Einwurf: Willkommen zurück, Boa!
Gefühlt habe ich mich schon hundertmal von Jérôme Boateng verabschiedet. Wie oft war er schon mit einem Fuß aus der Tür; wie herzzerreißend Uli Hoeneß‘ Aussage, dass Boateng sich besser einen anderen Verein suchen sollte; wie verloren, isoliert und leistungsschwach wirkte der Innenverteidiger häufig auf dem Platz.
Doch jetzt, zum Saisonende, hat sich Boateng – auch aufgrund der Verletzungen diverser Mitspieler – wieder einen Stammplatz erkämpft. Vor einigen Monaten sah es noch ganz danach aus, als würde seine Zeit beim FC Bayern sich tatsächlich dem Ende zuneigen. Ob Boateng am Ende der Saison wirklich den Verein verlässt, oder ob er seinen Vertrag, der noch bis 2021 läuft, doch noch erfüllt, steht momentan noch nicht fest. Eins ist jedoch sicher: Trainer Hansi Flick schätzt Boateng, ist (mit-) verantwortlich für die Renaissance des Innenverteidigers und hat wahrscheinlich auch indirekt dazu beigetragen, das Verhältnis zwischen Spieler und Verein wieder zu kitten.
Vor gut einem Jahr riet Uli Hoeneß „Fremdkörper“ Boateng, sich einen anderen Verein zu suchen. Die Art und Weise, wie dies geschah – live im Fernsehen, während der Meisterfeier am Münchner Marienplatz – war alles andere als galant und stilvoll. Aber selbst eingefleischte Boateng-Fans mussten sich eingestehen, dass da etwas zerbrochen war. Und zwar so unwiderruflich, dass kein Happy End mehr folgen konnte.
Auf dem Absprung
Auch Boatengs Verhältnis zu den Fans hatte gelitten. Er ging nach Spielen nicht mehr mit dem Rest der Mannschaft in die Fankurve, sondern verschwand gleich in der Kabine. Als es auf dem Platz nicht mehr gut für ihn lief, wurde Boateng oft belächelt, manchmal sogar verspottet, weil er sich für Mode interessiert, eine eigene Brillenkollektion entworfen und ein Lifestyle-Magazin namens BOA ins Leben gerufen hat. Der hat nur Klamotten und Bling-Bling im Kopf, kein Wunder, dass seine Leistungen so rapide bergab gehen. (Aber ernsthaft, wenn es ihm Spaß macht, ja, dann lasst ihn doch!)
Zu Beginn dieser Saison war Boateng schon so gut wie weg. Medienberichten zufolge gab es bereits eine Einigung für eine Boateng-Leihe zu Juventus Turin, und folgerichtig erschien Boateng auch nicht mehr zum Mannschaftsfoto-Termin. Doch in letzter Sekunde platzte der Deal, und Boateng konnte wieder nicht weiterziehen.
Er entschuldigte sich bei den Fans für sein Verhalten in der vergangenen Saison und erntete für seine Ehrlichkeit viel Anerkennung. Doch auch wenn die Fans schnell bereit waren, ihm zu verzeihen, hatte Boateng zu Beginn der Saison wenig Freude. Unter Niko Kovač spielte er zunächst keine Rolle. Erst als Niklas Süle und Lucas Hernández langfristig ausfielen, rückte Boateng zurück in die Startelf, war aber oft nur noch ein Schatten seiner selbst.
Er wirkte verunsichert, und es unterliefen ihm häufig Stellungsfehler. Oft wurde Boateng auch in Laufduelle gezwungen, in denen er sich aufgrund mangelnder Schnelligkeit nur noch mit einem Foul behelfen konnte: so auch seine Notbremse nach zehn Minuten gegen Eintracht Frankfurt im November. Boateng flog vom Platz, und am Ende hieß es 1:5. Es war das letzte Spiel unter Kovač.
Das große Comeback
Mit Hansi Flick übernahm ein Trainer die Mannschaft, der Boateng kennt, wertschätzt und an ihn glaubt. Einer, der mit den Spielern redet und immer ein offenes Ohr für sie hat. Schritt für Schritt und mit enormer Willenskraft kam Boateng wieder an frühere Leistungen heran – spätestens nach der Zwangspause in der Corona-Krise, aus der er erstarkt zurückkehrte, war die Renaissance des Jérôme Boateng vollendet. Mit David Alaba, seinem langjährigen Teamkollegen und neuem Partner an der Seite, versteht er sich hervorragend. Die Mannschaft sichert wieder besser nach hinten ab und erspart Boateng so oft die lästigen Sprintduelle.
Und was macht Boateng? Er verteidigt und grätscht wie zu seinen besten Zeiten. Er ist wieder vermehrt für den Spielaufbau zuständig. Er verzaubert uns mit feinen Pässen und langen Bällen. Er lacht und hat Spaß und feierte fröhlich die Meisterschaft und den Gewinn des DFB-Pokals.
Dass Boateng in dem Spiel gegen Bremen, das den Bayern den achten Meistertitel in Folge bescherte, die Vorlage zum entscheidenden Tor gab – das ist fast zu kitschig, um wahr zu sein. Dass er im Pokalfinale mit einer Monstergrätsche ein Gegentor verhinderte, vor den Augen des Bundestrainers, der ihn bereits im März 2019 als „zu alt“ befunden und bei der Nationalmannschaft nebst Thomas Müller und Mats Hummels aussortiert hatte – welch eine herrliche Genugtuung.
Blick nach vorn
Ein Boateng in dieser Form ist unverzichtbar für die anstehenden Spiele in der Champions League. Was danach geschieht, darüber wird wohl im August verhandelt. Die Zukunft gehört natürlich den Jungen: Sowohl Süle als auch Hernández haben sich bereits zurückgemeldet, und sie werden früher oder später auch ihre Einsätze bekommen. Doch wäre es nicht wunderbar, bis dahin und darüber hinaus immer noch einen Boateng in der Hinterhand zu haben?
Es gibt auch noch andere Gründe, warum Boateng dieser Mannschaft gut tut – gerade in Zeiten von Black Lives Matter und immer wieder aufkommenden Diskussionen um Rassismus im Fußball und in der Gesellschaft. Boateng hat, natürlich auch aufgrund seiner eigenen Erfahrungen, in dieser Hinsicht nie ein Blatt vor den Mund genommen, sondern hat seine Meinung stets klar und öffentlich vertreten. Das war nicht immer selbstverständlich – man denke da nur an die unglücklichen Aussagen einiger seiner Mannschaftskollegen nach der WM 2018.
Dieses soziale Engagement gepaart mit seinen – inzwischen wieder hervorragenden, vielleicht sogar Weltklasse-Fähigkeiten auf dem Platz sind nur zwei der vielen Gründe, warum ich schon immer einen „soft spot“ für Boateng hatte. Sollte er sich dazu entschließen, den Verein zu wechseln, dann wäre das zwar immer noch traurig – es tut immer weh, wenn Lieblingsspieler den Verein verlassen. Aber es wäre trotzdem das Happy End, an das vor einem Jahr niemand mehr geglaubt hätte.
Boateng würde den FC Bayern nicht als ausrangierter Ersatzspieler verlassen, sondern als verdienter Innenverteidiger, mit zwei oder hoffentlich drei weiteren Titeln im Gepäck. Es wäre kein würdeloser Abgang mehr, sondern ein Abschied, wie er ihn nach neun Jahren beim FC Bayern verdient hätte: versöhnlich. Dennoch möchte ich eigentlich sagen: Komm, Boa, mach das Jahrzehnt voll!