Vorschau: Holstein Kiel – FC Bayern München

Justin Trenner 12.01.2021

Hansi Flick hatte sich den Start in das neue Kalenderjahr sicher anders vorgestellt. Siege gegen Mainz und Gladbach hätten für die Ruhe gesorgt, um jetzt lautlos rotieren zu können, wenn es gegen Kiel, Freiburg, Augsburg und Schalke gegen vermeintlich kleinere Gegner geht.

Doch Vorsicht ist geboten. Gerade der vielerorts schon eingeplante Bayern-Sieg in der zweiten Pokalrunde gegen Holstein Kiel ist noch nicht in Stein gemeißelt. Die Störchen spielen eine bis dato starke Saison, stehen mit 29 Punkten aus 15 Spielen auf dem dritten Platz der 2. Bundesliga. Das Team von Trainer Ole Werner hat so wenig Spiele verloren wie keine andere Mannschaft in der Liga: Zwei.

Holstein Kiel: „Spielweise, die über Kiel hinaus bekannt ist“

Der Erfolg dieses Klubs ist nicht weniger als bemerkenswert. Nach dem Aufstieg in die 2. Bundesliga im Jahr 2017 stürmten die Störche sofort auf Platz drei – und scheiterten in der Relegation am VfL Wolfsburg. Es folgten ein sechster und ein fast schon enttäuschender elfter Rang in der letzten Spielzeit.

Wie kann es sein, dass Kiel plötzlich so erfolgreich ist? Die simple Antwort ist, dass die Entscheidungsträger in den letzten Jahren vieles richtig gemacht haben. Vor allem wurde im letzten Jahrzehnt sukzessive eine Philosophie etabliert, über die der heutige Trainer Werner sagt: „[Wir haben] über die letzten Jahre eine Spielweise, eine DNA entwickelt, die über Kiel hinaus bekannt ist.“

Es kommt relativ selten vor, dass Mannschaften eines Klubs einen derart hohen Wiedererkennungswert haben, dass man sie auch ohne Trikots dem richtigen Verein zuordnen kann. Bei den ganz Großen fallen sofort Ajax und Barcelona ein – in Deutschland zählt Kiel mittlerweile zu jenen Klubs, die von den Jugendmannschaften bis hin zu den Profis im Herrenbereich einen roten Faden erkennen lassen.

Der blau-weiß-rote Faden

Spieler- und Trainerverpflichtungen richten sich an dieser DNA aus. Deshalb gelang es Kiel auch mit nur kleinen Schwankungen erfolgreich zu bleiben, obwohl die Trainer an der Seitenlinie verhältnismäßig oft wechselten. Nachdem Werner im August 2016 schon mal Interimstrainer war, prägte Markus Anfang die darauffolgenden zwei Jahre. Es folgte ein Jahr mit dem in München bekannten Tim Walter, ehe die Zusammenarbeit mit André Schubert ein noch kürzeres Vergnügen blieb. Jetzt steht seit September 2019 wieder Werner an der Seitenlinie. Einer, der den Klub und die von ihm angesprochene DNA kennt.

Im weitesten Sinne handelt es sich dabei um gnadenlosen Offensivfußball, der sich durch ein aggressives Gegenpressing, ein schnelles Spiel in die Spitze und viel Dynamik auszeichnet. An dieser Stelle ist Kiel noch nicht wirklich besonders. Viele Teams in Deutschland schreiben sich diese Attribute auf die Fahnen. Allein der FC Bayern will als Beispiel für sich reklamieren, dass all seine Teams offensiven, auf Ballbesitz ausgerichteten Fußball spielen.

Der Unterschied des großen FC Bayern und den Störchen aus Kiel liegt aber in den Details. Der Rekordmeister pflegt einen recht lockeren Umgang mit der Philosophie – einzelne Teams können also durchaus auch mal stärker davon abweichen. So spielten die von Sebastian Hoeneß trainierten U-Mannschaften vor einigen Jahren einen Fußball, der mit den Idealvorstellungen im Profibereich der Herren wenig zu tun hatte. In Kiel ist das aktuell undenkbar.

Hohe Dynamik und Positionsspiel mit Wiedererkennungswert

Es scheint dort klare (Spiel-)Prinzipien zu geben, die sich auch in den U-Mannschaften beobachten lassen. Gerade das Positionsspiel aus dem 4-3-3 (4-1-4-1) heraus ist sehr markant, weil die Räume sehr dynamisch besetzt werden, ohne große Lücken entstehen zu lassen. Die Laufwege sind gut aufeinander abgestimmt und so kann es passieren, dass in einem Standbild die Abstände zwischen der aufbauenden Viererkette und den sechs restlichen Feldspielern riesig sind, das im nächsten Moment aber total viel Sinn ergibt. Die Fluidität wird im Spiel nach vorn fast nie unterbrochen.

Der große Vorreiter der dynamischen Besetzung gewisser Räume – vor allem des Sechserraums – dürfte Tim Walter gewesen sein. Schon in München experimentierte Walter als Trainer der Amateure viel mit seinen Innenverteidigern. So erprobte er eine taktische Variante, die in Kiel bis heute immer wieder mal zu sehen ist: Die Besetzung des Sechserraums durch einen der beiden Innenverteidiger.

