Meinung: Julian Nagelsmann wird ein Glücksfall für den FC Bayern
Ein großes Portrait über Julian Nagelsmann ist wohl kaum notwendig. Seit er 2016 die TSG Hoffenheim in einem furiosen Endspurt übernommen und ihr den Klassenerhalt geschenkt hat, verfolgen viele in Deutschland mit großem Interesse seine Laufbahn. Zu Beginn aufgrund seines Alters unterschätzt, führte er Hoffenheim erstmals nach Europa und machte RaBa Leipzig anschließend endgültig zu einem legitimen Herausforderer der Bayern – wenngleich es im Endspurt mit sehr großer Wahrscheinlichkeit nicht reichen wird.
In der Geschichte des FC Bayern sind vor allem viele Spieler gekommen, die in direkten Duellen einen guten Job gemacht haben. Im Fall von Julian Nagelsmann könnte man nun meinen, dass das auch mal auf einen neuen Trainer zutrifft. In zehn Duellen blieb er sechsmal ohne Niederlage – angesichts dessen, dass sein Kader meist individuell (mitunter klar) unterlegen war, ist das eine beachtliche Bilanz.
Ab davon hat sich Nagelsmann aber in den letzten Jahren wohl vor allem deshalb für diese Aufgabe qualifiziert, weil er neben großen Erfolgen wie der Qualifikation für das Champions-League-Halbfinale in der vergangenen Saison als Persönlichkeit sehr gereift ist. Im Zirkus des Profifußballs hat er mehrfach unter Beweis gestellt, dass er auch mit Stresssituationen gut umgehen kann. Er mag nicht diese warmherzige und offene, fast schon väterliche Art eines Jupp Heynckes oder Hansi Flick nach außen tragen, wenn er auf der Pressekonferenz über aktuelle Themen spricht, aber er ist im Umgang stets professionell und lässt sich nur schwer aus dem Konzept bringen.
Julian Nagelsmann: Endlich wieder einer für Miasanrot
Sein größtes Argument ist aber der Fußball, den seine Mannschaften spielen. In Hoffenheim hat Nagelsmann einen Kader nach Europa geführt, dem viele nicht annähernd einen solchen Erfolg zugetraut hätten. Er hat Einzelspieler in allen Belangen verbessert und ihnen gruppentaktisch einen Rahmen geschaffen, in dem sie sich gut bewegen konnten. Es ist insbesondere retrospektiv betrachtet beeindruckend, wie stark die Hoffenheimer unter ihm in Drucksituationen auf dem Platz reagiert haben. Technisch sauber, meist klug und stets sehr schnell.
In Leipzig hat der Kader schon ein anderes Grundniveau gehabt, aber auch hier war schnell zu erkennen, was für eine enorme Qualität Nagelsmann hat. Passschärfe, Passgenauigkeit, Freilaufverhalten, Ballzirkulation – in all diesen Teilaspekten des Spiels war Leipzig unter den Vorgängern jeweils nicht gut genug, um einen entscheidenden Schritt nach vorn zu gehen. Erst unter Nagelsmann wurde RaBa eine Mannschaft, die in Ballbesitz flexiblen und temporeichen Fußball spielen kann.
Besonders auffällig ist dabei auch die Defensivleistung. Mit 25 Gegentoren stellt Leipzig die beste Abwehr. Nicht, weil sie individuell die besseren Spieler haben, sondern weil ihre taktische Ausrichtung sehr gut ausbalanciert ist. Unter Nagelsmann hat RaBa eine gute Balance aus Offensivdruck, hohem Pressing und defensiver Absicherung gefunden. Hätte er vorn einen Stürmer gehabt, der nur annähernd so regelmäßig trifft wie Erling Haaland oder Robert Lewandowski, wäre Leipzig vielleicht reif gewesen für den Titel.
