Vorschau: FC Bayern München – 1. FC Union Berlin

Justin Trenner 25.10.2019

Abpfiff. Platzsturm. Ekstase. Emotionen. Der 27. Mai 2019 ging in die Geschichtsbücher eines Klubs aus Ost-Berlin ein, der über Jahre hinweg auf dieses Ziel hingearbeitet hat. Wer einmal im Stadion an der Alten Försterei zu Gast war, der weiß, dass sich Union Berlin von anderen abhebt und auch abheben möchte.

Die Eisernen sind anders und grenzen sich bewusst ab. Daran muss nicht jeder Gefallen finden, doch der Bundesliga kann es ob der Einzigartigkeit dieses Klubs nicht schaden. Als Präsident Dirk Zingler, angesprochen auf das Derby gegen Hertha, diesen Sommer von einem „Fußball-Klassenkampf“ sprach, wurde nur allzu deutlich, worauf sich die Liga einstellen muss.

Diese Wir-gegen-den-Rest-Mentalität sorgte schon in den letzten Jahren dafür, dass Union den einen oder anderen Favoriten in Pokal und Liga ärgern konnte. Je erfolgreicher man in der zweiten Liga aber wurde, desto schwieriger wurde es auch mit der besagten Mentalität. Union wurde zunehmend zu einem ernstzunehmenden Aufstiegsfavoriten und schien sich an diese Rolle erst gewöhnen zu müssen.

Union Berlin: Keine Ballbesitzmannschaft

Im Gegensatz zu für die zweite Liga fast schon revolutionären Teams wie Kiel oder Paderborn zählte Union eher nicht zu den Mannschaften, die begeisternden Offensivfußball boten. Stattdessen war man stets darum bemüht, die eigene Defensive zu stabilisieren und zu stärken. Mit Erfolg: Nur 33 Gegentore kassierte der FCU in der abgelaufenen Saison.

Im Vergleich zum HSV (57,3%), Köln (56,7%, Kiel (54,5%) und Paderborn (52,8%) hatten die Köpenicker im Durchschnitt deutlich weniger Ballbesitz (48,4%, Platz 12). Dafür erspielten sie sich trotzdem die viertmeisten Abschlüsse (15,4 pro Spiel) und ließen die zweitwenigsten zu (11,7 pro Spiel). Spannend ist darüber hinaus, dass Union mit einer Passquote von nur 71,3% den fünftschlechtesten Wert vorzuweisen hatte.

Ganz im Stile des Klischees einer Arbeitermannschaft, die sich selbst im Klassenkampf gegen den Rest der Liga sieht, kam Union vor allem über Aggressivität, schnelles Umschalten und Zweikämpfe. 17,7 Fouls pro Spiel waren ligaweit der mit Abstand höchste Wert. Und auch in dieser Saison hat sich an der Spielweise wenig verändert. Im Schnitt 43,2% Ballbesitz (Platz 17), 70,2% Passquote (Platz 17), 16 Fouls pro Spiel (Platz 1) und ein großer Fokus auf defensive Stabilität.

Zu harter Stil?

Die relativ direkte und wenig schnörkelhafte Spielweise brachte den Unionern gerade in dieser Saison den Vorwurf ein, dass sie überhart spielen würden. Die vielen Fouls und bereits drei Platzverweise scheinen diese These zu stützen.

Wahr ist aber auch, dass Union sich in einem Prozess befindet. Die Mannschaft muss sich an das höhere Tempo der Bundesliga erst gewöhnen und kommt in einigen Szenen schlicht zu spät. Wie so oft ist der Vorwurf der Überhärte deshalb zumindest diskutabel.

Richtig ist, dass die Bayern sich auf einen sehr unangenehmen Gegner einstellen können. Union ist aber mehr als das Klischee einer Arbeitermannschaft. Statistiken bilden immer nur einen Teil der Wahrheit ab. Wer beispielsweise den 3:1-Erfolg über Borussia Dortmund sah, der sah auch eine leidenschaftliche Berliner Mannschaft, die in einigen Spielphasen mutig nach vorn schob.

