätze und eine Startelfquote von 48 % vorweisen. Zum Vergleich die Spieler, mit denen er auf der Innen- und Linksverteidigerposition konkurriert:
David Alaba: 42 Einsätze, 87 % Startelfquote
Jérôme Boateng: 36 Einsätze, 84 % Startelfquote
Niklas Süle: 32 Einsätze, 48 % Startelfquote
Alphonso Davies: 32 Einsätze, 61 % Startelfquote
Zu berücksichtigen ist, dass Hernández in der Hinrunde von einer längeren Verletzungspause von Alphonso Davies profitierte. Die bisherige Saison ist für ihn demnach allenfalls als durchwachsen zu beschreiben. Häufig war von fehlendem Vertrauen Hansi Flicks die Rede, seine Rolle als Ergänzungsspieler oft nicht nachvollziehbar. Es schien phasenweise, als könne Hernández Weltklasse-Leistungen abrufen – er würde dennoch nicht von Beginn an spielen. Der April 2021 strafte diese Einschätzung Lügen. In fünf der sieben Pflichtspiele durfte Hernández von Beginn an auflaufen, absolvierte diese Spiele über die volle Distanz und konnte mit zunehmender Spielpraxis und wachsendem Vertrauen endlich seine Fähigkeiten und Potenziale zeigen. Die anderen beiden Partien verpasste er verletzungsbedingt.
Seine guten Leistungen gipfelten im Champions-League-Viertelfinal-Rückspiel gegen PSG, als er einer der auffälligsten Spieler auf dem Platz war. Schnell, physisch stark, präsent in den Zweikämpfen, aggressiv aber fair. Vor allem eine Stärke kam dabei zum Vorschein: Die Fähigkeit, Gegenspieler zu isolieren, um die eigenen Stärken im defensiven Eins-gegen-eins ausspielen zu können. Auf diese Weise unterband er mehrfach potenziell gefährliche Kontersituationen.
Welche Stärken bringt Hernández mit?
Lucas zeigt im defensiven Bereich des Anforderungsprofils an einen Innenverteidiger ausgereifte Fähigkeiten. Physisch zeichnet er sich durch einen guten Antritt und eine hohe Grundschnelligkeit aus. Kognitiv verhelfen ihm seine gute Vororientierung und Wahrnehmung sowie die schnelle Antizipation möglicher Folgeaktionen zu einem sehr guten Stellungsspiel. Zudem wurden in den beiden Champions-League-Spielen im April mentale Stärken sichtbar: Konzentration, Fokus und unbedingter Siegeswille gepaart mit einer überdurchschnittlich aggressiven Spielweise. Diese Aggressivität weiß Hernández inzwischen zielführend einzusetzen (bisweilen schien seine Zweikampfführung eher ungestüm, hier ist eine deutliche Entwicklung zu sehen). Besonders die Fähigkeit, bei Angriffen des Gegners gezielt nach vorn zu verteidigen, gibt der sonst eher abwartenden Viererkette des FC Bayern eine neue Facette – wenn sinnvoll eingesetzt. Hinzu kommt seine Flexibilität. Laut eigener Aussage ist es Hernández „egal“, ob er in der Innenverteidigung oder auf der linken Seite zum Einsatz kommt.
Woran muss er noch arbeiten?
Die Anforderungen an Innenverteidiger beim FC Bayern belaufen sich aufgrund der (bisher) sehr offensiven Ausrichtung des Spielstils unter Flick nicht nur auf Defensivqualitäten. Im Gegenteil stehen Fähigkeiten als Aufbauspieler sogar stärker im Fokus: Sicherheit im Passspiel, Genauigkeit, Vertikalspiel. Gerade die Fähigkeit, Linien zu überspielen, erfordert eine gute Entscheidungsfindung, hohe Präzision und Differenzierungsfähigkeit im Passspiel über kurze und lange Distanzen sowie Risikobereitschaft.
