Boateng – Der angezweifelte Weltstar
Alleine bei der Meisterfeier
Bei Jérôme Boateng denke ich oft zurück an den 18. Mai 2019. Im ersten spannenden Saisonfinale seit Jahren hatte der FC Bayern gerade unter Trainer Niko Kovač einen furiosen 5:1-Sieg gegen Eintracht Frankfurt errungen. Freudetrunken stand ich in der Südkurve und schaute auf die Spieler, die mit der Meisterschale vor den Fans feierten. Doch fast zwangsläufig wanderte mein Blick immer wieder abseits der jubelnden Spielertraube.
Dort saß, alleine zwischen rot-weißem Konfetti, der Weltmeister sowie Ex-Weltklasse-Innenverteidiger, nur umgeben von seinen Töchtern. Apathisch ist das Wort, das mir in den Kopf schoss als ich ihn da sah. Eine Mannschaft hier und ein Einzelspieler dort. Wie konnten sich diese zwei so trennen? Der Abschied und die Trennung schienen unausweichlich in diesen Tagen. Und doch sollte alles ganz anders kommen.
Die Geschichte von Jérôme Boateng beim FC Bayern ist auch die eines Spielers, an dem immer wieder gezweifelt wurde.
Ein Anfang mit Höhen und Tiefen
Als Jérôme Boateng im Sommer 2011 zum deutschen Rekordmeister stieß, schlugen dem Verein und dem Spieler die erste Welle von Häme im Internet entgegen. Sicherlich auch aufgrund seines selbstsicheren Auftretens in Verbindung mit seiner Lebensgeschichte wurde er als überheblich abgestempelt. Der Berliner Junge, der in Hamburg oft vom Platz flog und dann in Manchester nach den Sternen griff, um zu scheitern.
Und tatsächlich hatte der 23-jährige Boateng von damals wenig gemeinsam mit dem Spieler, der schon drei Jahre später in Rio den Weltmeisterpokal in den Himmel recken würde. Der Innenverteidiger war vielmehr ein Rohdiamant, der geschliffen werden musste. Zu Beginn war er vor allem ein für seine Größe extrem dynamischer Verteidiger.
Extrem dynamisch und pfeilschnell: Jérôme Boateng war eine Art Alphonso Davies 1.0, als letzterer noch E-Jugend spielte. Zumindest wirkte er so neben dem 7,5-Tonner Daniel van Buyten und dem immer etwas hüftsteifen Holger Badstuber. Dennoch war Boateng noch nicht fokussiert genug. Allzu oft setzte er erst im allerletzten Moment zum Sprint an, wenn es (fast) schon zu spät war. Sicherlich einer der Gründe, weswegen ihm eine gewisse Überheblichkeit zugeschrieben wurde. Im Arbeiterfußball der Bundesliga-Verteidigung war er von Anfang an anders.
Denn die typischen Qualitäten eines Innenverteidigers gingen ihm oft noch ab. Es waren seine Stellungsfehler, weswegen er die berüchtigten Sprints anziehen musste. Es war sein fehlender direkter Zugriff, der ihn zu vielen Grätschen zwang. Bis 2014/15 flog der Nationalspieler in jeder Saison mindestens einmal mit roter Karte vom Platz.
Der Aufstieg und die Titel
Erst unter Jupp Heynckes lernte der Nationalspieler die Qualitäten, die ihn später auszeichnen würden. Der Erfolgscoach hatte ein unheimlich gutes Gespür für einzelne Spieler und schaffte es, für Boateng eine hervorragend passende Rolle im Triple-Team zu schaffen. Neben dem ruhigeren und defensiv stärkeren Dante konnte sich die Nummer 17 in Ruhe entwickeln und wachsen. In der Saison 2012/13 riss Boateng die Rolle des Abwehrchefs langsam aber sicher an sich.
In der Nationalmannschaft war Boateng anfangs noch ein Pendler zwischen den Welten. Gerade aufgrund seiner Athletik wurde er von Löw bei der WM 2010 als Linksverteidiger und bei der EM 2012 als Rechtsverteidiger aufgeboten. Eine Rolle, die er auch in seiner ersten Saison in München zwölf mal ausfüllte. Doch spätestens in der Triple-Saison machte Boateng seine Ansprüche auf einen zentralen Posten in der Verteidigung des späteren Weltmeisters klar. Nur um dann zu Beginn des Turniers wieder auf der rechten Außenbahn zu verteidigen, die er im Verein fast nie spielte.
Erst zum Achtelfinale schob der Bundestrainer Boateng in die Innenverteidigung, wo er mit Mats Hummels ein starkes Duo abgab. Ausgerechnet Hummels. Der Ur-Münchner, der den Verein früh zum nun ärgsten Rivalen verlassen hatte. In der Nationalelf 2014 war er der Batman und Boateng sein Robin.