Kiel lässt häufiger mal im eigenen Ballbesitzspiel größere Räume für einen Augenblick offen, um sie über einen kleinen Umweg oder einen überraschenden Laufweg dann doch zu bespielen. Mit ihrem Tempo, ihrer Ballsicherheit zwischen den Strafräumen und dem gut dosierten Risiko machten die Kieler fast schon unabhängig vom jeweiligen Trainer auf sich aufmerksam. Auch unter Werner sieht das gerade im Mittelfeld richtig gut aus. Probleme haben die Störche vor allem beim Ausspielen der Chancen und beim Umschalten in die Defensive. Zwar wurde das Problem der Konterabsicherung bereits angegangen und 14 Gegentreffer sind in der Liga ein starker Wert, doch Luft nach oben gibt es immer.

Wie agiert Kiel gegen die Bayern?

Zu einer fairen Darstellung der „DNA“ gehört aber auch, dass Kiel nicht mit einer strategischen Schablone arbeitet, die dann jeder Mannschaft des Klubs einfach aufgezwungen wird. Selbstverständlich gibt es Spielräume für Anpassungen an die eigenen Spieler oder den jeweiligen Gegner.

Und so wäre es höchst überraschend, wenn Kiel gegen die Bayern über 90 Minuten hinweg (oder mehr) zum Angriffspressing ansetzen würde und die Innenverteidiger überdurchschnittlich oft in der Hälfte der Münchner auftauchen. Werner weiß darum, dass er den Mut und die Offensivpower seiner Mannschaft braucht, um eine Chance gegen einen so übermächtigen Gegner zu haben. Er weiß aber genauso darum, dass die defensive Stabilität in dieser Partie einen anderen Fokus benötigt als in der 2. Liga.

Deshalb wird Kiel womöglich häufiger in tieferen Zonen kompakt stehen und verteidigen müssen als gewohnt. Es ist aber durchaus damit zu rechnen, dass die Störche in einigen Phasen testen werden, wie sattelfest der Spielaufbau der Bayern ist.

Bayern ist in einer Art Bringschuld

Es könnte ein packendes und interessantes Pokalspiel werden, wenn die Bayern es zulassen. Ein gutes Beispiel lieferte vor nicht allzu langer Zeit der 1. FC Heidenheim.

Nach der Niederlage gegen Gladbach ist die Mannschaft von Hansi Flick in einer Art Bringschuld. Die Gegner spüren aktuell, dass mit jeder unsouveränen Leistung der Bayern ein Stück mehr Unsicherheit dazu kommt. Vom selbstbewussten Triplesieger, der selbst an nicht optimalen Tagen nahezu jede Mannschaft überrollt, sind die Münchner momentan weit entfernt.

Trotzdem hat Flick gegen Kiel jetzt die Möglichkeit, einige Dinge im Detail zu verändern und auszuprobieren. Beispielsweise eine Viererkette ohne seinen Abwehrchef David Alaba. Der Trainer muss weiterhin rotieren, so viel ist klar.

Das kurzfristige Ziel: Kritik leiser werden lassen

Zugleich wird er den Balanceakt meistern müssen, vor allem die Defensive in einen guten Rhythmus zu bringen. Leistungsschwankungen einzelner Spieler erschweren dieses Vorhaben. So verteidigte Jérôme Boateng gegen Leverkusen stark, patzte dann aber entscheidend gegen Mainz. Niklas Süle spielte gegen Leverkusen und nach seiner Einwechslung gegen Mainz gut, war dann aber ein Unsicherheitsfaktor gegen Gladbach.

Andere Spieler wie Benjamin Pavard oder eben Alaba laufen ihrer Form nahezu dauerhaft hinterher. Dass auch der junge Alphonso Davies ohne das entsprechende Gerüst und nach seiner Verletzung nicht konstant seine Leistung bringt, ist nachvollziehbar. Einfach ist die Situation für Flick also keinesfalls. Kritik aber ist insbesondere bei der Personalpolitik angebracht.

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Wie schwer die Niederlage in Gladbach wiegt, wird sich in den kommenden Wochen entscheiden. Die kurzfristige Zielsetzung ist klar: Einerseits kein Patzer mehr gegen die individuell klar unterlegenen Gegner der kommenden Wochen. Durch positive Ergebnisse wird es den Bayern auch leistungsunabhängig gelingen, die Lautstärke der Kritik runterzudrehen. Auf der anderen Seite das Einspielen und das Finden einer Art Rhythmus, der dem Team wieder mehr Sicherheit gibt. Es mag auf dem Papier noch nicht die komplizierteste Phase der Saison für die Bayern sein. Aber allein die kommenden Spiele gegen Kiel und Freiburg bieten genügend Stolpersteine und sind deshalb auch so wichtig. Holstein Sieg gegen Kiel und einen weiteren gegen Freiburg, ist es zumindest wieder etwas ruhiger an der Säbener Straße.

Anstoß: Mittwoch um 20:45 Uhr (die ARD überträgt im frei empfangbaren Fernsehen)