Zu jung? Nagelsmann ist kein Lerby
Doch das bleibt Konjunktiv. Fakt hingegen ist, dass Nagelsmann in den vergangenen Jahren viel erlebt hat. Es ist womöglich gut, dass er den Zwischenschritt nach Leipzig ging, um jetzt beim FC Bayern seine bisher größte Herausforderung zu meistern, aber er hat schon oft genug bewiesen, dass sein Alter ihm nicht im Weg steht. Und schon 2017 sagte er, dass der FC Bayern ihn ein Stück weit glücklicher machen würde. Zumal auch ein Teil seiner Familie in München lebt und er selbst aus Bayern kommt.
Das Alter wiederum ist eine Zahl, die wenig Bedeutung hat. Viele Bayern-Fans werden sich an 1991 erinnern, als Sören Lerby ebenfalls im Alter von 33 Jahren das Erbe von Jupp Heynckes antreten sollte – und kläglich scheiterte. Viele Jahre hatten die Bayern an den Fehlentscheidungen der frühen Neunziger zu knabbern. Nagelsmann aber ist kein Lerby. Er steht seit nun 13 Jahren an der Seitenlinie. Beginnend mit seinem Engagement als Co-Trainer in der Jugend des FC Augsburg 2008 bis hin zum heutigen Erfolg mit RaBa Leipzig. Gern wird die Zeit im Jugendbereich kleingeredet, aber dort hat Nagelsmann viel über seinen Job gelernt. Umgang mit Menschen, Schärfung seiner Philosophie, Austausch mit Persönlichkeiten wie Thomas Tuchel oder schlicht Rückschläge, die ihn zu einem besseren Trainer und Menschen gemacht haben. Ohnehin ist das Alter vielleicht auch einfach mal ein Vorteil. Ein junger Trainer könnte den Münchnern mal wieder gut tun und frischen Wind an die Säbener Straße bringen. Nagelsmann hatte bei Hoffenheim und Leipzig viele innovative sowie kluge Ideen in den Bereichen Methodik und Technik, die auch dem FC Bayern weiterhelfen könnten.
Was Nagelsmann aber vor allem mitbringt: Einen unbändigen Ehrgeiz und den Willen, unter allen Umständen erfolgreich zu sein. Als er vor dem direkten Duell mit den Bayern gefragt wurde, ob es ihn wurme, dass er gegen die Münchner mit Leipzig noch nicht gewinnen konnte, hätte er antworten können, dass er viermal nicht verloren hat. Stattdessen gab er zu, dass es ihn schon allein deshalb nerve, weil er mehrfach nah dran war. Beim FC Bayern liest und hört man sowas sicher gern.
Die größte Herausforderung
Nagelsmann ist bereit für diesen Sprung. Zugleich ist es aber seine bisher größte Herausforderung. Was seine fachliche Eignung im fußballtheoretischen Bereich anbelangt, wird wohl kaum jemand widersprechen, dass er bereits zu den Besten zählt. Jetzt kann er es unter Beweis stellen und zeigen, dass er auch mit der besonderen Kabine des FC Bayern umgehen kann.
Trotzdem sollte man in München aber vorsichtig sein, was die Erwartungshaltung hinsichtlich der Titelausbeute betrifft. Mit Hansi Flick geht jetzt ein Trainer, der überaus erfolgreich war und sieben Titel in 1 1/2 Jahren holte. Insbesondere aus der Guardiola-Verpflichtung von 2013 sollte man gelernt haben, dass eine zu hohe Erwartungshaltung toxisch sein kann. Auch Nagelsmann wird in München mit einigen Problemen konfrontiert werden.