All diese Fähigkeiten bringt Hernández in unterschiedlichen Ausprägungen mit. Er durchlief jedoch eine vollkommen andere Innenverteidiger-Schule. Hernández spielte 12 Jahre bei Atlético Madrid, ehe er zum FC Bayern wechselte. Gerade unter Diego Simeone, der dort seit 2011 die Profis trainiert, wurde Hernández mit einer tiefen Verteidigung im 4-4-2-System konfrontiert, in dem zunächst wenig Wert auf Ballbesitz gelegt wurde und die defensive Stabilität im Vordergrund stand.
Die Anforderungen bei Bayern sind besonders unter Flick um 180° gedreht. Eine extrem hochstehende Viererkette, die dynamisch zur Dreier- oder Zweier-Absicherung mutiert und in der die Innenverteidiger eine tragende Rolle im Spielaufbau einnehmen.
Was heißt das für die Anforderungen an Hernández? Mehr Ballkontakte, andere Anforderungen an die Positionierung im Aufbauspiel (z. B. kluges Aufdrehen, günstige Passwinkel antizipieren und schaffen) und eine zwingend notwendige, hohe Passqualität. In diesen Punkten hat er noch Entwicklungsbedarf. Im April hat Hernández gezeigt, dass er dem Bedarf auch ein hohes Entwicklungspotenzial entgegensetzen kann. So zeigt er beispielsweise gute Ansätze im Andribbeln, wenngleich er sich noch einen Tick zu häufig festläuft, weil er den richtigen Moment für ein Abspiel verpasst.
Doch auch gegen den Ball kann er in zwei Aspekten noch besser werden: Zunächst wäre da sein Timing zu nennen. Wenn er aus der Kette herausrückt und nach vorn verteidigt, dann muss er den Zweikampf auch gewinnen, sonst läuft der Gegner auf eine löchrige Abwehr zu. Das ist wohlgemerkt Kritik auf hohem Niveau. In vielen Fällen kann Hernández Angriffe frühzeitig antizipieren und verteidigen. Der nächste Schritt wird es sein, noch konstanter die richtige Entscheidung zwischen Verzögerung und Herausschieben zu treffen. Der zweite Punkt ist die Kommunikation auf dem Platz. Die Sprachbarriere führt sicher dazu, dass er kein Lautsprecher ist, aber je länger er beim FC Bayern spielt, umso mehr wird er in die Verantwortung rücken und Kommandos geben müssen.
Was könnte sich durch die Umgestaltungen der Gesamtsituation in der Saison 2021/22 für Hernández verändern?
Es bleibt spannend, welche Rolle Hernández unter Nagelsmann in der kommenden Saison einnehmen wird. Nagelsmann legt bei gleichzeitig offensiver Ausrichtung mehr Wert auf die defensive Stabilität als Flick. Bei RB Leipzig hat er in dieser Hinsicht eine ausgewogene Balance gefunden. Ob ihm das auch bei den Bayern gelingen wird, hängt wohl unter anderem von Spielern wie Lucas Hernández ab.
Hernández‘ Antritt, Grundschnelligkeit und Fähigkeit, zu antizipieren, können große Vorteile bei einer hohen Abwehrkette sein. Diese ist dadurch nicht so leicht auszukontern (wie in der aktuellen Saison bereits häufig gesehen). Die Folge: Interceptions, gewonnene Laufduelle und Vorteile in Eins-gegen-eins-Situationen.
Von Vorteil ist für Hernández sicher auch die Situation, dass die beiden verdienten Innenverteidiger David Alaba und Jérôme Boateng den Verein zum Saisonende verlassen werden. Mit Dayot Upamecano verstärkt zwar ein weiterer Innenverteidiger die Reihen, die Chancen stehen allerdings gut, dass Hernández faire Einsatzchancen bekommt. Seine Einsatzzeiten waren in der laufenden Saison nicht immer leicht zu erklären, sind bei differenzierter Betrachtung aber teilweise nachvollziehbar. Flick setzte möglicherweise trotz der hohen defensiven Anfälligkeit auf seinen Abwehrchef David Alaba, der – ähnlich wie Boateng – ebenjene Qualitäten im Spielaufbau mitbringt, die Hernández teilweise (noch) vermissen ließ.