Peps wahrer Quarterback
Dabei hatte sich Boateng beim FC Bayern zum unangefochtenen Abwehrboss gemausert. Unter Pep Guardiola erlebte der gebürtige Berliner seine stärkste Phase und stieß endgültig in die Weltklasse vor. Boateng war der Kopf einer Hintermannschaft, die in drei Guardiola-Jahren nur 58 Gegentore hinnehmen musste.
Auf dem absoluten Höhepunkt seines Schaffens rund um die Saison 2014/15 vereinte Boateng die Qualitäten eines modernen Innenverteidigers wie nur wenige andere. Er hatte eine ihresgleichen suchende Leichtigkeit, mit der er Zweikämpfe für sich entschied. Seine Athletik hatte er durch diszipliniertes Training halten können. Dazu wurde er unter Guardiola zum überragenden Spielmacher, der aus tiefer Position sowohl Schaltzentrale als auch Passgeber in die Tiefe war. Der Boateng jener Tage ist auf einer Stufe mit den Peaks von van Dijk und Ramos im letzten Jahrzehnt.
In der Saison 2013/14 brachte er pro Spiel 9,4 von 13 langen Bällen an den Mann. In der Saison 2014/15 gab er als Innenverteidiger 0,8 Torschussvorlagen pro Spiel. An guten Tagen landeten seine halbhohen Pässe mit der Schärfe einer Habanero-Chili und der Präzision eines schweizer Uhrwerks millimetergenau im Lauf des Stürmers hinter der Abwehrkette. An schlechten Tagen betrug die Streuung wenige Zentimeter.
https://www.youtube.com/watch?v=HvQ-SIv6Dxc
Bei diesem Video kann man nicht anders als fünfzehn Minuten lang sprachlos mit offenem Mund vor dem Rechner zu sitzen.
Dass die starke Saison 2014/15 von Boateng international nur wenig Beachtung fand, liegt daran, dass eine Aktion weltweit für Aufsehen sorgte. Im Hinspiel des Champions-League-Halbfinals dribbelt Lionel Messi direkt auf Boateng zu und schlägt ein, zwei Haken woraufhin Boateng rückwärts auf sein Gesäß fällt. Die ultimative Demütigung. Ein Move, der den Verteidiger ähnlich alt aussehen lässt wie Allen Iversons Step-Over gegen Tyronn Lue. Sofort ging das Video viral und das Bigger Picture ging verloren.
Langsamer Abbau
Doch mit dem Abschied von Guardiola begann auch der langsame Abbau bei Boateng. Gleich mehrere Verletzungen warfen ihn zudem aus der Bahn, weshalb er nach der EM 2016 bis in den September 2017 insgesamt 270 Tage verpasste. In den beiden Spielzeiten zusammen brachte Boateng es nur auf 32 Ligaeinsätze. Das vermeintliche Traum-Duo der beiden besten deutschen Innenverteidiger des Jahrhunderts Boateng und Hummels, der 2016 an die Isar wechselte, wurde auch deshalb nicht direkt warm.
Doch wurde Boateng als Abwehrchef in dieser Zeit auch viel angekreidet, wofür er nicht direkt verantwortlich war. Die Verteidigung ohne Kapitän und Weltklasse-Rechtsverteidiger Lahm benötigte Zeit, sich zu finden. Manuel Neuer und David Alaba rutschten zeitgleich in eine kleine Schaffenskrise. Die gesamte defensive Stabilität ging auch systembedingt unter Trainer Carlo Ancelotti etwas verloren. Obwohl die Münchner eigentlich tiefer verteidigen wollten, waren sie defensiv instabiler als mit dem ballbesitzorientierten Offensivfußball unter Guardiola.
In diese Zeit fiel auch die Selbstfindungsphase von Boateng als Entrepreneur. Seit Frühjahr 2015 wird er durch die Agentur RocNation, an der Rapper Jay-Z beteiligt ist, vertreten. Im März 2016 erschien seine eigene Brillenkollektion. Zwei Jahre später sein eigenes Lifestyle-Magazin. Vorstandschef Rummenigge kritisierte damals im Rahmen einer Champions-League-Reise nach Rostow, dass Boateng “zur Ruhe kommen muss”, es “zu viel Hype” um ihn gäbe und er “back to earth” kommen müsse. Aussagen, die bei Boateng nicht gut ankamen.
Geplagt von Verletzungen und ohne seine markentypische Athletik eilte der Innenverteidiger seiner Bestform hinterher. In Situationen, die er vor Jahren noch durch Athletik geklärt hatte, schwamm er zusehends. Seine berüchtigten langen Bälle wurden immer häufiger zum Selbstzweck, brachten gegnerische Abwehrreihen aber nur noch selten in die Bredouille. Fast folgerichtig wurde der Nationalspieler dann von Jogi Löw in einem Akt der Verzweiflung zusammen mit Müller und Hummels aus dem Kader verbannt.