Mehr als ein Klischee

Das 4-2-3-1 (gegen den Ball eher ein 4-4-2) wurde von den Spielern sehr variabel und gleichzeitig konsequent interpretiert. Immer wieder schob die gesamte Mannschaft klug nach, wenn ein Spieler herausrückte. Dortmund fand kaum Möglichkeiten, sich effizient zwischen die Linien des Gegners zu kombinieren. Nur Freiburg (und in einigen Modellen auch Gladbach) gelang es in dieser Saison, den BVB bei weniger Expected Goals1 zu halten als die Eisernen (Beispiele: 1,6 [understat.com]; 1,5 [caley graphics]; 0,89 [BetweenThePosts]).

Dortmunds Passmap gegen Union Berlin.
Quelle und Grafik: https://betweentheposts.net/

Ein Blick auf die Passmap der Dortmunder zeigt, wie Union dem Favoriten den Zahn zog: Zwar konnte der Sechserraum vom BVB gut eingebunden werden, doch wirkliche Tiefe gab es im Spiel nicht. Das war nicht zuletzt ein Verdienst der sehr kompakten und engagiert verteidigenden Heimmannschaft.

Ohnehin scheint der Gewöhnungsprozess der Berliner an die Bundesliga langsam Fahrt aufzunehmen. Der Sieg gegen Freiburg und die knappen Niederlagen gegen Frankfurt und Wolfsburg sind erste Indizien dafür. Damit einher geht zumindest in den letzten beiden Partien auch ein Formationswechsel. Trainer Urs Fischer stellte zuletzt auf eine Dreier- beziehungsweise Fünferkette um.

Und die Offensive?

Damit schloss er zunächst eine wichtige Baustelle: In den ersten Wochen tendierte die Viererkette seiner Mannschaft dazu, in den Halbräumen zu viel Platz anzubieten. Die Außenverteidiger ließen sich zu leicht aus ihren Positionen ziehen und simple Verlagerungen reichten aus, um Union ins Schwimmen zu bringen.

Die Fünferkette schien hier stabiler zu sein. Bei gleichbleibender Kompaktheit im Zentrum können die Eisernen nun besser in die Breite verteidigen. Gegen den FC Bayern könnte das wichtig werden, um deren schnelle Flügelspieler zu doppeln.

Doch die Frage ist auch, wie Union zu Entlastungsphasen kommen möchte. Schon in der vergangenen Saison haben sie nur 28 Tore aus dem Spiel heraus erzielen können (Platz 9). Besonders gefährlich waren sie dafür nach Standards (16 Tore + 3 Elfmetertore; Platz 3). Dass auch in dieser Saison mehr als ein Drittel aller Abschlüsse der Unioner aus Standardsituationen resultieren (4,5 pro Spiel), ist gleichzeitig gut und verbesserungswürdig.

Warum nicht auch in München punkten?

Gegen Freiburg zeigte sich die Mannschaft von Urs Fischer immerhin offensiv durchschlagskräftiger und etwas mutiger. Doch auf Dauer wird sie in der Bundesliga Möglichkeiten finden müssen, häufiger gefährlich in den Strafraum zu kommen. Nur selten greifen bei Union mehr als fünf Spieler gleichzeitig vorne an, oft sind es sogar weniger. Trotzdem lassen sie immer wieder durchblitzen, dass im Angriff noch mehr Potential vorhanden wäre. Vorzugsweise über die Flügel strahlt Union trotz häufiger Unterzahlsituationen gelegentlich Gefahr aus.

Schaffen es die Berliner, ihre defensive Stabilität der letzten Spiele in etwa zu halten und gleichzeitig mehr klare Torchancen herauszuspielen, ist der Klassenerhalt realistisch. Gerade weil sich die Mannschaft von Fischer nicht vor der Konkurrenz verstecken muss.

Gegen die Bayern steht nun aber erstmal ein Spiel an, bei dem die Erwartungen relativ gering sind. Gleichwohl sind das die Momente, in denen die Berliner in der Vergangenheit ihre besten Leistungen gezeigt haben. Der FC Bayern kann sich also warm anziehen. Nicht nur deshalb, weil die eigene Verfassung aktuell denkbar schlecht ist. Vor allem deshalb, weil da eine Mannschaft kommt, die mit ihrer Wir-gegen-den-Rest-Mentalität über ihre Grenzen gehen wird, um aus München etwas mitnehmen zu können. Auch wenn das in der Allianz Arena nochmal deutlich schwieriger wird als daheim gegen Dortmund.