Die Bayern haben jetzt etwas über 40 Millionen Euro für Dayot Upamecano und Gerüchten zu Folge eine Summe zwischen 15 und 20 Millionen Euro für Julian Nagelsmann ausgegeben. Jeweils nachvollziehbare Entscheidungen, ist doch gerade der Trainer im modernen Fußball das zentrale Zahnrad, um das sich alles andere dreht. Über die Kurzfristigkeit des Jobs kann sicher diskutiert werden, aber für den sportlichen Erfolg ist der Trainerstuhl so entscheidend wie keine andere Position. Fast schon verwunderlich, dass hohe Ablösesummen für Trainer selten sind, auch wenn es schwerer ist, im Falle des Scheiterns das Geld wieder einzutreiben. Der FC Bayern sowie auch der DFB, das dürfte aus der Geschichte des deutschen Fußballs klar werden, sind jedoch immer in der Lage, Lösungen zu finden, wenn es Lösungen braucht. Wie diese letztendlich aussehen, wird zu großen Teilen hinter den Kulissen bleiben, aber die Rechnung, dass nur der FC Bayern am Ende bezahlt, ist wahrscheinlich zu simpel.
Klar ist aber auch: Durch die Investition ist der Druck auf Hasan Salihamidžić jetzt besonders groß. Braucht Nagelsmann tatsächlich eine lange Anlaufzeit, oder kommt es gar zu einem Punkt, an dem der Erfolg zu stark ausbleibt, wird neben dem Trainer vor allem er in der Verantwortung stehen, wenngleich diese Entscheidung von der kompletten sportlichen Führung getroffen wurde.
Trainerwechsel zum richtigen Zeitpunkt?
Glaubt man Herbert Hainer, wird auch mit einigen Einnahmen jetzt nicht mehr viel auf dem Transfermarkt möglich sein. Nagelsmann muss also möglichst mit dem planen, was die Bayern jetzt schon haben. Von Vorteil ist, dass der Trainer in der Auslegung seiner Philosophie flexibler ist als Flick, der sehr klar definierte und kaum veränderbare Rollenprofile hat. Das könnte dazu führen, dass Spieler wie Marc Roca ihre erste große Chance beim FC Bayern bekommen.
Auch bei den Spielern, die aktuell ausgeliehen sind, muss man mal abwarten, was Nagelsmann mit ihnen vor hat. Chris Richards hat beispielsweise eine starke Rückrunde für Hoffenheim gespielt, könnte als flexibel einsetzbare Defensivoption vielleicht den Kader verstärken. Nagelsmann ist ein Trainer, der nachgewiesen hat, dass er Spieler weiterentwickeln kann. Flick wiederum ist einer, der nachgewiesen hat, dass er das Maximum aus fertigen Spielern herausholen kann, im Entwicklungsbereich aber Probleme hat.
Kann Nagelsmann diese beiden Qualitäten miteinander verbinden, könnte es eine sehr erfolgreiche Zusammenarbeit werden. Zumal ein solcher Wechsel zum jetzigen Zeitpunkt auch eine Chance für den FC Bayern sein kann. Insbesondere nach so großen Erfolgen wie dem Triple 2013 oder jenem in 2020 ist es für Trainer oft schwer, die Anspannung durch neue Reize aufrecht zu erhalten. Die Gründe für die weitaus weniger erfolgreiche Saison sind vielschichtig, aber eine Geschichte der letzten 1 1/2 Jahre ist eben auch, dass Flick eine taktische Defizite nicht beheben konnte und einige etablierte Spieler nicht mehr an ihre Leistungsgrenze kamen. Flick zeigte sich mitunter sehr resistent gegenüber Anpassungen oder Veränderungen. Wer sagt, dass es von jetzt an nicht sukzessive bergab gegangen wäre mit ihm? Das wird bei ihm persönlich wohl ebenfalls eine Rolle gespielt haben.