Die jüngsten Einsätze von Hernández machen Hoffnung und Mut, dass er sich zu einem wichtigen Spieler im Grundgerüst des FC Bayern entwickeln könnte.
In der Gesamteinschätzung zu beachten
Hernández war einer der teuersten Transfers der Bundesliga-Geschichte und Rekordeinkauf der Bayern. Wie eingangs bereits erwähnt, haftet ihm die Ablösesumme von 80 Millionen an, seit der Wechsel bekannt wurde. Diese Bürde ist nicht zu unterschätzen, zumal Hernández direkt zu Beginn seiner ersten Saison lange verletzt war. Er wurde durch äußere, nicht beeinflussbare Faktoren ausgebremst. Diese machten es ihm unmöglich, die an ihn gestellten Erwartungen und in ihn gesetzten Hoffnungen zu erfüllen. Ähnliches war zu Beginn der Saison bei Leroy Sané zu beobachten.
Erklärungsansätze
Ein Grund für diese übersteigerten Erwartungen könnte sein, dass mit wachsenden Transfersummen auch ins unermessliche steigende Leistungen der Spieler erwartet werden. Eine absurde Vorstellung. Zugleich unterliegen Spieler mit hoher medialer Aufmerksamkeit aufgrund der jeweiligen Transfersummen einer besonderen Beobachtung durch Fans, Medien und wahrscheinlich auch Trainer und Mitspieler. Es ist logisch, dass durch die wachsende Aufmerksamkeit auch mehr Aktionen wahrgenommen und bewertet werden, die wiederum dem confirmation bias („Ich sehe nur, was meinen Erwartungen entspricht“) unterliegen. Am Beispiel von Hernández bedeutet das:
Hernández wird als Rekordtransfer verkündet. Vor allem für einen Verteidiger wurde bis zu diesem Zeitpunkt kaum jemals so viel Geld ausgegeben. Damit gehen extrem hohe Erwartungen an seine Leistungen einher. Die ersten Spiele absolviert er solide, jedoch ohne besondere Ausreißer nach oben oder unten. Solide bedeutet in Kombination mit den Erwartungen für die Zuschauerinnen: Enttäuschend. Was brennt sich also ein? ‚Hernández, der Rekordtransfer, der sein Geld nicht wert ist‘. Es folgt eine lange Verletzungspause. Anschließend bewerten die Zuschauerinnen jede Aktion vor dem Hintergrund ihrer zuvor gebildeten Einstellung und Erwartung. Sie filtern das heraus, was ihrem Bild entspricht. Heißt: Ich halte Hernández für einen überteuerten Einkauf und bin der Meinung, dass er kein Weltklassespieler ist. Mir fallen deshalb besonders die Aktionen auf, die dieses Bild bestätigen.
Fazit
Im April 2021 wurde deutlich, dass Hernández sich immer besser in seine Rolle im aktuellen Bayern-System einfindet. Er arbeitet daran, sein Image als überteuerter Neuzugang hinter sich zu lassen und sich als Stammspieler zu etablieren. Er scheint entwicklungswillig und in der Lage, widrige Umstände anzunehmen. Die Veränderungen sind deutlich zu sehen und lassen darauf schließen, dass er hart an sich arbeitet. Aus den anfangs noch ungestümen Grätschen wurde eine zumeist sehr kluge und faire Zweikampfführung. Die vielen sicheren Pässe zum nächsten Mann ersetzt er inzwischen häufiger durch risikoreichere Diagonalbälle auf den Flügel, Vertikalpässe ins Zentrum oder gegner- und linienüberwindende Dribblings. Hervorzuheben ist seine Mentalität. Es ist nicht selbstverständlich, dass ein Spieler nach 1,5 eher ernüchternden Spielzeiten zu jeder Zeit mit voller Konzentration, klarem Fokus, unbedingtem Willen und ohne merklichen Frust seine Leistungen auf den Platz bringt – ob über 90 Minuten oder bei Kurzeinsätzen spielt dabei für Hernández keine Rolle. Nach dem Champions-League-Rückspiel gegen PSG könnte man sagen: Hernández hat das Bayern-Gen.