Die Verwundbarkeit des FC Bayern

Eine tiefe Fünferkette, eine knapp davor verteidigende Viererkette, ein kompaktes Zentrum und viel Aggressivität – es gab Zeiten, in denen die Bayern solche Bollwerke mit ihren Pässen sezierten und abfertigten. Doch diese Zeiten scheinen endgültig vorbei zu sein.

Mögliches Problem gegen Unions Bollwerk: Der Abstand im Mittelfeld.

Behäbig und träge wirkt das Spiel der Bayern momentan. Wenig Bewegung, ungenaue Zuspiele und eine große Unsicherheit waren zuletzt prägend. Das mangelhafte, nicht mal wirklich existente Positionsspiel raubt der Mannschaft sogar die eigentlich vorhandenen Qualitäten im Gegenpressing – und somit fast schon die letzte große Stärke. Das berechenbare „U“ in der Ballzirkulation und das Loch im Zentrum sind noch vorhersehbarer als die wöchentliche Kritik daran in diesem Blog.

Geäußert werden muss sie dennoch. Wenngleich es viel interessanter wäre, die Gründe dafür zu erfahren. Warum entscheidet sich Kovač für so große Abstände? Oder will er sie gar nicht? Oder ist es ihm sogar egal oder gar nicht aufgefallen? Auf den Pressekonferenzen des FC Bayern werden solche Fragen aber leider nicht gestellt. Da geht es dann um Thomas Müllers Laune, Thomas Müllers Einsatzzeiten und womöglich bald auch um Thomas Müllers Frühstück. Es ist die vertane Chance, den Trainer in seinen Entscheidungen besser verstehen und analysieren zu können. So bleibt die Ursachenforschung aber leider ein Fischen im Dunkeln. Womöglich präferiert Kovač ein vermeintlich sicheres Spiel über die Außenbahnen, weil er sich dort mit vielen Spielern ein stärkeres Gegenpressing erhofft, als es die Realität derzeit hergibt. Auch das ist aber Spekulation.

Was jedoch klar zu beobachten ist: Selbst Aufsteiger müssen dieser Tage nicht mit sonderlich großer Angst nach München reisen. Zwar geriet der 1. FC Köln zuletzt mit 0:4 unter die Räder, doch es gab Momente, in denen ein offenerer Spielverlauf möglich gewesen wäre. Im Prinzip geht es für Gegner „nur“ darum, das eigene Mittelfeld kompakt zu halten, bei Ballgewinnen schnell die Räume im Zentrum zu finden und vor dem Spiel ein Stoßgebet auszusprechen, dass man die erste Mannschaft ist, gegen die Lewandowski in dieser Saison nicht trifft. Oder zumindest nicht ganz so oft. Wie gegen Augsburg.

Die Bayern sind verwundbar geworden. Das spüren nicht nur die vermeintlichen Kleinen aus dem unteren Tabellendrittel. Auch die Konkurrenz aus Dortmund oder Gladbach weiß darum. Watzkes Meisterschaftsziel und Eberls Aussagen über einen schwächelnden FCB sind da nur zwei Beispiele unter vielen.

Weiterer Ausrutscher verboten

In München sucht man nach dem Selbstverständnis. Anspruch und Realität klaffen weit auseinander. Hinzu kommen Unzufriedenheit bei Fans und Spielern sowie die Verletzungen von Lucas Hernández und Niklas Süle. Zwar wurde Kovač noch nicht direkt und offensichtlich angezählt, doch die Situation wird für ihn langsam unangenehmer. Salihamidžić und Rummenigge nahmen die gesamte Mannschaft in die Pflicht und kritisierten die Leistung gegen Piräus.

Die Frage nach den Ursachen beschäftigt den ganzen Klub. So sollen taktische Gründe intern ebenso thematisiert werden wie eine unklare Hierarchie innerhalb der Mannschaft. Beides Aspekte, für die ein Trainerteam große Verantwortung übernehmen muss. Kovač kennt diese Situation. Er hat sie im vergangenen Jahr schon einmal überstanden und schlussendlich gemeistert. Kann er es aber nochmal schaffen?