Gute Basis für gemeinsamen Erfolg
Der kleine Umbruch im Kader sowie der Wechsel auf der Trainerbank könnten dabei helfen, dass die Bayern den von Flick gelegten Grundstein für eine neue Ära nun um weitere Steine erweitern können. Flick war für die besondere Coronasituation ein absoluter Glücksfall für den FC Bayern. Nagelsmann hat in vielen Mannschaftsteilen jetzt aber eine große gestalterische Freiheit, weil er Teile des Gerüsts, vor allem in der Defensive, neu aufbauen kann und muss. Auch das kann helfen, um dem Team einen neuen Anreiz zu geben. Zugleich hat er weiterhin sehr erfahrene Spieler, auf die er sich verlassen kann. Eine Mischung, die gute Voraussetzungen schafft.
Insgesamt hat der FC Bayern sich in den letzten Wochen professioneller verhalten, als viele es ihm während dieser großen Unruhe zugetraut hätten. Die schnelle und saubere Verkündung des Transfers spricht dafür, dass man hinter den Kulissen schon länger eine gewisse Planungssicherheit hat. Diesmal gab es auch kein langes Hin und Her mit einer Kompromisslösung, sondern einen klaren Wunschkandidaten, den man schlussendlich auch bekommen hat. Flick wiederum bekommt seinen Wunsch erfüllt und darf zum DFB wechseln. Wie das alles zuvor ablief, bleibt eines FC Bayern durchaus unwürdig, aber man hat repariert, was repariert werden konnte und am Ende eine Lösung gefunden, die für alle Parteien zum großen Erfolg werden könnte.
Unter den gegebenen Umständen hat der Klub also vieles richtig gemacht. Die bisherige Zusammenstellung des Kaders passt ebenfalls gut zu dem Fußball, den Nagelsmann in der Vergangenheit hat spielen lassen. Man darf gespannt sein, ob die Bayern noch den einen oder anderen Euro mehr auffinden können, um gemeinsam mit ihrem neuen Trainer etwas zu justieren. Die Basis für eine erfolgreiche Zeit ist jedoch da und mit Nagelsmann kommt jemand, von dem man durchaus erwarten kann, dass er mehr Spielern eine Chance geben wird als sein Vorgänger.
Vielleicht ja auch dem einen oder anderen Talent vom Campus. Die Untergangsstimmung, die in den letzten Wochen vielerorts vorherrschte, könnte mit ihm jedenfalls schnell wieder verschwinden. Denn die Nagelsmann-Verpflichtung kommt vielleicht zum bestmöglichen Zeitpunkt für den FC Bayern – sowie für den Trainer selbst. Vielleicht schaffen es die Bayern diesmal, endlich wieder über einen für Trainerverhältnisse längeren Zeitraum mit einem Coach zusammenzuarbeiten. Nagelsmann selbst und sein Umfeld haben zumindest häufig durchklingen lassen, dass der FC Bayern für ihn so etwas wie ein ganz großes Karriereziel darstellt. Auf dem Twitter-Account der Leipziger ist in einem Zitat von RaBa-Vorstandschef Oliver Mintzlaff sogar von einem „Lebenstraum“ des 33-Jährigen zu lesen. Er ist zudem erst der dritte bayerische Trainer, der den Rekordmeister seit Gründung der Bundesliga trainieren wird – nach Franz Beckenbauer und Felix Magath. Dass er einen Vertrag über fünf Jahre unterschrieben hat, ist jedenfalls ein klares Zeichen, dass der FC Bayern nun mal Kontinuität haben möchte – wenngleich es für die lange Vertragslaufzeit auch steuerliche beziehungsweise finanzielle Gründe geben wird.
Und ganz nebenbei bemerkt: Als Autor eines auf taktische und strategische Entwicklungen fokussierten Bayern-Blogs freut man sich ebenfalls ganz besonders auf einen Trainer wie Julian Nagelsmann. Willkommen an der Säbener Straße und viel Erfolg!
Zugleich vielen Dank an Hansi Flick für eine außergewöhnlich erfolgreiche Zeit und viel Erfolg bei den kommenden Aufgaben. Es wird in den kommenden Tagen auch noch einen Abschiedsartikel geben.