The Revenant
Den Ausbruch aus diesem Abwärtsstrudel schaffte Boateng erst unter Hansi Flick. Erneut war es ein spielernaher Trainer, der es schaffte, für den alternden Superstar eine geeignete Rolle im Kader zu finden. Anfangs durch den Kreuzbandriss von Niklas Süle aus der Not geboren, blühte Boateng ganz ähnlich wie unter Heynckes in einem geordneteren Defensivsystem wieder auf. An der Seite des neuen Abwehrchefs Alaba konnte er befreiter aufspielen.
Im Champions-League-Finalturnier war er es immer wieder, der seinem Abwehrchef die Show stahl und dessen Aussetzer gerade im Herausrücken ausbügeln musste. Boateng war zwar nicht mehr der Boss alter Tage, doch wusste er nun mit Erfahrung zu glänzen. Durch seine professionelle Einstellung, die auch Sandro Wagner zuletzt lobte, schaffte er seinen Athletikabbau zu verlangsamen. Als am Saisonende die Titelfeiern anstanden, war Boateng inmitten seiner Teamkollegen und nicht mehr am Rande wie noch im Vorjahr.
Ein letztes Hurra? Denn als bereits Stimmen laut wurden, dass Löw mit einer Rolle rückwärts den verdienten Nationalspieler zurück ins Team holen könnte, begann die Saison 20/21. In einem extrem engen Terminkalender ohne Pausen schafften es die Flick-Bayern zu keinem Zeitpunkt, defensiv stabil zu agieren. In jeglicher Besetzung wirkte die Abwehr wie ein überforderter Hühnerhaufen, wenn der Fuchs im Stall steht. Boateng war hier keine Ausnahme: Stellungsfehler, einfache Ballverluste und fehlender Zugriff prägten sein Spiel. Dennoch wirkte er oft noch wie das stabilste Fundament im wackeligen Kartenhaus der Münchner Defensive.
Im letzten Vertragsjahr war dies kein Empfehlungsschreiben und wohl auch deshalb zog der Verein die Reißleine. Ohne den Charme vergangener Tage setzte man – mitten im internen Machtkampf zwischen Flick und Salihamidzic – seine verdienten Spieler alter Tage vor die Tür. Wohl vor dem Champions-League-Viertelfinal-Hinspiel gegen Paris erfuhr Boateng von der Entscheidung des Aufsichtsrates, die bereits am Vortag durch die Presse gegeistert war. Zwar hatte sich die Trennung schon zuvor angekündigt und der Klub wird dauerhaft in Kontakt mit Boatengs Beratern gestanden haben. Doch ist das der Abschied, den man einer der zentralen Spieler des erfolgreichsten Jahrzehnts der Vereinsgeschichte bereiten will?
Im Rückspiel des Ausscheidens gegen Paris blitzte noch einmal der Boss Boateng durch. In einer Minute des kompletten Chaos, als ein scharfer Pass von Angel Dí Maria durch den Fünfmeterraum fegt und nur knapp von Neymar verpasst wird, bleibt Boateng ganz locker und lässig. Wie selbstverständlich klärt er den Ball per Hacke kontrolliert ins Toraus. Der total ruhige Boateng im hektischen Hühnerstall – ein Bild, das bei mir zukünftig im Kopf bleiben wird.
Finale Einordnung
Wo steht nun Jérôme Boateng in der Rangliste der Bayern-Legenden? Mit aktuell 357 Spielen steht er in der Top-20 der Rekordspieler des Vereins vor Breitner und Hoeneß. Fun Fact am Rande: Mit sechs Roten Karten ist er in der Kategorie sogar Spitzenreiter. Sollten die Bayern am Saisonende Deutscher Meister werden, würde der Fußballer des Jahres von 2016 insgesamt 20 Titel im roten Trikot gefeiert haben.
Boateng hat die Drama-Saison 2012 erlebt, wurde zweimal Triple-Sieger als zentraler Bestandteil der Mannschaft und insgesamt acht mal deutscher Meister. Alleine Neuer und Müller können das über sich sagen. Dazu der WM-Titel 2014 in Brasilien. Für mich ist Boateng an seinem Peak der beste deutsche Innenverteidiger, den ich spielen gesehen habe. Das gilt auch für den FC Bayern. Er war noch kompletter als Lúcio, Hummels oder Linke. Auch den Quervergleich zu David Alaba entscheidet Boateng meiner Meinung nach für sich. Am Ende wird Boateng wohl im Dunstkreis der Top-15 der Klubgeschichte bleiben. In der Twilight-Zone der Fast-Legenden.
Deswegen werde ich am 22. Mai diesen Jahres sicherlich wehmütig zuschauen, wie Boateng durch das vom Sportchef versprochene “große Tor” verabschiedet wird und hoffentlich im Kreis seiner Mitspieler den neunten Meistertitel feiern kann.