Die Zweifel daran werden größer. Zumal er bereits im letzten Jahr Probleme mit dem Mannschaftsgefüge offenbarte. Scheinbar hat es ihm nicht geholfen, dass Hummels, James, Robben, Ribéry und Rafinha den Klub verlassen haben, obwohl sie alle mehr oder weniger Reibungspunkte mit ihm hatten. In dieser Saison ist es seine Aufgabe, die sich neu bildende Hierarchie des Kaders zu moderieren und zu begleiten. Noch scheint ihm das nicht zu gelingen. Ein Rezept für Ruhe ist dabei aber immer auch der Erfolg.

Gegen Union werden die Augen jedoch nicht nur darauf gerichtet sein, ob der FC Bayern seine Pflichtaufgabe meistert. Fans, Vorstand und auch Spieler werden genau beobachten, wie das Spiel verläuft. Denn selbst wenn Uli Hoeneß nach außen hin seine Zufriedenheit über die aktuelle Tabelle äußerte, so wird er genau wissen, dass ein weiterer Punktverlust gegen eine Mannschaft aus dem unteren Tabellendrittel fatal wäre. Und mit den Leistungen gegen Augsburg sowie Piräus dürfte das Vertrauen darin, dass Hoffenheim nur ein Ausrutscher war, deutlich gesunken sein.

1 Expected Goals ist eine Metrik, die versucht Qualität von Torabschlüssen zu messen, indem sie jedem Abschluss eine Wahrscheinlichkeit zuordnet. Die Modelle funktionieren jeweils unterschiedlich, weshalb es zu starken Abweichungen zwischen ihnen kommen kann. Im Verbund mit anderen Statistiken und dem subjektiven Eindruck können sie aber eine Annäherung an Objektivität ermöglichen.

Dazu auch interessant: Ein Blick auf die Partie von textilvergehen aus Union-Perspektive.

Vorschau-Tippspiel

Im Vorschau-Tippspiel tippe ich den gesamten Bundesliga-Spieltag. In unserer Kicktipp-Gruppe könnt ihr euch mit mir und allen anderen messen. Der oder die GewinnerIn der Kicktipp-Runde bekommt von mir ein signiertes Exemplar Generation Lahmsteiger.

Hier geht es zur Kicktipp-Runde!

Spieltagssieger

Maurice1610 sicherte sich am letzten Wochenende den Tagessieg mit 17 Punkten. Hier die Top 5:

  1. Beltiboy – 116 Punkte (0 Spieltagssiege)
  2. Olorin – 114 Punkte (0,33 Spieltagssiege)
  3. Edlan – 114 Punkte (0 Spieltagssiege)
  4. ElbersErben – 114 Punkte (0 Spieltagssiege)
  5. hubus – 112 Punkte (0 Spieltagssiege)

Lahmsteiger: Platz 128 – 84 Punkte (0 Spieltagssiege)

So läuft es gegen Union …

Die Bayern brauchen eine Reaktion und im Rahmen ihrer aktuellen Möglichkeiten gibt es auch eine. Sie gewinnen mit 3:1, überzeugen aber wieder nicht auf ganzer Linie. Pflichtsieg ist dennoch Pflichtsieg.

So könnte Bayern spielen …

4-2-3-1: Neuer – Kimmich, Pavard, Boateng, Alaba – Thiago, Tolisso – Müller – Gnabry, Lewandowski, Perišić

Es fehlen: Hernández, Süle, Arp, Mai; Coman und Gnabry sollen ebenso angeschlagen gewesen sein wie Martínez, genauere Informationen fehlen aber noch

So läuft der Spieltag …

Mainz 2:1 Köln
Hertha 2:1 Hoffenheim
Bayern 3:1 Union
Paderborn 2:1 Düsseldorf
Freiburg 1:1 Leipzig
Schalke 2:2 Dortmund
Leverkusen 2:1 Bremen
Wolfsburg 2:1 Augsburg
Gladbach 2:1 Frankfurt



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